Er nennt sie „Mäuschen“ und beharrt auf seinem Cranberry-Saft.

Sehr guter Einstiegssatz! Der Leser brennt nun auf diese Weise direkt zu Beginn des Textes darauf zu erfahren, um wen es eigentlich geht, geht es doch meist um den Autoren selbst. Doch nicht dieses Mal!

Ich und meine Mitbewohnerin

Verdammt, geht wohl doch um ihn. Er nennt sich sogar als ersten!

sind am vergangenen Samstagabend essen gegangen und finden uns in einem japanischen Restaurant neben einem so genannten Promi-Pärchen sitzend wieder.

„Das ist der Mann von [zensiert]. Dann ist das da [zensiert]!“, flüstere ich meiner Mitbewohnerin zu, während ich ihr den Stuhl zurechtrücke, als wir an dem uns zugewiesenen Tisch Platz nehmen.

Die prominenten Namen derer, die da neben uns bereits dinierten, werde ich hier nicht nennen, da es sich vermutlich nicht gehört, dann auch das folgende auszuplaudern, um die Intimsphäre des Glitzer-Pärchens zu schützen, das wie wir in Düsseldorf lebt. Der Leser ist eingeladen zu spekulieren …

Spannungsbogen zertrümmert. Wie wäre es zumindest mit einem Tipp?

Nun, vielleicht so viel: Ihre Stimme ist bei Weitem nicht so grell, wie man sie aus dem Fernsehen kennt. Im Gegenteil, sie ist ruhig, völlig normal und unaufgeregt.

Im „Okinii“, das keinen so guten Ruf mehr besitzt, bestellt man auf eine für mich optimierte Weise: Der Kontakt mit einem Kellner, mit einem Menschen also, wird auf ein Minimum beschränkt; die Speisen wählt man an einem Tablet aus, bevor ein stummer Handlanger sie einem dann serviert. So weit die Theorie. In der Praxis funktioniert das nicht. Zumindest nicht mehr, denn ich habe bislang nur gute Erfahrungen in diesem Etablissement gesammelt. Doch ein Blick auf die Kundenbewertungen anderer auf dem entsprechenden Facebook-Auftritt bestätigt mich leider. Um es vorwegzunehmen: Bis zum Schluss haben wir nicht alles bekommen, was wir auch bestellt hatten. Dafür bekamen wir Dinge, die andere Gäste bestellt hatten. Tintenfisch beispielsweise, den ich aber nicht einmal aus Verzweiflung essen würde, da ich grundsätzlich nichts esse, dessen Lebensraum die Ozeane sind. Das ist eine Grundsatzentscheidung, an der es nichts zu rütteln gibt. Weder esse ich Fisch noch Kraken noch Seetang. Ich empfinde das als absolut abartig, auch wenn ich vor einigen Wochen bei einem Chinesen in Berlin versehentlich panierten Tintenfisch gegessen habe.

„Das Hühnchen schmeckt super!“

„Das ist Tintenfisch, Seppo“, antwortet mir ein Kollege.

„Was?! Widerlich. Auf dem Schild stand doch ‚Hühnchen‘!“

„Aber es schmeckt dir?!“

„Jetzt nicht mehr. Wer will meinen Tintenfisch essen? Er schmeckt ganz gut.“

Ich weigere mich, aufgrund bloßer Geschmacksfragen mein Essverhalten anzupassen, das mich 37 Jahre lang genährt hat. Der Westfale ist prinzipientreu, was gerne mit Sturheit verwechselt wird. Und bei aller Liebe: Fisch stinkt. Ich halte es so auch mit Parmesan: Was nach Kotze stinkt, sollen andere essen. Ich finde das völlig rational und naheliegend.

Im Okinii gibt es zahlreiche andere Nahrungsmittel, die nicht aus dem Wasser kommen. Gut, die Ente hat schon etwas mit Wasser zu tun, aber sie schwimmt mit dem Gros ihres Körpers oberhalb des Wassers, sie geht bei mir als Landtier durch. Als Landvogel.

Ein Kellner kommt zu uns an den Tisch. Er ist Japaner. Japaner erkennt man an den Schlitz-, nein, pardon, das geht nicht mehr. Er war also sehr wahrscheinlich Asiate mit Option auf Eurasier und spricht vermutlich perfektes Japanisch. Jedenfalls verstehen meine Mitbewohnerin und ich kein Wort. Wir tauschen fragende Blicke aus und mutig sagt meine Mitbewohnerin einfach:

„Ja, okay.“

Ich staune: „Du hast ihn verstanden?!“

„Nein.“

„Aber du hast ihm geantwortet!“

„Ich nahm an, er fragte uns, ob wir was essen wollen.“

Ich blicke den Handlanger an und sage auch: „Ja. Sehr gerne.“

Der Kellner, ausgesprochen nett, zumindest die Stimmmelodie betreffend, loggt zwei Personen in das Tablet ein und reicht es meiner Mitbewohnerin. Schwerer Fehler, denke ich, das Tablet wird sie mir so schnell zwecks Bestellung nicht überlassen. Wir wissen alle, wie entscheidungsfreudig Frauen insbesondere im Angesicht einer Menükarte sind.

