Wer nicht lesen mag, kann diesen Text hier hören:

Eine herrliche Nacht liegt hinter mir. Aber auch nur, weil ich mich mit „Wick Medinait“ betäubt hatte, dem wohl besten Erkältungsmedikament überhaupt, sieht man von den möglichen Nebenwirkungen einmal ab und vor allem davon, dass es natürlich nicht gesund im Sinne von gesund ist. Ich las mal ein Interview mit irgendeinem hochrangigen Mediziner, der darauf aufmerksam machte, dass überhaupt jede Medikamentation nicht gesund ist, aber eben das kleinere Übel. Mein hochgeschätztes Medinait heilt ja auch in dem Sinne nichts, es haut einen nur um, sodass man gar nicht mehr merkt, dass man lebt. Denn man schläft. Und ich kann nachvollziehen, dass der köstliche Saft abhängig machen kann.

So erwache ich heute das erste Mal seit Tagen ohne das Abernten meiner Bronchien, um überhaupt irgendwie Luft zu bekommen. Ich habe nicht einmal mitbekommen, wie meine Mitbewohnerin Stunden vorher sich von ihrem Handy mehrfach – wie Frauen das so tun – hat wecken lassen. Nicht übel habe ich Lust, den Tag mit einem Schluck Medinait zu beginnen. Und ich sollte nicht ahnen, dass ich in wenigen Minuten eine ganze Flasche würde trinken wollen.

Es klingelt an der Tür, als meine Mitbewohnerin schon das Haus verlassen hat. Für den Postboten noch zu früh, denke ich, spähe durch den Türspion und sehe etwas, das ein Karton sein könnte.

Warum klingelt bei mir ein Karton?!, denke ich und bleibe regungslos stehen, damit der Karton nicht auf die Idee kommt, jemand wäre zuhause.

„Ich weiß, dass du da bist, Seppo!“, ruft eine weibliche, leicht kratzende Stimme.

Die ich kenne. So unverkennbar laut und durchdringend spricht nur eine:

Rudine.

Rudine steht vor meiner Tür. Um acht Uhr! Ich bleibe weiter bewegungslos stehen, spüre jedoch, dass mein Körper zittert. Wie gerne würde ich jetzt die Situation mit Wick betäuben, in eine andere Welt flüchten. Was ist das für ein Karton?!

„Seppo, mach auf.“

Im Flur liegt mein Handy, es blinkt grün. Bedeutet, entweder ich habe einen neuen „Xing“-Profil-Besuch oder eine Facebook-Messenger-Nachricht. Denkbar leise schleiche ich zur Kommode und entsperre mein Handy. Was erst beim dritten Anlauf klappt, da ich heute offenbar einen anderen Fingerabdruck habe als beim Konfigurieren der Fingerabdruck-Sperre. Und ja, es ist eine Facebook-Nachricht: von Rudine.

hi seppo! komme gleich mal bei dir vorbei, wenns recht ist! bräuchte etwas hilfe! ziehe heute ein!

Ich kollabiere innerlich. Drei schlechte Nachrichten in einem Satz, geordnet von schlimm über ganz schlimm bis hin zu debakulös. Sie kommt vorbei! Das kann niemand wollen! Das halte ich für einen kosmischen Fehler, so schlecht kann kein Schicksal es mit mir meinen! Sie braucht Hilfe! Die Frau braucht immer Hilfe! Ich würde meinen, auch professionelle. Sie zieht ein! Heute! Was kann jetzt noch kommen? Wer will mich da gerade prüfen?! Ein Atomkrieg käme mir jetzt gelegener, würde mich weniger beunruhigen als Rudines Einzug in die Wohnung, in der bis vor Kurzem noch der Porno-Engel Lara gewohnt hatte.

Ich beschließe zu handeln, die Situation als ganzer Mann anzugehen.

„Äh, hallo. Rudine, ich bin krank. Schwer krank. Malaria. Oder Grippe. Die Experten sind sich da noch nicht ganz einig.“

„Ich weiheiiß!“, ruft sie (sie ruft immer), „Das hat ja inzwischen jeder mitbekommen.“

Das hat jeder mitbekommen?! Dabei hänge ich mein Leiden doch gar nicht an die große Glocke. Hab ich es mal bei Facebook erwähnt? Oder gar im Blog? Wäre gar nicht meine Art.

„Ich hab nichts an, Rudine! Ich bin außerdem ansteckend!“

„Dann zieh dir schnell was über. Und ich will dich ja nicht ablecken!“

Mir kommt es bei dem Gedanken, von Rudine abgeleckt zu werden, fast hoch, obwohl es Männer gibt, die sicherlich davon träumen.

„Seppo, ich gehe erst wieder, wenn du mir geholfen hast!“

Sie ist hartnäckig, das weiß ich, und ich glaube ihr. Das würde sie wirklich tun. Rudine weiß, wie sie Menschen, ohne Hand anzulegen, einen qualvollen Tod sterben lassen kann. Nun bin ich ihr Opfer.

