Viertel vor sieben. Ich stehe am Bahngleis 17 des Düsseldorfer Hauptbahnhofes. In sieben Minuten soll mein Zug kommen. Hinter uns liegt der Sturm „Erwin“ oder so. War so ein seltsamer Name, schon wieder vergessen.

Vor exakt zwei Stunden ging ich mit einem Umweg vorbei an der Kaffeemaschine ins Bad, setzte mich auf die Toilette und entließ unter anderem gefühlte zwei Liter Ingwer-Tees, getrunken am Vorabend. Wie am besten nutzen die Zeit? Mit einem Anruf bei der Hotline der Deutschen Bahn, die am Wochenende weite Teile des Verkehrs eingestellt hat. Ich wollte wissen, ob denn mein ICE 543 nach Berlin führe.

Zunächst erzählte mir eine freundliche Stimme vom Band, was sie mir bereits gestern mehrfach mitgeteilt hatte; Tenor: Fahren Sie bloß nicht mit der Bahn! Und tatsächlich hatte ich mir eine Notfallalternative zurechtgelegt, auf die ich aber ungern zurückgreifen wollte, da ich gerne mit der Bahn fahre.

„Sie sind auf Position sechs in der Warteschleife. Ihre voraussichtliche Wartezeit beträgt zwei Minuten“, so die Stimme weiter am Handy.

Während ich die Kaffeemaschine in der Küche rattern hörte, meldete sich nun ein leibhaftiger Mensch am Telefon mit einem „Guten Morgen“.

„Guten Morgen. Mein Name ist Flotho. Ich will gleich um sechs Uhr 52 mit dem ICE 543 von Düsseldorf nach Berlin-Spandau fahren. Ist die Strecke zwischen Hannover und Berlin wieder freigegeben?“

„Ich schaue mal … also … Sie wollen nach Berlin. Von Hannover aus um zehn Uhr. Ja, das könnte klappen.“

„Moooment! Von Düsseldorf aus. Um sechs Uhr 52!“

„Sagten Sie nicht ‚Hannover‘?“

„Ja, also ab Hannover war ja gestern Abend noch alles gesperrt. Ist die Strecke wieder frei?“

„Um zehn Uhr von Düsseldorf nach Hannover, Moment, ich sehe nach.“

„Nein, also nochmal von vorne“, sage ich freundlich, es ist ja auch noch sehr früh, „Abfahrt Düsseldorf, sechs Uhr 52. Nach Berlin-Spandau. ICE 543.“

„So früh? Sie armer. Moment, ich schaue mal nach. Ja, da sehe ich viel Rot.“

„Oha!“

„Aber Ihre Verbindung ist grün. Der ICE fährt!“

Da ich skeptisch war, hakte ich nach: „Also der ICE 543 ab sechs Uhr 52 von Düsseldorf über Hannover bis Berlin-Spandau?“

„Ja, das kann ich Ihnen so sagen.“

„Perfekt! Das wollte ich nur wissen. Besten Dank, gute Fahrt!“

Gute Fahrt?! Ich wünschte ihr eine gute Fahrt?! Egal, sie mir auch und unsere Wege trennten sich wieder.

Ich beendete alles Weitere auf der Toilette und ging mit Umweg an der Kaffeemaschine vorbei zurück ins Schlafzimmer zu meiner noch schlafenden Mitbewohnerin.

Räusper

Sie regte sich nicht. Offenbar bedurfte es eines Hustenanfalls. Kein Thema, konnte ich derzeit noch gut liefern.

Hust, hust!

Sie öffnete die Augen.

