Auch zum Hören:

Die Welt atmet auf, mein Ärzteteam gibt mir grünes Licht für grünes Licht, ich bin auf dem Weg der Besserung. Es sei nicht auszuschließen, dass mein selbstloses Aufopfern für die Malaria-Forschung einen neuen Impfstoff gegen diese Krankheit ermöglicht. Andere Ärzte wiederum glauben, ich habe lediglich eine Grippe gehabt. Quacksalber! Alle Quacksalber!

Noch sind meine Vitalfunktionen nicht die eines 37-Jährigen, was aber okay ist, da ich nicht 37 bin und die eines 25-Jährigen für mich beanspruche. Also gilt es, das neu gewonnene Leben zaghaft anzugehen, Schonung hat oberste Priorität. Und da ist es nicht hilfreich, wenn meine neue Nachbarin Rudine meint, morgens um acht Uhr an meine Tür klopfen, bollern!, zu müssen.

„Seppo! Mach auf, ich weiß, dass du da bist!“, höre ich sie rufen, während ich mir meine morgendliche „ACC akut 600“ in einem Glas Wassers auflöse. Sofort spüre ich, wie mich gerade erst wiedererlangte Kräfte verlassen, ja, es fühlt sich geradezu so an, als würde mein Körper vor Rudine flüchten wollen, als würde er sich lieber selbst verstoffwechseln, als in ihr Antlitz blicken zu müssen. Selbstschutz. Und in der Tat habe ich manchmal das Gefühl, nur der Tod könne mir Rudine vom Halse halten – mein eigener.

Mich bereits aufgegeben schreite ich zur Tür und öffne sie.

„Guten Morgen, Rudine. Zwei Dinge vorab. Erstens: Es ist acht Uhr. Der Tag noch jung, draußen nicht einmal hell. Die Dunkelheit signalisiert dem Menschen, er muss schlafen. Du schläfst leider nicht. Höre auf die Dunkelheit! Zweitens: Auch Fahrgescheits wohnen bei uns im Haus. Doch veranlasst das sie nicht, die anderen Hausbewohner morgens um acht Uhr mit ihrem Dasein zu beglücken. Du hingegen interpretierst das Konzept Wohnungstür falsch. Eine Wohnungstür dient zum Abschotten der Privatsphäre vor anderen Menschen. Ich selbst nehme dieses Prinzip sehr ernst, das müsstest du wissen. Du glaubst, Türen seien dazu da, damit sie geöffnet werden. Das ist nicht korrekt. Türen haben nämlich ein Schloss. Damit man sie verschließt.“

„Seppo, bei dir weiß ich nie, was ernstgemeint ist und was nicht.“

„Ich war noch nie so ernsthaft wie jetzt. Die Zeiten verlangen danach.“

„Aber du bist ja auch wach. Und auf dem Handy erreicht man dich ja nie!“

„Denke einmal darüber nach, wenn du eine ruhige Sekunde findest, was wohl nie bei dir der Fall sein dürfte. Bringen wir es aber nun hinter uns. Was führt dich zu mir? Soll ich irgendwas in deiner neuen Wohnung anschließen?“

„Ich hab deinen Blog-Artikel gestern gelesen!“

„Okay. Und nun denkst du, du seist Melina?“

Dazu sollte der Leser wissen, dass ich in meinem Umfeld gelegentlich gefragt werde, ob meine hier handelnden Personen wahren Ursprungs sind, also reale Vorbilder haben. Fahrgescheits beispielsweise gibt es tatsächlich, da erfinde ich nichts dazu. Merugin hingegen ist eine Mischung aus mehreren Personen und auch Pavel gibt es wirklich. Auch Lara ist real, ihr Ableben hingegen nicht; sie wollte hier nicht mehr stattfinden, darum brachte ich sie (mehrfach) um. Also erkläre ich Rudine:

