Schnuppern wir auch heute wieder ein wenig Reiseluft, wenn Kosmopolit und Tod-Überlebender Seppo ein weiteres Mal von Düsseldorf nach Berlin reist. Das heutige Kapitel des Reisetagebuches entführt uns zurück zum vergangenen Samstag, als die Deutsche Bahn mit einigen Problemen zu kämpfen hat.

ICE 847

Düsseldorf – Berlin-Spandau


Wagen 21, Platz 106

Ich habe sie immer verteidigt, die Deutsche Bahn. Skeptisch wurde ich erst, als ich hörte, dass ihr japanisches Pendant, die Japanische Deutsche Bahn, sich öffentlichkeitswirksam dafür entschuldigt, dass einer ihrer Züge 20 Sekunden zu früh abgefahren ist. Zu früh! Rein physikalisch scheint Pünktlichkeit also durchaus machbar zu sein. Bei der Deutschen Bahn sind wir anderes gewohnt. Und dennoch schließe ich mich dem abgedroschnenen Bahn-bashing nach wie vor nicht an. Auch nicht nach der heutigen Fahrt, die am frühen Morgen am Düsseldorfer Hauptbahnhof, Gleis 17, ihren Anfang nimmt. Einen guten Anfang, denn mein Zug, der ICE 847, kommt pünktlich! Also gut, mit fünf Minuten Verspätung. Aber das lasse ich dem symptahischen Bahnunternehmen noch durchgehen.

Ich steige ein und mir ist nicht ganz klar, ob ich im richtigen Waggon stehe auf dieser Reise nach Berlin. Reserviert habe ich im Wagen 21, die Wagennummernanzeigen allerdings sind heute nicht ganz so eindeutig. Stand außen noch „Wagen 21“ angeschlagen, hält sich Wagen 21, sobald man eingestiegen ist, für Wagen 31. Eine veränderte Wagenreihung ist nicht ungewöhnlich, doch dieses Mal ist es irgendwie anders.

„Ob Wagen 21 heute am anderen Ende ist?“, frage ich einen Mitreisenden, der mir ähnlich irritiert auf die Digitalanzeigen blickt: ratlos.

„Also der nächste Wagen ist die 32. Unter 31 kommt nichts mehr.“

Das bringt mich nicht weiter, aber immerhin weiß ich nun, dass ein Gang zum anderen Zugende, der etwa eine Viertelstunde dauern würde, wie mich die Erfahrung geänderter Wagenreihungen lehrt, überflüssig ist. Zumal ich nun ein Schild sehe, auf dem steht, dass ich im Wagen 31/21 stehe. Das ist neu für mich, dass ein Waggon zwei unterschiedliche Nummern hat.

„31 ist 21“, erklärt mir der Mitreisende, der offenbar auch keine Lust hat, bis zum anderen Ende zu tapern.

„Ah, 31 ist 21. Ja, macht Sinn“, sage ich, was natürlich keinen Sinn ergibt. Aber womöglich ist das aus Bahn-Sicht alles andere als unlogisch. Man muss es nur annehmen, für möglich halten, einfach akzeptieren.

Ich bewege mich zu meinem vermeintlichen Platz 106, wo schon ein Mädel sitzt. Ich kann nur hoffen, dass sie nicht den Platz 106 im Wagen 31 reserviert hat, der auch Wagen 21 ist, als ich zu ihr meinen Standardsatz sage:

„Pardon, deeeeen Platz habe ich leeeeider reserviert!“, und füge noch stammelnd an, „Wenn denn dieses Wagen 21 ist.“

„Kein Ding, ich glaube Ihnen das schon.“

Sie steht auf und setzt sich auf die andere Seite, auf Platz 101. Das ist der, den meist mein Kollege Simon reserviert, der jedoch schon einen Tag vor mir nach Berlin gereist ist.

Nun würde ich mich ja gerne dem Schlaf hingeben, doch will ich noch das Ruhrgebiet mit seinen vielen Halts abwarten, falls Menschen zusteigen, die darauf bestehen, dass Wagen 31 Wagen 31 ist, und möglicherweise Platz 106 reserviert haben, den ich dann natürlich räumen würde. Mit Murren, aber immerhin.

Eine Durchsage! Eine Durchsage, die Licht ins Dunkel bringt!

