Der Tod ist sein Lebensthema gewesen. Denn der Mensch stirbt. Zu jeder Zeit. Und Seppo hat immer gewusst, dass ein früher Tod durchaus möglich ist, vielleicht sogar die wahrscheinlichste Variante. Altwerden ist nichts anderes als die dauerhafte Abwesenheit von Pech.

Seppo verstarb am Morgen des 17. November.

Auf unspektakuläre Weise, was ihn geärgert hätte. In vielem nur Mittelmaß – selbst beim Sterben. Wie gerne hätte er ein event daraus gemacht! Wie gerne ein selfie im entscheidenden Moment! Und natürlich hätte er gerne darüber geschrieben. Doch genau das ist ein Merkmal des Todes: dass man solche Dinge nicht mehr tun kann. Der Tod verdammt den Menschen zur Untätigkeit.

Gefürchtet hat er stets einen Tod durch Unfall. Ob durch Ausrutschen in der Dusche oder im Straßenverkehr. Beides kann so unglaublich schnell gehen. Im Badezimmer genügt es, blöd auszurutschen – der Kopf kracht immer auf das Waschbecken. Ein unglücklicher, aber schneller Tod. Im Verkehr genügt es, einmal nicht genau hinzusehen – zack, gerät man unter einen LKW. Dieser Tod kann sich schon mal etwas hinziehen. Wenn allein diese beiden Dinge über einen Zeitraum von, sagen wir mal, 90 Jahren nicht eintreten, dann ist das schon ein immenses Glück.

Seppo erlag einem Herzinfarkt. Mit 37 oder 38 Jahren noch jung, aber inzwischen auch nicht mehr ungewöhnlich. Wie oft hat er selbst gelesen, dass Infarktpatienten immer jünger werden. Ausgerechnet er als Heimsport-Fanatiker kriegt ’nen Infarkt! Vielleicht hätte es ihm doch gefallen.

Wenn es wenigstens beim Sport passiert wäre. Erschlagen von seiner Hantel. Oder verunfallt beim Laufen, weil er wegen der lauten „Wizo“-Musik die Straßenbahn überhört hätte. Das wäre ihm angemessen gewesen. Das hätte Stil gehabt. Aber nein, er kollabiert stöhnend unter Krämpfen. Nur in einem blieb er sich treu: Er schrieb seinen eigenen Nachruf. Sie lesen ihn gerade.

Sein Nachruf liegt in 25 Varianten vor. 25 potenzielle Todesarten hat er einkalkuliert. Und ja, der Infarkt war darunter. Krebs war dabei. Selbst ein ICE-Unglück hatte er auf der Agenda. Terror, na klar, war auch unter den Todesursachenkandidaten. Selbst die Version, in der er heldenhaft den Attentäter noch überwältigt, bevor er im Kugelhagel niedergeht. Doch veröffentlicht wird nun diese unspektakuläre Infarkt-Variante. Und er schreibt davon, dass der Verlust der Sprache und/oder des Vermögens zu schreiben ihm die größte Sorge bereitete; noch vor dem Verlust der Fähigkeit zu laufen. Dann doch lieber ganz tot. Denn: Er hörte sich so gerne reden. Das wollte er nie missen.

Hatte er Angst vor dem Tod? Vor seinem? Nein. Er hielt ihn sogar für wahrscheinlich. Er hatte nur Angst vor dem Tod ihm Nahestehender. Er war hin- und hergerissen in der Frage, was ihm lieber wäre: der eigene Tod oder der eines ihm Lieben? Der Vorteil des eigenen Dahinscheidens sei der, dass einem nach Übertritt ins Jenseits alles egal sein könne. Weil da nichts mehr sei. Man selbst sei nicht mehr. Als Gestorbener komme man gar nicht mehr in die Verlegenheit, darüber nachzudenken, dass es Menschen gebe, die den Verlust betrauerten, darunter schwer litten. Nur vor dem Tod könnten wir es uns vorstellen, aber im Ernstfall spielte der Aspekt de facto keine Rolle mehr. Denn wir seien dann nicht mehr. Viele könnten nicht glauben, dass da nichts ist. Doch was war vor unserer Geburt? Was waren wir vor unserer Geburt? Nichts. Es gab uns nicht. Den Körper nicht, unsere Seele nicht. Der Tod ist das Negativ der Geburt.

Wenn hingegen ihm Nahestehende stürben, hätte er als Nicht-Gestorbener den Vorteil, dass er noch lebte. Aber dafür lebte der andere nicht mehr. Er würde von Trauer zerfressen. Dann also doch lieber selbst sterben und dem anderen die Trauer zumuten?! Wie man es machte, man machte es falsch. Diese Entscheidung wird uns jedoch zum Glück abgenommen. Über so etwas denkt nur der Lebende nach.

Aber Herzinfarkt?!

Mit einem Druck in der Brust steht Seppo gegen sieben Uhr am Morgen auf, fühlt sich unausgeschlafen, sogar schwer gerädert. Kommt die Grippe zurück? Er holt sich einen Kaffee, doch es treibt ihn direkt wieder ins Bett. An Sport ist nicht zu denken. Das kommt extrem selten bei Seppo vor. Meist verhandelt er noch mit sich selbst, ob nicht doch irgendwie die Möglichkeit bestehe, zumindest ein bisschen Sport zu treiben. Doch dieses Mal ist ihm glasklar, dass es einfach nicht geht; die Signale des Körpers eindeutig, zumal er extrem kurzatmig ist. Irgendetwas stimmt nicht.

Seppo schläft ein. Träumt wild, träumt unruhig, träumt großen Unsinn. Er wacht gegen halb zehn auf und fühlt sich kein Stück besser. Auf dem linken Auge sieht er nichts, es flimmert nur. Schlecht durchblutet, denkt er. Er versucht es mit einem weiteren Kaffee, um den Kreislauf irgendwie in Schwung zu bringen. Und dann geht es los. Und doch zuende.

Ein massiver Schmerz zieht durch seine Brust, ein Druck, unfähig zu atmen, dazu ein umwerfender Schwindel, der ihm den Boden unter den Füßen wegreißt, auf dem er nun in sich zusammensackt. Er will aufschreien, bekommt aber keinen Ton heraus. Und er weiß in diesem Moment:

„Ich sterbe tatsächlich. So fühlt es sich also an. Und keiner kriegt es mit. Ich hab keine Hose an. Gut gekleidet zu sein, war mir immer so wichtig, aber ich sterbe in Unterwäsche!“

Ich hab keine Hose an. Das ultimativ letzte, das Seppos Gehirn an Gedanken fabriziert. Ihm bleibt nicht einmal die Zeit, darüber innerlich zu schmunzeln. Regungslos liegt er da, die Kaffeetasse neben ihm, während sich die Kaffeepfütze über den Boden ausbreitet.

Er sieht keinen Tunnel und auch kein Licht an dessen Ende. Er sieht absolut gar nichts, nicht einmal Schwarz. Er fühlt auch nichts. Keine Wärme, keine Kälte.

Am Freitagabend wird Seppo gefunden, sein Tod sofort festgestellt. Sein Körper verschwindet in einem Leichensack, der dann aus der Wohnung getragen wird.


Auf Instagram und Facebook können wir uns davon überzeugen, dass Seppo lebt. Vor einiger Zeit brachte seine Lektorin ihn auf die Idee, nicht immer andere Figuren aus dem seppolog sterben zu lassen, sondern einmal sich selbst. Und es wird ja doch ganz anders kommen.