„Melina ist echt. Ich traf sie wirklich in der Apotheke. Allerdings weiß ich nicht, ob sie wirklich Melina heißt. Das wäre schon ein kurioser Zufall. Sie sieht aber aus wie eine Melina!“

„Dann ist sie eine Schlampe!“

„Sofern Melinen Schlampen sind, ja. Aber das glaube ich nicht. Und weil ich Melina jetzt so gut auch nicht kenne, würde ich sagen, sie ist keine Schlampe, was auch immer Schlampen ausmacht.“

„Dass sie sich an Männer ranmachen!“

„Dann bist du die größte Schlampe, die mir jemals untergekommen ist, wobei du mir natürlich nicht im Wortsinne untergekommen bist.“

Gegenüber Rudine nehme ich cain Blatt mehr vor den Mund, da sie in meinem Leben der erste Mensch war und ist, von dem es mir egal war und ist, was er über mich denkt. Und außerdem erinnere ich daran, dass Rudine anderen ohnehin nie wirklich zuhört, groß also die Wahrscheinlichkeit, dass sie meine Antwort gar nicht zur mentalen Verarbeitung zugelassen hat.

„DU NENNST MICH SCHLAMPE?!“

Okay, hier lag ich wohl falsch, sie hat es mitbekommen.

„Nein, also wenn du Melina eine solche nennst, ohne sie zu kennen, dann kann ich das auch!“, winde ich mich mit leichten Verrenkungen, „Und ich glaube nicht, dass sie eine Schlampe ist. Sie sah dazu viel zu lieb aus irgendwie. Aber was zur Hölle interessiert dich das eigentlich?!“

„Weil ich da heute hingehe in die Apotheke und der Frau mal sage, was ich davon halte, dir schöne Augen zu machen!“

„Grundgütiger! Sie hat mir doch keine schönen Augen gemacht! Obwohl, naja, schöne Augen hat sie.“

„Da! Siehst du!“

„Und selbst wenn, was interessiert es dich?!“

Darauf weiß sie keine Antwort, was mich allerdings auch gewundert, aber dennoch interessiert hätte.

„Was sagt denn deine Mitbewohnerin zu Melina?!“, fragt Rudine.

„Keine Ahnung, sie hat den Text noch nicht gelesen. Dass man mal im Leben schöne Frauen trifft, passiert ja nicht nur Singles! Sie wird auch schöne Männer treffen!“

„Ich gehe da jetzt hin!“

„Wohin?!“

„Zu deiner Melina!“

„Zu meiner Melina?! Aber gut, lass dich nicht aufhalten.“

Rudine steckt sich eine Tüte an und geht nach unten. Sie macht es wirklich. Gut, kann mir egal sein, da Melina sich sicherlich nicht an mich wird erinnern können. Wie so viele wird sie Rudine für durchgedreht halten. Was ich auch tue. Morgens um acht.

Ich gehe ins Schlafzimmer, von wo aus ich nach unten zur Haustür blicken kann und sehe tatsächlich Rudine Richtung Karl-May-Apotheke gehen, wo ich Melina traf.

„Ganz schön strammer Schritt!“, rufe ich ihr von oben zu. Was ein Fehler war, da der Müllmann, der gerade eine Gelbe Tonne zurück an den Bürgersteig schiebt, das auf sich bezieht.

„Halt’s Maul, du Schwuchtel!“, ruft er mir zu.

„Selber Schwuchtel!“, rufe ich im Eifer des Gefechts, womit ich natürlich alle Schwuchteln dieser Welt beleidigt habe, setzt man voraus, dass der Vergleich eines Müllwerkers mit einem Homosexuellen eine Beleidigung für den Homosexuellen ist. Ein weites Feld, und vor allem sehr dünnes Eis. Denn „Schwuchtel“ ist freilich kein angemessener Ausruck.