Wir sagen „Danke“ und der Kellner fängt plötzlich an, uns etwas zu erzählen. Wieder tauschen wir ahnungslose Blicke aus, bis meine Mitbewohnerin sagt:

„Ja, okay.“

Am Nebentisch kommt es derweil zu Komplikationen. Sie versteht einfach nicht, wie das Bestellen via Tablet funktioniert, er erklärt es ihr geduldig:

„Du kannst hier unter ‚Dinner‘ alles auswählen, was du essen möchtest, Mäuschen. Dann auf ‚Bestellen‘ klicken und dann wird es uns gebracht. Und wo du gerade dabei bist, haben die Cranberry-Saft?“

„Ich finde die Getränke nicht. Doch, hier. Aber nein, sehe keinen Cranberry-Saft.“

Der Mann wird ungeduldig: „Ich werde doch wohl meinen Cranberry-Saft hier bekommen. Klick mal auf den Kellner-Button.“

„Was passiert dann?“

„Dann kommt ein Kellner, Mäuschen.“

Der kommt dann tatsächlich und wird in eine Cranberry-Saft-Diskussion verwickelt. Sofern ich es richtig verstanden habe, schenkt das Restaurant keinen solchen aus, man wolle aber sein Bestes tun. Offenbar weiß man sehr genau, wer da gerade sitzt und Cranberry-Saft zu trinken wünscht.

„Promi-Bonus!“, flüstere ich meiner Mitbewohnerin zu, die sich seit 20 Minuten im Bestellvorgang befindet, was eine völlig normale Zeit für sie ist.

Eine weitere Kellnerin kommt zum Promi-Tisch und serviert ein rötliches Getränk. Der Mann nippt daran und stellt fest:

„Das ist aber kein Cranberry-Saft!“

Seine Frau gibt sich völlig unbeteiligt und tut das, was sie den ganzen Abend noch tun soll: auf ihr Handy starren. Das sehe ich nur im Augenwinkel, da ich natürlich nicht gaffe, nur weil da so genannte Promis sitzen. Ich sehe lediglich ihn, da er mir schräg gegenüber sitzt.

„Ob die beiden wissen, dass sie gerade neben einem TV-Star sitzen?“, frage ich leise meine Mitbewohnerin und schmunzele über meinen eigentlich so traurigen Scherz. Denn ich darf sagen, dass ich seit 2013 unbemerkt von der Öffentlichkeit Fernsehsendungen moderiere. Ich stelle keine großen Ansprüche mehr, erwarte auch nichts mehr, aber eines darf ich doch mal sagen: Ist nicht auch das eine enorme Lebensleistung? Hätte ich nicht allein dafür einen „Bambi“ verdient? Für die „längste On-Air-Zeit ohne Zuschauer“? Eine Art Ehren-Bambi. Dann würde es bei der Verleihung heißen:

„Der Gewinner ist: Sebastian Flotho!“

Verhaltenes Klatschen im Saal. Sebastian wer?! Ich stünde auf, Tränen in den Augen. Sicherheitspersonal würde mich für einen Störer halten. Rünne nach vorne auf die Bühne und hielte meine Dankesrede, wonach die Sicherheitsleute mich erschössen.

Meine Mitbewohnerin reicht mir endlich das Tablet herüber. Ich lese, dass sie bereits „10 von 10 items“ bestellt hat.

„Wie soll ich denn jetzt noch was ordern?!“

„Ach, das ist beschränkt?“

Ja, ist es. Wir können zweieinhalb Stunden lang im 15-Minuten-Rhythmus zehn Dinge bestellen. Die erste Fuhre kommt noch zügig, die zweite kommt tröpfchenweise, die dritte nach ’ner Stunde, die vierte gar nicht.

Wir sitzen auf dem Trockenen. Nebenan wird eine weitere Cranberry-Saft-Variante serviert. Dem Gesichtsausdruck des Promi-Mannes zufolge ist das abermals kein Cranberry-Saft, aber er akzeptiert ihn.

Und nun kommt der Moment, wo ich glaube, dass der TV-Star neben mir mit mir füßelt! Ich beuge mich zu meiner Mitbewohnerin herüber:

„Sie füßelt mit mir!“

Meine Mitbewohnerin guckt ungläubig, lehnt sich etwas zur Seite und guckt nach unten.

„Sie füßelt nicht mit dir!“

„Doch, ich spüre ihre Fellstiefel an meinem Bein. Sie ist voll scharf auf mich! Wie schamlos! Aber verständlich!“

„Seppo, nicht sie füßelt, das ist ihr Hund!“

Großer Gott, der Hund füßelt mit mir und ich finde es auch noch leicht erregend.

„Seit wann liegt da ein Hund?!“

„Schon die ganze Zeit.“

Und ja, nebenunter mir liegt so ein seltsamer Handtaschenhund, der sich an meine Füße schmiegt. Fast will ich schon sagen: „Frau Pooth, Ihr Hund belästigt mich“, verkneife es mir aber, um bloß nicht den Eindruck zu erwecken, ich wolle unbedingt mit dem anonymen Star ins Gespräch kommen.

