Spektakuläre Berichte eines Reisenden! Atemberaubende Landschaften! Fremde Kulturen! Unverständliche Sprachen! Verstörende Sitten! Das ist Seppos Reisetagebuch!

Jede Woche pendle ich mit dem Zug von Düsseldorf nach Berlin und wieder zurück. Wer nun glaubt, Zugfahrten seien langweilig, der hat natürlich vollkommen recht. Darum greife ich nach jedem Strohhalm, um der Triste etwas abzugewinnen, vielleicht doch das eine oder andere zu finden, das mit unerwartetem Unterhaltungspotenzial das monotone Rauschen über die Gleise kurzweilt. Denn in aller Regel ist ein Waggon voll mit interessanten Menschen, die heterogener in ihrer Zusammensetzung gar nicht sein könnten und sich wiederfinden in einem Mikrokosmos, aus dem es nur dann ein Entrinnen gibt, wenn der ICE mal wieder liegenbleibt und sich Chaos, Panik und Anarchie unter den Fahrgästen Bahn brechen. Daher startet heute die 400-teilige seppolog-Serie „Seppos Reisetagebuch„. Tauchen wir ein in die Welt eines Kosmopoliten, dessen Zuhause überall ist (sieht man von seinem eigentlichen Zuhause in Düsseldorf einmal ab)! Öffnen wir nun das erste Kapitel der Aufzeichnungen eines Handlungsreisenden, der gar keiner ist.

ICE 542

Berlin-Spandau – Düsseldorf


Wagen 21, Platz 106

 

Die Bahn ist pünktlich, als ich mit meinem Kollegen Simon um 19 Uhr drei passgenau am Bahnsteig stehe. Denn inzwischen wissen wir, wo exakt wir warten müssen, um nicht noch am Bahnsteig zu unserem Wagen hechten zu müssen. Eine große Hilfe dabei ist freilich der Wagenstandsanzeiger, auf den stets Verlass ist. Woher zur Hölle weiß der Lokführer, wo er wann zu bremsen hat, damit Wagen 21 wirklich vor uns stehenbleibt? Hut ab, Schienenfahrzeugführer, Hut ab!

Wir reservieren uns grundsätzlich unsere Plätze im Wagen 21, da dieser in Richtung Düsseldorf immer ganz vorn ist, während er in der Gegenrichtung als letzter an den Zug gekoppelt ist, somit immer leicht zu finden. Langjährige Bahnreisende wissen davon zu berichten, dass aufgrund dieser Passagiervorliebe der mittlere Waggon stets leer ist, ein echter Geheimtipp also für all jene, die keinen Platz reserviert haben, für den Pöbel also.

Zu diesem Pöbel gehört auch der Herr, den ich von meinem reservierten Fensterplatz entfernen musste. Auch ich bin schon ohne Platzreservierung gefahren und weiß daher, wie naiv es ist, das zu tun: Der ICE auf dieser Linie – es ist im Übrigen die Linie 4 – ist zu den Pendlerstoßzeiten meist voll bis überfüllt und das Bord-Bistro ab Hamm geschlossen.

„Verzeihung“, sage ich, denn ich sage immer „Verzeihung“ oder „Pardon“ (allerdings paddong gesprochen), „den Platz habe ich leiiiiiider reserviert.“

Ich sage auch immer „leider“, um mein Bedauern darüber auszudrücken, dass ich privilegiert, also ihm höhergestellt bin, etwas Besseres also, wirtschaftlicher wertvoller und damit auch für die Gesellschaft insgesamt.

Selten, aber dann doch gelegentlich, kommt es vor, dass der illegale Platzbesetzer der festen Überzeugung ist, er säße auf einer ganz anderen Platznummer, ich mich also irren müsste. Doch ich darf sagen, dass ich inzwischen ein old rabbit, wie die Engländer sagen, bin, der sehr genau weiß, dass der Platz rechts vom Einstieg Wagens 21 mein Platz 106 ist. Wie lächerlich zu glauben, ich sei im Irrtum!