„Ah, du bist wach. Sehr gut. Mein Zug fährt! Bin zwar etwas skeptisch, weil die Dame am Telefon mich ab zehn von Hannover aus losschicken wollte, aber wir kamen überein, dass die Strecke wieder freigegeben ist!“

„Schön. Wie viel Uhr ist es?“

„Fünf.“

„Oh, Gott.“

Jetzt also stehe ich bei fünf Grad am Bahnsteig, mein Zug wird immerhin auf den großen Ancaigen angezeigt, sogar ohne das übliche „ca. 5 Minuten später„. Es ist anders als sonst relativ menschenleer, weil nur Idioten es heute wagen, mit der Bahn zu fahren. Ich bin somit ein Idiot und ein unsicherer obendrein, da ich dem Ganzen noch nicht traue. Eine Durchsage informiert darüber, dass irgendein IC heute nicht verkehrt, ein anderer ICE wiederum führe nur bis Hamburg.

Ich kann der Bahn nichts vorwerfen. Kaum stürmt es, knicken eben Bäume um. Weil die Natur sehr schwach ist. Seit 40 Jahren oder so kämpft die FDP mit dem Umfaller-Image, Bäume hingegen bestätigen ihr Umfaller-Image immer wieder. Nun würde die Bahn ja gerne ihre Strecken vom Grün befreien. Allerdings spielen diverse Umweltverbände da nicht mit, sodass sie keine andere Wahl hat, als die Strecken zu sperren, auf denen Bäume liegen. Da es offenbar künftig öfter stürmen wird, setze ich darauf, dass irgendwann jeder Baum einfach umgefallen sein wird, sodass es keine Bäume mehr geben wird, die auf Oberleitungen fallen könnten. In ein, zwei Wochen wird es vielleicht schon so weit sein.

Zehn vor sieben. Die Einfahrt meines Zuges wird per Durchsage angekündigt. Bis jetzt hat mich der „Verspätungsalarm“ meiner Bahn-App mehrfach verunsichert, da er mir permanent push-Nachrichten geschickt hatte. Jedes Mal war mir sofort klar: Zug fällt aus. Tut er aber nicht, der Verspätungsalarm informierte mich lediglich darüber, dass mein Zug pünktlich kommt. Tut er nun auch. Und ich denke tatsächlich: Ein Hoch auf die Bahn! 

Denn so kann man es ja auch mal sehen: Noch vor einigen Stunden lief in mehreren Bundesländern nichts – und jetzt sitze ich hier pünktlich im ICE nach Berlin! Doch Obacht! Noch bin ich nicht über Hannover hinaus. Gerade mal vor Essen.

Und noch habe ich keinen Sitznachbarn, was sicherlich nicht der Fall bleiben wird. Ich bedauere jetzt schon meinen künftigen Platznachbarn, da ich ihn leider werde vollhusten müssen. Zwar habe ich die Malaria erstaunlich gut weggesteckt, doch ich kämpfe noch mit den Nachwehen derer, die andere, so genannte Ärzte!, für eine Grippe hielten. Quacksalber! Extra für diese Zugfahrt habe ich mehrere Liter „Aspirin Complex“ getrunken, um hier möglichst wenig rumhusten und -schneuzen zu müssen. Fange ich erst mit einem Hüsterchen an, wächst das sich sehr schnell zu einem minutenlangen Abhusten aus. Husten tue ich generell nicht mehr so gerne, seit ich vor rund zwei Jahren einen Leistenbruch mit mir herumtrug. Besonders Männer sind häufig von Leistenbrüchen betroffen, da sie in der Leiste ein schwaches Bindegewebe haben. Dieses wird strapaziert durch – kein Scherz! – die Samenleiter, die ich freilich häufig durchspüle. Aber eine andere Ursache von Leistenbrüchen ist ohne Scheiß: Husten. Lange und schwere Hustenanfälle üben einen enormen Druck in der Leistengegend aus. Der Leser mache den Test: Huste er und fühle er dabei seine Leistengegend, so wird er spüren, dass dort viel Bewegung herrscht. Und nun fürchte ich natürlich, dass eine hustenlastige Malaria bei mir durch unachtsames Husten zu einem Aufreißen meiner inneren Gewebenarbe führen könnte!