Ich gehe ins Schlafzimmer, schalüpfe in meine „H&M“-Jogginghose und streife mir die „Adidas“-Jacke über, die ich gestern Abend noch mit Hühnersuppe übergossen hatte. Das Löffeln von Hühnersuppe ist mit Bart ein Ding der Unmöglichkeit. Auch im Bart hängt mir noch getrocknete Suppe. Ich renne ins Bart, nein, ins Bad, werfe einen Blick in den Spiegel und stelle fest, dass mein rechtes Auge deutlich weniger geöffnet ist als das linke. Greife zur Bartbürste und bürste mir die Suppe aus dem Bad, nein, aus dem Bart. Und dann stelle ich mich der üblen Situation, der Misssituation. Der Unsituation. Der Fehlsituation.

Ich öffne die Tür.

„Na, endlich! Danke! Hier, da sind Bücher drin“, sagt sie und übergibt mir den Umzugskarton.

„Ich habe genug Bücher, Rudine“, sage ich, hab die Kiste aber bereits in der Hand.

„Die kommen auch nach oben. Ins Wohnzimmer. Das ist da, wo die Couch steht. Es ist die alte Couch von Lara. Die braucht sie ja wohl nicht mehr.“

Finde das etwas pietätlos, denn Lara ist tot. Aber Rudine ist ein sehr direkter Mensch, wofür sie sich leider auch immer wieder selbst feiert.

Ich sag halt, was ich denke„, sagt sie dann immer ganz stolz. Ich finde allerdings, genau das ist ihr Fehler. Wenn jeder sofort sagen würde, was er gerade denkt, bräche die Gesellschaft zusammen. Rudine ist ein bisschen so schlimm wie Donald Trump. Der twittert immer, was er gerade „denkt“ und könnte damit einen Atomkrieg auslösen. Rudine kann das auch. Es würde mich nicht wundern. Überhaupt ist es kein schlechter Gedanke, atomar aufzurüsten, wenn Rudine zwei Etagen über einem wohnt.

„Rudine, ich will nicht jammern, gar nicht meine Art, aber ich bin körperlich außerstande, diesen Karton zwei Etagen nach oben zu schleppen!“

„Oh, der feine Herr ist krank! Aber überall rumprahlen, wie du Gewichte stemmst! Jetzt zeig mal, was du draufhast!“

„Ich prahle nicht. Vielleicht habe ich es hier und da mal erwähnt. Bei Facebook oder im Blog. Oder bei Instagram. Folgst du mir da eigentlich? Bin ich seit einer Woche. Tolle Fotofilter da!“

„Jetzt bring den Karton nach oben!“

„Rudine, baldiger Tod könnte die Folge sein. Sonst niemand da, der hilft? Du hast doch so viele Freunde. Wo ist Lungobart?“

Lungobart ist ihr bester Freund, der nicht von ihrer Seite weicht.

„Nenn ihn nicht so!“

„Ja wie denn sonst?!“

„Bei seinem richtigen Namen!“

„Nein, sein richtiger Name klingt albern.“

„Mir hilft keiner, weil alle arbeiten. Warum arbeitest du nicht?!“

„WEIL ICH KRANK BIN! MALAAAAARIAAAAAAA!“

In dem Moment wünsche ich, wirklich an Malaria zu leiden. Es wäre mir ein Vergnügen im Vergleich zum Leid unter Rudine.

„Pass auf, ich trag dir jetzt diese scheiß Kiste hoch und dann ziehst du alleine weiter ein.“

Ich schiebe die Fußmatte auf die Eingangsschwelle, über die ich lieber meine Mitbewohnerin als diesen Karton trüge (was wir kürzlich geprobt haben) und gehe zwei Etagen höher, um die Kiste dort loszuwerden.

„Willkommen in meinem neuen Reich!“, ruft hinter mir plötzlich Rudine, „Du bist hier immer willkommen! Wir können hier jeden Abend trinken!“

Ein Albtraum wird wahr. Ich kann es noch immer nicht ganz begreifen. Ich spüre, wie mein Fieber zurückkommt und denke wehmütig an Lara, die hier vor einigen Jahren eingezogen war. Gut, Lara war anstrengend, nicht die Hellste. Aber dabei irgendwie nett. Sympathisch. Sogar liebenswürdig. Und Lara sah ziemlich geil aus, was man ja niemandem vorwerfen kann. Bei Rudine ist das alles etwas anders gelagert. Rudine ist ziemlich helle. Sie kann nett sein, aber nur dann, wenn sie etwas will. Das habe ich lange Zeit nicht durchschaut. Dabei denke ich immer, Menschen sofort durchschauen zu können. Bei Rudine lag ich katastrophal daneben. Und liebenswürdig ist Rudine nicht im Ansatz. Ich hasse sie nicht. Aber ich lehne sie mit jeder Faser meines Körpers ab. Ihre Anwesenheit bereitet mir körperliche Schmerzen. Und das meine ich völlig ernst. Geil sieht sie nicht aus, aber auch nicht schlecht. Je nachdem, wie verblendet man gerade ist.