„Nee, Sie sitzen tatsächlich auf 106. Tut mir leid. Vor der Toilettentür auf dem Boden ist noch eine Ecke frei, vielleicht finden Sie da was?“

So freundlich bin ich dann doch, dem Bodensatz der Gesellschaft einen angemessenen Ausweichplatz anzubieten, denn abgehoben bin ich nicht, ich bin ganz Mensch geblieben.

Nun sitze ich also auf Platz 106 und habe leider einen Sitznachbarn. Und wenn ich an anderer Stelle schon einmal über den Kampf um die Armlehne, derer es nur eine zwischen den Sitzen gibt, geschrieben habe, dann darf ich verkünden, dass ich diesen jetzt schon, wenige Minuten nach Abfahrt, gewonnen habe. Ein Mann weiß, wo sein Platz ist, kennt sein Revier, in das kein anderer einzudringen hat. Hier hat wieder einmal der Stärkere sich durchgesetzt.

Mein schwächlicher Geschlechtsgenosse neben mir liest ein Buch und im verschämten Augenwinkel sehe ich, dass es eines mit vielen Fußnoten ist, ein wissenschaftliches also womöglich, ein älteres überdies. Ich rieche förmlich den wohligen Duft alten Papiers eines Buches, das vielleicht sogar einer Universitätsbibliothek entliehen ist, auch wenn ich auf Seite 603 keine studentischen Markierung mittels Bleistift entdecken kann. So oder so, wie dem auch sei, sei es, wie es ist und sein wolle, neben mir sitzt vermutlich ein Gelehrter oder zumindest einer, der weiß, wie man den Anschein dessen erwecken kann, ganz wie ich es auch ganz gut kann.

Ich höre meinen Kollegen Simon sich räuspern. Er sitzt auf Platz 101, auf der anderen Seite des Waggons. Auch er musste eine Platzbesetzerin des Platzes verweisen. Sie glaubte, sie würde auf Platz 103 sitzen. Doch 103 ist nun einmal der am Gang, nicht am Fenster, wo Simon in diesem Moment die „Amazon“-Serie „Startup“ mit Martin Freeman guckt, die er mir vor etwa zwei Wochen (unterteilt in jeweils sieben Tage) empfohlen hatte. Auch ich werde gleich ihre zweite Staffel in Angriff nehmen und empfehle sie an dieser Stelle mit der gebotenen Dringlichkeit, da die Serie ihrerseits durchdrungen ist von Charakteren, in die der Zuseher intensiv, aber ohne jede Anstrengung, seinerseits eindringen kann.

Wenn ich aus dem Fenster sehe, blicke ich vermutlich auf wunderschöne Landschaften zwischen Berlin und Wolfsburg. Nur sehen tue ich diese nicht, ist es doch in diesen Breiten albernerweise bereits um sieben Uhr am Abend dunkel. Die Nähe zum Ural ist hier mit jeder Ader des Augapfels zu spüren. Je näher wir aber Hannover und letztlich der Heimat kommen, desto heller wird es. Am Horizont sieht der Reisende bereits ein leichtes Strahlen, das ich bei Ankunft um 23 Uhr 20 in seiner vollen Pracht werde genießen können.

Heimadt, miene Heimadt/ 
was sehn‘ ich mich nach dich

Die Sitznachbarin meines Freundes Simon liest ein elektronisches Buch. Dagegen ist im Allgemeinen nichts zu sagen, für mich persönlich jedoch caine Option. Das hat mehrere Gründe, die hier ihre volle Entfaltung finden sollen:

Ich gehöre zu denen, die sich gerne das ins Regal stellen, was sie gelesen haben. Ganze Autobahn-Hinweisschilder stehen deshalb bei mir in der Wohnung herum, was sich zugegebenermaßen etwas sperrig gestaltet. Ich archiviere auch die von mir gelesenen Zeitungen, was freilich im Keller stattfindet. Dort lagern stolze 20 Jahrgänge des „Spiegels“ (Ja, ich weiß, alle finden den „Spiegel“ doof und lesen nur, was ihre eigene Meinung widerspiegelt.), dort sammelt sich seit Jahren „Die Zeit“, die deutlich schneller als erst genanntes Blatt modert, und sämtliche bisher erschienenen „Geo Epoche“-Ausgaben, die ich gerne AfD-Wählern entweder an die Hand geben oder auf/vor die Mappe hauen würde. Wer auch nur ein biiiisschen Bildung genossen hat, kommt nicht auf die Idee, es abermals mit Nazis zu versuchen. Da aber diese unsägliche Partei gerade in den Bildungsschichten viele Anhänger gefunden hat, drängt sich der Eindruck auf, dass Gebildete offenbar allzu oft ihre Bildung ausblenden und ihre Entfaltung in Wut suchen, wo keine angebracht ist. Die gefährlichsten Nazis waren immer die gebildeten, wussten sie doch um die Kunst der Verführung, während der Dumme, den man in diesem Zusammenhang auch so nennen sollte, immer den Lautesten hinterherrennt. Und Nazis sind laut. Schade, dass wir wieder so weit sind. Schade, dass Warnrufe wieder verstummen. Ich selbst werde nicht müde werden, vor den Schatten der Vergangenheit immer wieder zu warnen.

Das elektronische Buch hingegen, um wieder zum Gegenstand zu kommen, kann nur monoton die Buchstaben eines Künstlers darstellen (ich meine hier nicht unkoloriert!), sie aber nicht mit Leben füllen. Und je nach Verkäufer der darauf gelesenen Bücher sind die digitalen Besitzverhältnisse nicht geklärt: Was einem scheinbar gehört, kann einem sofort wieder genommen werden. Buchstaben, Wörter und Texte jedoch sollten keinem genommen werden dürfen. Und mitnichten ist die Vorliebe für Papier etwa altmodisch, denn noch nie habe ich jemandem sich den Podex mit einem Tablet säubern sehen. Wobei ich überhaupt noch niemandem dabei zugesehen habe, wenn er seinen Allerwertesten von Kotresten befreit. Sieht man von meiner Zeit im Seniorenheim einmal ab.

Doch es gilt wie immer ein Credo von mir: Jeder, wie er mag, es spielt für mich keine Rolle. In Zeiten, in denen wir unsere angebliche Toleranz immer und immer wieder dem Nächsten unter die Nase reiben, dabei aber erstaunlich intolerant sind, erlaube ich mir diesen Hinweis immer gerne: Redet dem Mitmenschen nicht in sein Sein hinein. Ich weiß, wovon ich rede.

Während der Zug bereits drei Minuten Verspätung herausgefahren hat, somit offenbar mit angezogener Handbremse fährt, sodass wir bereits beim ersten Halt in Wolfsburg verspätet sein werden, ist ein Handlanger der Bahn des Weges gekommen. Wie alle Menschen in einem Zug bewegt auch er sich nur in maximal zwei Richtungen. Alles andere wäre Aussteigen, was während der Fahrt nicht gerne gesehen wird.

„Jemand Kaffee, Cappuccino oder ein Kaltgetränk?“, ruft er beim Hereinkommen durch unseren Waggon. Diese Bediensteten sind immer sehr zügig unterwegs und ehe ich reagieren kann, steht er schon am anderen Ende, an Platz 45.

„Halt!“, rufe ich, „Moooment! Kaffee schwarz! Hätte ich gerne!“

Der Handlanger kommt zurück, reicht mir den Becher mit Hitzeschutzmanschette und verlangt regelkonform die Gegenleistung:

„Drei Euro 20, bitte!“

Moooment!, denke ich! Nicht mit mir, einem alten Hasen, der weiß, dass der Kaffee im ICE drei Euro kostet, nicht etwa drei Euro 20!

„Ist der teurer geworden? Kost‘ doch sonst nur drei Euro?“

„Ja, also das ist auch Kaffee Crema, ‚tschuldigung.“

Aber auch diese Zubereitungsart akzeptiere ich und verkneife mir den Hinweis darauf, dass man einen Seppo nicht so einfach übers Ohr hauen kann. Ich entrichte also das Entgelt und schicke den Handlanger mit einem „Danke“ zurück auf seine Reise durch den ICE.