„Ich schwuchtel dir gleich eine!“, gibt die Schwu-, nein, der Müllmann zurück. Ich weiß jetzt nicht genau, wie man darauf antwortet und wähle:

„Das will ich sehen!“

Der Müllmann lässt sich nicht zweimal bitten, geht zu unserer Haustür, die zu allem Überfluss Rudine für ihn wieder öffnet. Ich bereue derweil, einen Lauten gemacht zu haben und hoffe, der Müllmann kann nicht rekonstruieren, hinter welcher Wohnungstür ich mich gerade zusammengeduckt verstecke.

„Mach auf, du Schwuchtel!“, höre ich ihn rufen. Allerdings scheint er vor der Tür von Herrn Sagmagrad zu stehen, der uns gegenüber wohnt. Nun ist es so, dass Herr Sagmagrad tatsächlich des öfteren Herrenbesuch empfängt, vermutlich mit der Absicht, in sexuellen Kontakt mit diesem zu treten. Ich spähe durch den hier schon viel zitierten Türspion und sehe Herrn Sagmagrad seine Türe öffnen:

„Jetzt schon? Hatte ich um acht Uhr denn einen Termin?“, fragt er verdutzt und mustert den Müllmann, „Hatten wir uns auf diese Verkleidung geeinigt?“

Der Müllmann ist nun ebenfalls verdutzt, dreht sich um, rennt wieder runter und ruft:

„SIND DENN HIER ALLES SCHWUCHTELN?!“

Ich finde das nicht ganz unlustig, gehe wieder rüber ins Schlafzimmer und höre von draußen Rudine rufen:

„LASS DIE FINGER VON SEPPO!“

Noch weiß ich nicht, ob sie den Müllmann meint oder ob ihre Empfehlung an Melina gerichtet ist. Bis eine weibliche Stimme ruft:

„WAS BIST DU DENN FÜR EINE IRRE?!“

Ja, das könnte Melina gewesen sein, die natürlich keine Ahnung hat, wie ihr geschieht. Und vor allem, wer dieser Seppo ist. Und ich hoffe inständig, dass sie das nie herausfindet. Auch nicht, wenn ich heute in die Apotheke gehen werde, da mir meine „Pinimenthol“-Salbe ausgegangen ist.

Ich gehe zu meiner Wohnungstür, um auf Rudine zu warten. Herr Sagmagrad steht noch völlig aufgelöst im Hausflur und fragt mich:

„Sind Sie auch schwul, Herr Flotho?“

„Was? Nein.“

„Viel los heute Morgen, oder?“

„Ja, ach Gott, das liegt an der neuen Nachbarin.“

„Wie heißt die eigentlich?“

„Rudine.“

„Ach, tatsächlich?! Was für eine Name. Sagen Sie, Sie wissen nicht, ob heute Müllabfuhr ist?“

„Ja, doch, war eben.“

„Achso, das erklärt es. Nun gut, schönen Tag noch.“

Herr Sagmagrad verlässt unsere Bühne, Platz also für Rudine, die nun wieder hochkommt und zufrieden dreinblickt.

„Sie weiß Bescheid“, sagt sie mir.

„Melina? Ich glaube, sie weiß überhaupt nicht Bescheid! Du weißt schon, dass sie gar nicht weiß, wer ich bin?!“

„Weiß sie nicht?!“

„Nein! Ich hab da nur Nasenspray gekauft! Mit pflegender Komponente!“

„Dann hält sie mich ja jetzt für irre!“

„Ja, klar! So oder so!“

„Was mache ich immer, dass mich jeder für irre hält?!“

„Du irrst herum, Rudine, du irrst herum. Kann ich jetzt mein ACC akut 600 trinken? Ich würde dann gerne in Ruhe Wolfenstein 2 spielen.“

„Brauchst du noch was aus der Apotheke?“

„Äh, nein, nein.“

Und jetzt werde ich wirklich Wolfenstein 2 spielen. Um runterzukommen. Dieser Tag ist mir eine Spur zu ereignisreich.


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