Meine Mitbewohnerin und ich entscheiden, unsere vergangene Bestellung, die nie bei uns ankam, zu wiederholen. Wir beobachten, wie auch andere Gäste zunehmend unruhig werden, weil das Essen nicht kommt. Einige Tische tauschen die falsch gelieferten Speisen untereinander aus. So verschenken auch wir unseren Tintenfisch und erhalten irgendetwas Grünes dafür.

Weitere 20 Minuten später haben wir den Überblick verloren. Wir bestellen planlos weiter, wissen nicht mehr, was überhaupt noch kommen könnte und was schon kam. Mich plagt zunehmend die Sorge, dass plötzlich alles auf einen Schlag rangebracht wird. Denn: Was hier nicht aufgegessen wird, muss man bezahlen.

Bis zum Verlassen des Lokals werden wir nicht alles bekommen haben, was wir bestellt haben. Da wir aber mehr als satt sind, belassen wir es dabei, zumal meine rechte Hand von Krämpfen geplagt ist.

Rein technisch betrachtet, ist mir das Essen mit Stäbchen absolut vertraut, auch wenn ich nicht zu denen gehöre, die lustvoll nach außen demonstrieren, wie leicht ihnen das von der Hand geht, als sei es nicht viel naheliegender, mit Messer und Gabel zu essen. Der moderne Deutsche gibt sich gern kosmopolitisch, während ich da sitze und mit den Teigtaschen kämpfe. Irgendwie bekomme ich sie zwischen die Holzstäbe, doch auf dem weiten Weg hin zum Mund kann immer noch viel passieren. Manches rutscht mir weg und landet in der dann aufspritzenden Sojasauce, anderes bekomme ich erst gar nicht vom Teller hochgehoben, drehe es dafür mehrfach um die eigene Achse.

In meinem Leben habe ich schon einiges gelernt. Nun könnte ich mich furchtbar darüber ärgern, das mir einfach nicht gelingt, was anderen so locker von der Hand geht. Ich könnte hadern, mich dafür gar hassen. Doch ich schlug vor einigen Jahren einen anderen Weg ein. Normal kann jeder, denke ich, mein Weg ist es, das Versagen eher raushängen zu lassen, es gar zu zelebrieren. Wider die gesellschaftlich gewünschte Perfektion. Sich darauf einmal eingelassen, fällt vieles im Leben leichter. Weil es der ehrlichere Weg ist. Wenn da 20 Menschen um mich herumsitzen, die mit ihren bekackten Stäbchen nebenbei auch noch Antimaterie einfangen können, freue ich mich inzwischen darüber, derjenige zu sein, der aus Verzweiflung mit den Dingern jongliert. Wenn mich dann gegenüber die hübsche Brünette (womit ich nicht meine Mitbewohnerin meine, die ebenfalls hübsch und brünett ist, sondern das Mädel einen Tisch weiter) leicht belächelnd anschmunzelt, verweise ich gerne lautstark darauf, dass meine Finger sich auf andere, viel wesentlichere Filigranarbeiten spezialisiert haben, die sie lustvoll rotieren lassen würde, ganz wie die Teigtasche.

„Es will nicht gelingen! Warum will es nicht gelingen?!“, frage ich meine Mitbewohnerin, die meine Technik dann sehr genau analysiert.

„Bei dir stimmt etwas nicht. Dein Zeigefinger muss mehr Abstand zum Mittelfinger halten. Bei dir kreuzen sich die Stäbchen ja immer! Wie lustig unbeholfen das aussieht!“

Also versuche ich, den Abstand zwischen meinen Fingern zu erhöhen, was einfach nicht klappt, sodass für mich ganz ernsthaft klar wird:

„Es ist gar nicht meine Schuld! Ich habe offenbar eine Fingerfehlstellung.“

Je angestrengter ich es versuche, desto mehr verkrampft meine Hand. Streckenweise kam ich über Minuten nicht einmal zum Essen, weil die Dinge es einfach nicht vom Teller weg schaffen.

Wenn man dann also Frühlingsrollen auf dem Teller mehrfach um sich selbst rotieren lässt, muss man einfach nur so tun, als sei das gewollt. Als sei es eine ganz spezielle Technik, die nur Ur-Japaner beherrschten.

Unser Promi-Pärchen hat das Restaurant bereits verlassen, als auch wir uns auf den Weg machen. Schon eine Stunde lang wurde uns nichts mehr an den Tisch geliefert, sodass wir es aufgeben. Zumal mich die Angst gepackt hat, dass die vergeblich bestellten Speisen am Ende doch noch alle kommen, und zwar in einem Rutsch, was wir nicht mehr bewältigen könnten. Und so fallen wir wieder Zuhause in ein tiefes Fresskoma, das mich meine Sehnenscheidenentzündung nicht spüren lässt.

Frauen übrigens nennt man nicht „Mäuschen“. Mich überkommt immer wieder Fremdscham, wenn ich das mitbekomme. Mäuse kann man Mäuschen nennen, Frauen nicht. „Na, ist das dein Mäuschen?“ – „Nein, das ist die Frau, mit der ich schlafe.“


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