Kaffee Crema ist mitnichten eine Melange aus Kaffee und Milch, wie mir kürzlich jemand weismachen wollte. Vielmehr beruht er auf einer Zubereitungsart auf Espresso-Basis, wobei der Robusta-Kaffee die Grundlage bildet, nicht etwa der geschmacklich überlegene Arabica! Dem Robusta ist die stärkere Schaumbildung eigen und nichts anderes meint das „crema“ in Crema: den Schaum. Schaum kostet 20 Cent.

Ich sehe die Lichter einer Stadt, drehe ich meinen Kopf nach rechts. Ist es Wolfsburg? Denn in Wolfsburg ist unser

Jetzt gibt er Gas! Der ICE rast dermaßen, dass ich fürchte, etwas stimme nicht! Es wackelt! Wahnsinn. Das habe selbst ich so noch nicht erlebt! Was geht vor sich?! Ich bin etwas irritiert. Droht ein Unglück?! Die Passagiere beginnen zu tuscheln. Nicht nur ich bin verunsichert. Mein Sitznachbar verlässt den Platz neben mir. Leider sehe ich die Geschwindigkeitsanzeige des Zuges nicht, die intervallweise auf dem Monitor an der Wagendecke angezeigt wird. Auch finde ich den Zug lauter als sonst. Verunglücke ausgerechnet ich mit einem ICE? Welche Überlebenschancen habe ich im vordersten Waggon? Prallen wir auf ein Hindernis, sieht es wohl übel aus, allein der Gedanke, dass es schnell vorbeiginge, spendet mir Trost.

Zug bereits eine Viertelstunde überfällig. Vielleicht erklärt genau dieser Umstand das plötzliche Beschleunigen des Vehikels. Hat mein Sitznachbar den Platz womöglich verlassen, weil er in Wolfsburg aussteigt?

Nun habe ich mich bereits gefreut, mich auf meinen freien Platz neben mir ausbreiten zu können, doch leider hat ihn ein Fahrgast eingenommen, der bis gerade noch im Gang hat stehen müssen.

„Darf ich?“, fragte er mich, als sei es an mir, ihm die Erlaubnis zum Setzen zu erteilen. Hätte ich es mit einem freundlichen „Nein, leider nicht“ versuchen sollen? Wie hätte er reagiert?

„Okay, schade, dachte ja nur, weil der ja jetzt frei ist.“

„Ja, frei ist er, aber ich brauche eben meinen Freiraum. Ich bin Schriftsteller, wissen Sie, ich schreibe derzeit an einem Buch.“

Ich blicke hinüber zu Simon. Er guckt nach wie vor eine Serie, nein!, er schreibt eine Whatsapp-Nachricht. Er ahnt nicht, dass ich vor wenigen Minuten noch in Todespanik meinen Kaffee Crema mit meinen Händen und meinem Blick fixierte.

Der Zug entschleunigt. Meine Theorie, dass die Bremsen hinüber sind, ist somit zum Glück hinfällig. Beruhigt kann ich meiner Mitbewohnerin Entwarnung geben, der ich via Facebook-Messenger eben schrieb:

„habe den eindruck, dass der ice gleich verunglückt, er ist mit mindestens 400 km/h unterwegs, von wolfsburg keine spur. nachlass geregelt, testament liegt in der schublade, wo meine lauftagebücher liegen, dritte von unten, nein, von oben, oder zweite von oben? du musst dich durchsuchen, ich liebe dich.“

Sie antwortete:

„bloggst du gerade?!“

Sie nimmt meinen nahenden Tod einigermaßen gelassen hin. Ich werde das Testament anpassen müssen.

Wir halten nun in Wolfsburg und sind 30 Minuten zu spät dort. In Berlin noch war der Zug pünktlich. Offenbar haben wir nach einer Stunde Fahrt bereits 30 Minuten Verspätung.

Ich schließe nun dieses Kapitel, da ich an einer anderen Sache weiterschreiben werde. Ich verbleibe mit den kosmopolitischen Grüßen eines Mannes, der des Verweilens überdrüssig ist, immer in Bewegung, ganz wie es seinem Wesen entspricht. Nicht die Welt steht still, der Mensch tut es.


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