„Sehr verehrte Fahrgäste, aufgrund einer technischen Störung werden die Reservierungen derzeit falsch bis gar nicht angezeigt. Darüber hinaus gibt es Störungen bei den Anzeigen der Wagennummern. Die Wagen 31 bis 37 sind eigentlich die Wagen 21 bis 27. Befinden Sie sich also in Wagen 31, befinden Sie sich tatsächlich in Wagen 21. Wir bitten, dies zu entschuldigen.“

Aha! Wagen 31 ist wirklich Wagen 21! Ich sitze richtig! Niemand wird mich hier unter Einhaltung von Recht und Moral wegbewegen können! Ich hole meinen „iPod nano touch classic“ aus meinem Handgepäck, wähle das Hörspiel „Twilight Mysteries“, Folge vier, aus und gebe mich der absoluten Passivität hin. Auf den Hinfahrten kann ich immer fantastisch schlafen. Und ich schlafe tatsächlich umgehend und ohne Umweg über Schlafstörungen ein.

Doch an eines habe ich nicht gedacht. Es empfiehlt sich schlafaffinen Bahnreisenden grundsätzlich, den Schaffner und die durch ihn ausgeführte Ticketkontrolle abzuwarten, der mich in diesem Fall in Gestalt einer Frau, einer Schaffnerin, sanft zwar, aber doch aus dem Schlaf riss. Sie tippen einen an! Und so werde auch ich von einem Anstupsen wieder wach, reiße die Augen auf und sehe die dunkelhaarige Handlangerin, die meine Fahrkarte abscannen will. Da ich schönen Frauen, hässlichen schon, keinen Wunsch abschlagen kann, rufe ich mein Ticket in der DB-App auf und halte sie ihr in einem geeigneten Winkel hin und überlege noch, ihr zu erzählen, dass ich am Mittwoch auf mein Steißbein gefallen bin, eine Geschichte, die bislang noch niemanden interessiert hatte, vielleicht ja sie.

„Sie werden lachen, was mir am Mittwoch passiert ist. Ich bin-“

„Danke schön, gute Reise weiterhin.“

„Äh, ja, aber meine Geschichte! Steißbein … Ach, dann eben nicht.“

Ich bin ja niemand, der sich aufdrängt, sodass ich einen zweiten Einschlafanlauf in Angriff nehme. Stelle jedoch fest, dass der Zug steht. Im Nirgendwo. Möglicherweise noch vor Duisburg.

„Sehr verehrte Fahrgäste, aufgrund einer Störung im Betriebsablauf ist unser Zug zum Stehen gekommen.“

Ach, er steht?!

„Sobald der Fahrbetriebsleiter die Störung behoben hat, werden wir unsere Fahrt fortsetzen. Beachten Sie bitte, dass in Duisburg nicht mehr alle Anschlusszüge erreicht werden können.“

Doch, denke ich, werden sie. Die kommen auch zu spät, keine Sorge.

Und während wir so stehen, stelle ich fest, dass es wahnsinnig kalt ist. Läuft die Heizung?!

„Sehr geehrte Fahrgäste, aufgrund einer Störung unseres Heizsystems können die Wagen 31 bis 37 derzeit nicht beheizt werden.“

Kurze Pause, man hört förmlich, wie der Zugführer über Gesagtes nachdenkt, als er fortsetzt:

„Nein, ich korrigiere. Die Wagen 21 bis 27 können nicht geheizt werden. Beachten Sie bitte, dass die Wagen 21 bis 27 heute die Nummern 31 bis 37 führen.“

Ich hebe meinen Leib hoch, um meine Jacke unter mir hervorzukramen, auf der ich traditionell sitze. Hängt man seine Jacke nämlich an den dafür vorgesehenen Haken am Fenster, baumelt sie einem nur die ganze Zeit im Gesicht herum. Dass „Siemens“ das nicht in den Griff bekommt, ist mir ein Rätsel.