Vor wenigen Minuten, in Essen, hat sich zu meinem und seinem Unglück ein Herr neben mich gesetzt. Ich überlege, ihn darüber zu informieren, dass ich ihn gleich vollhusten werde, es mir sehr leidtue, es aber nicht ändern könne. Gleichzeitig ertönt eine Durchsage im Zug, in der der Zugführer darauf hinweist, dass der Zug „ausreserviert“ sei, was wohl meinen soll, jeder, aber auch wirklich jeder Platz, ist reserviert. Und ja, ich sehe um mich herum keinen freien Platz, mein Sitznachbar muss da also durch.

Immer wenn ich hier in meinem ICE 543 platznehme, packe ich weite Teile meines Handgepäckes aus. Denn die Tasche einmal unter den Sitz vor die eigenen Füße gestellt, den Tisch ausgeklappt,

Ha! Jetzt hustet er! Wehe, er steckt mich an! Unverschämt, die Mitfahrenden derart vollzuhusten! Möge seine Leiste brechen!

ist diese während der Weiterfahrt kaum noch zu erreichen, wenn man einen Sitznachbarn hat. Es ist somit ein Ritual geworden, die Reiseausstattung komplett auszupacken:

  • Laptop, falls ich bloggen will.
  • Tablet, falls ich „Fear the Walking Dead“ gucken will.
  • Handy, falls ich was völlig Belangloses bei Instagram posten will.
  • Handy-Ladekabel, falls ich das Handy laden will.
  • „Der Spiegel“, falls ich lesen will.
  • Den „iPod“, falls ich Hörspiele hören will.

Der Tisch vor mir ist also voll, das Beitragsbild zeigt ihn.

Noch ein Wort zu Instagram, denn bei meiner letzten Zugfahrt schrieb ich darüber, dass ich mich mit dem Ding vertraut machen will. Etwa zwei Wochen ist das nun her und ich habe relativ schnell gelernt, dass Instagram noch schlimmer ist als Facebook, was Selbstdarstellung angeht. Man bekommt sehr schnell likes und noch schneller Abonnenten. Nach zwei Tagen war mir klar, warum. Viele meiner follower dort haben selbst mehrere tausend Abonnenten. Sie folgen mir etwa zwei Tage lang, um mich dann zu entfolgen, wenn sie gemerkt haben, dass ich ihnen nicht folge. Denn nur darum geht es: Folge ich dir, folgst du gefälligst mir. Ich machte den Test und folgte beliebigen, zufällig ausgewählten Menschen. Sofort folgten sie mir ebenfalls. Dann likte ich Dinge, die mir eigentlich gleichgültig waren, und umgehend likten auch die etwas bei mir. Was ihnen natürlich ebenfalls völlig gleichgültig war. Was interessiert irgendeinen Amerikaner, wie ich einen Stapel Holzpaletten fotografiere und dort poste?! Man liket also dort meist nur, um im Gegenzug ebenfalls likes zu bekommen – mit der Folge, dass wohl ein Gros der likes dort mit „mögen“ gar nichts zu tun hat. Es ist eine einzige, riesige Blase. In der ich freilich nicht fehlen darf! Gleich werde ich dort zum Beispiel posten, wie ich im Zug sitze. Dafür werde ich likes von Menschen bekommen, denen das eigentlich egal sein dürfte, die mich gar nicht kenne. Die wiederum, die mich kennen und mir dort folgen, werden sich fragen, warum ich poste, dass ich im Zug sitze.

Zu allem Überfluss blockiert mein Sitznachbar jetzt auch noch die Steckdose. Überhaupt nestelt er die ganze Zeit an sich herum. Wird Zeit für meinen ersten Hustenanfall.


Achtung, gleich bei Instagram: Wie ich im Zug sitze. Auch bei Facebook! Bitte mir folgen, dann folge ich Euch auch. Das gibt uns ein gutes Gefühl!