Rudine hüpft regelrecht durch ihren Flur und kündigt mir eine Wohnungsbesichtigung an.

„Hier, der Flur! Hier an die Wand kommen Weinkisten. Für die Schuhe. Habt ihr ja auch.“

„Haben wir nicht.“

„Hab ich doch gerade gesehen!“

„Ja, da stehen Weinkisten, aber ohne Schuhe. Die sind nur Deko.“

„Nein, die sind für Schuhe.“

Auch das ist Rudine. Sie glaubt nur, was sie glauben will. Dass meine Mitbewohnerin und ich einen Schuhschrank im Flur stehen haben, blendet sie aus. Früher hat mich ihre Ignoranz rasend gemacht, inzwischen bleibe ich für meine Verhältnisse gelassen. Gestern noch las ich einen Artikel über Narzissten. Pippi Langstrumpf wurde dort als Prototyp einer Narzisstin angeführt. Eben weil diese sich die Welt so mache, wie sie ihr gefällt. Wie andere das finden, spiele dabei keine Rolle. Perfektes Gegenstück zum Narzissten sei Pippis Freundin Annika.

Rudine ist Pippi und ich bin ihre spießige Freundin Annika.

„So also muss Annika sich gefühlt haben, als Pippi in ihre Villa eingezogen ist“, sage ich.

„Was?! Wer ist Annika?“

„Das passt zu dir. Du kennst Pippi, aber nicht Annika.“

Rudine beginnt oft Gespräche, klinkt sich aber relativ schnell wieder aus, was ihre Gesprächspartner nicht unbedingt sofort bemerken und daher weiterreden. Da ich auch das Muster inzwischen kenne, rede ich nicht weiter. Ich kann mir sicher sein, Rudine hat es bereits wieder vergessen, da sie wieder in ihre Welt eingetaucht ist. Und leider auch ein bisschen in meine.

„Hier: Küche. Musst mir heute die Spül- und Waschmaschine anschließen, Seppo.“

Ich lache laut auf. Ich und Anschließen?!

„Hahahahahaha, Rudine, das willst du nicht!“

Ich überlege kurz, ihr einen deftigen Wasserschaden zu bescheren, allerdings würde das auch Fahrgescheits Wohnung, die unter Rudines liegt, in Mitleidenschaft ziehen. Das will ich denen nicht antun, auch Fahrgescheits werden sich ohnehin auf einen neuen Wind im Haus einstellen müssen. Den ruhigen Lebensabend können sie getrost vergessen.

„Rudine, Fahrgescheits und ich planen den kollektiven Selbstmord. Biste dabei?“, frage ich. Sowas kann man sie fragen, auch wenn sie es gar nicht kapieren kann. Denn sie überhört ja das meiste und ich habe meinen Spaß dabei. So sieht es aus, wenn ich mich in meine Welt flüchte. Ich habe den Spaß daran und Außenstehende erklären mich für unzurechnungsfähig. Das finde ich aber inzwischen in Ordnung, auch wenn ein Teil von mir mich vor den Folgen warnt. Dafür ist es aber bereits zu spät.

Ich schwitze. Zwar geht es heute schon etwas besser als gestern, die Malaria scheint auf dem Rückzug zu sein. Aber die Situation ist geeignet, einen enormen Rückfall bei mir auszulösen.

„Rudine, folgendes: Ich gehe jetzt wieder und trinke meine Zwei-Tage-Ration Wick Medinait.“

„Wick was?!“

„Ein Malaria-Mittel. Dazu nehme ich eine Packung Schlaftabletten und spüle die mit Rum meine Kehle herunter.“

„Gut, dass du es sagst! Ich lade euch beide für heute Abend ein! Kleine Einweihungsfeier!“

„Mir ist nicht zum Feiern zumute. Wirklich nicht. Wenn ich heute trinke, dann nur aus Verzweiflung. Nebenbei: Hast du Zyankali in einem deiner Umzugskartons?“

„Müsste ich gucken.“

Müsste sie gucken. Naja, würde es mich wundern?!

Ich lasse Rudine zurück mit einem unverbindlichen „Ich melde mich später“. Zurück in meiner Wohnung schiebe ich mir „Ohropax“ in die – na? – Ohren und versuche, eine „Half-Life 2“-Mod zu installieren: bislang unveröffentlichte Original-Level, die will ich mal in meiner Sendung vorstellen.

Danach erhitze ich Wasser, um „Soledum Balsam“ zu inhalieren. Wahnsinnszeug, es ätzt einem Lunge und Bronchien frei.

Über mir höre ich ein dumpfes Poltern. Ja, Rudine zieht ein. Es brechen andere Zeiten an. Möge Gott uns allen beistehen.


Den Beipackzettel von Wick Medinait stelle ich bei Instagram und Facebook zur Verfügung.