Die Jacke, von mir befreit, lege ich über meine Beine. Und das ist etwas, das ich noch nie getan habe. Ich gehöre an sich nicht zu denen, die sich Jacken über die Beine legen. Ich lehne das ab. Doch es ist kalt, sehr kalt. Und es zieht. Weil die Tür zum Waggon 31 oder 21 leider kaputt ist. Sie schließt nicht. Das ist insofern lustig, als dass ich in der Vorwoche es mit einer Tür zu tun hatte, die nicht öffnen wollte. Erst der Fahrbetriebsleiter hat sie mit einem seltsam anmutendem Werkzeug aufgehebelt. Vielleicht ist es dieselbe Tür mit Trotzreaktion.

Ich fluche innerlich. Aber immerhin setzt der Zug nun seine Fahrt fort. Jetzt schon mit 30 Minuten Verspätung.

Die holen wir auch nicht mehr auf. Denn in Dortmund steht der Zug nun weitere 20 Minuten. Das hat einen guten Grund.

„Sehr verehrte Fahrgäste, aufgrund eines Notarzteinsatzes auf dem Bahnsteig verzögert sich die Abfahrt unseres Zuges um einige Minuten. Bitte beachten Sie, dass in Hamm nicht mehr alle Anschlusszüge erreicht werden können.“

Doch, denke ich, werden sie. Die kommen auch zu spät, keine Sorge. Und denen, die in Bochum aussteigen wollten, ist das eh egal. Denn die haben andere Probleme, da:

„Sehr verehrte Fahrgäste, bitte beachten Sie, dass unser Zug heute nicht in Bochum hält.“

Finde ich immer sehr interessant. Woran scheitert wohl ein an sich vorgesehener Halt? Vermutlich an vollen Gleisen, weil irgendwo ein ICE liegengeblieben ist, bei dem ein nicht so tüchtiger Fahrdienstleiter mit an Bord ist wie bei uns. Unser Fahrdienstleiter heute leistet tolle Arbeit! Von der Heizung mal abgesehen. Und ich weiß noch, wie ich mich im Sommer totgeschwitzt hatte, als sie einmal die Heizung nicht ausschalten konnten. Wegen einer Störung.

Hamm. Es gibt Probleme beim Ankoppeln des zweiten ICEs. In Hamm werden auf meiner Linie immer zwei ICEs „vereinigt“. Das ist immer ein Moment des Bangens, da es oftmals schiefgeht. Von Hamm aus bin ich schon einmal mit einem Regionalexpress weitergefahren, weil diese „Vereinigung“ schieflief.

Dieses Mal aber klappt sie, wenn auch erst nach einer halben Stunde. Dass ich pünktlich zur Arbeit erscheine, halte ich eh schon seit Dortmund für ausgeschlossen.

 

Berlin-Spandau. Ich bin am Ziel. Ein bisschen länger ist mein Haar geworden, ein bisschen grauer. Es ist wie sooft unfassbar kalt in Berlin und mich empfängt ein großes Aufgebot der Polizei. Ich grüße freundlich:

„Letzten Mittwoch bin ich ja unglücklich auf mein Steißbein-“

„Bitte gehen Sie weiter.“

„Terrorgefahr?“

„Ja, Bundesliga. Hertha BSC.“

Stimmt, gegen Mönchengladbach. Ging vier zu zwei aus. Ich mache bei einem Tippspiel mit. Ich hatte drei zu eins getippt, meine ich, oder drei zu zwei. Auf jeden Fall Punkte gemacht. Überhaupt mache ich immer viele Punkte dabei, obwohl oder gerade weil ich keine Ahnung von Fußball habe, da ich bei Fußball den Eindruck habe, es gehe nicht um mich.

Nun kommen auch die Fans von Borussia Mönchengladbach. Sie grölen rum, was okay ist. Nur bin ich sehr müde und unterkühlt. Einer kommt auf mich zu.

„Weissu, wo Stadion is?!“

Hahahaha, das ist natürlich eine Frage, die man mir nicht zu stellen braucht. Ich wusste ja nicht mal, wo Wagen 21 war.

„Nein, keine Ahnung. Übrigens, am Mittwoch bin ich unglücklich auf mein Steißbein-“

„Boruuuusssia!“

Nun gut. Mein Kollege kommt, sammelt mich ein und ich freue mich auf die anstehenden Tage, die mit Pionierarbeit im Wortsinne aufwarten.


Die Wegbeschreibung zum Stadion finden Sie bei Instagram und Facebook. Und ich freue mich besonders über all jene Leser, die wie ich diese Nacht durchmachen! Kommt gut durch diese!