„Das Messer verändert dich“, sagt meine Mitbewohnerin in letzter Cait häufig zu mir. Zu einem geflügelten Satz, möchte ich sagen, ist es bereits geworden, obwohl sie anfangs skeptisch war. Damals, im Urlaub, als ich mir in alter Tradition unbedingt irgendein Andenken kaufen wollte, wie es schon in meiner Kindheit Kult gewesen ist, fand ich außer diesem Schweizer Taschenmesser nichts besseres, obwohl wir wirklich in so ziemlich jedem Souvenir-Laden waren, die natürlich nur unnützen Kitsch anbieten, der auf eine Käufergruppe abzielt, in der ich mich (noch) nicht sehe.

„Ich will dieses Messer!“, erkläre ich feierlich meiner Mitbewohnerin.

„Was willst du denn plötzlich mit einem Taschenmesser?!“

Sie ist skeptisch. Vielleicht nicht ganz zu Unrecht, denn womöglich fürchtet sie, dass ich damit versehentlich Menschen verletzen könnte.

„Womöglich bringst du dich damit nur um, Seppo!“

Ich protestiere heftig. Schon als Kind habe ich immer ein Taschenmesser haben wollen, das mir meine Eltern allerdings verweigert hatten.

„Warum?“, fragt sie.

„Sie hatten Angst, dass ich mich damit umbringe.“

„Siehst du?!“

„Warum glaubt denn gleich jeder, dass ich mich mit einem Messer sofort umbringen würde?! Eher sterbe ich an einem Herzinfarkt, um dann meinen eigenen Nachruf zu schreiben.“

„Geschmacklos … Wenn du Tomaten schneidest, wer muss dann immer die Fingerkuppen aussortieren?!“

Darauf weiß ich keine Antwort. Das heißt, ich weiß sie durchaus, aber behalte das Offensichtliche für mich.

„Ich will das Messer. Da wird nicht mehr diskutiert.“

„Vielleicht gibt es eines speziell für Kinder?“

„Für Kinder?! Ohne Klinge, oder was?!“

„Zum Beispiel.“

„Ich bin ein gestandener Mann! Ich werde doch wohl … ich  kauf mir jetzt dieses Messer.“

Wir drehen den Verkaufsständer mit den verschiedenen Modellen, bis ich eines gefunden habe, das mir ein angemessenenes Preisleistungsverhältnis zu versprechen scheint.

„Ich will das da. 40 Euro. Das hat ’nen Korkenzieher. Das ist wohl das Wichtigste. Und einen Zahnstocher! Ja, gibt es denn sowas?! Das ist ja genau das richtige für mich! Denk nur an mein Zahnimplantat! Dieses Messer hat mir Gott gesandt!“

Und tatsächlich verspreche ich mir viel von diesem integrierten Zahnstocher, da ich nach jeder Mahlzeit mit Essensresten in der oberen rechten Zahnreihe zu kämpfen habe. Offenbar lässt das dort eingesetzte Implantat ausreichend Spielraum für die Einlagerung von Nahrungsmittelresten, die stets ein anstrengendes Zungenspiel zur Folge haben.

„Das trainiert aber deine Zunge“, gibt meine Mitbewohnerin zu bedenken.

„Ja, aber eben auch nur rechtsdrehend.“

„Das genügt völlig …“

 

Jenes Messer gehört inzwischen zu meiner täglichen Grundausstattung und gesellt sich damit zum ausklappbaren Bartkamm, zum Schlüssel, zum Portemonnaie, zur Hosenkette, zu den „Fisherman’s Friends Tropical“ sowie zu den zwei Papiertaschentüchern. Aber brauche ich es wirklich?! Natürlich hab ich mir die Frage auch gestellt. Aber ich nehme doch an, dass Bedarf auch geschaffen wird durch Angebot. Darauf zu warten, es zu brauchen, ohne es zu haben, ist Unsinn. Der moderne Konsument braucht mitunter erst dann, wenn er hat. Und da ich nun habe, werde ich es doch mit Sicherheit irgendwann einmal auch gebrauchen können!

Viele Wochen ziehen ins Land. Auf Partys nehme ich das Messer grundsätzlich nicht mit, da ich Sorge habe, dort aggressive Menschen zu ermorden. Das Tragen von Waffen provoziert nur den Gebrauch von Waffen durch den Gegner, der in meinem Falle mit Sicherheit besser damit umgehen kann als ich. In einem Kampf würde ich mich vermutlich nur selbst damit verletzen.

Aber darüber hinaus: Messer ist immer am Mann.

„Das Messer verändert dich.“

Mit diesem Satz zieht sie mich auf. Weil sie merkt, ich brauche es nicht. Doch wohlan! Die Dinge haben sich geändert!

Es war ein Dienstagabend in Berlin. Mein Kollege und ich hatten den Auftrag, ein großes Paket zu öffnen. Ratlos standen wir vor dem mit Klebeband versiegelten Karton.

„Menschenunmöglich, dieses ohne Werkzeug zu öffnen“, stelle ich fest.

„Bombenfest verpackt. Da haben wir keine Chance“, pflichtet Kollege Christopher mir bei.

„Wir müssen aufgeben. Der Inhalt wird verhüllt bleiben müssen.“

„Was machen wir jetzt?“

„Wir verstecken uns, bis Feierabend ist.“

Sage dieses und im selben Moment fällt mir ein:

„Moooment! Christopher! Ich habe ein Messer!“

„Was machst du denn mit einem Messer?!“

„Ja, entschuldige mal, warum sollte ich denn kein Messer haben?!“

„Weil du dich damit nur umbringen-“

„Warum sagt mir eigentlich jeder, dass ich mich gleich umbringen würde?!“

Krame mein Messer aus der Hosentasche und will zur Tat schreiten. Natürlich finde ich nicht auf Anhieb die Klinge, die ich brauche. Ziehe also erst den Kronkorkenöffner heraus, die Schere, die Pinzette …

„Ach, sieh an! Es hat eine Pinzette!“

… und schließlich die Messerklinge. Wochen später übrigens erst finde ich auch noch ein Sägeblatt! Kundenrezensionen, die ich mir zu dem Messer durchlas, berichteten davon, dass man genau dieses Sägeblatt nie finde, und in der Tat ist es gut versteckt. Ein Käufer hatte es sogar wieder zurückgeschickt, weil er behauptete, das Modell verfüge gar nicht über ein Sägeblatt. Armer Irrer.

Ich setze die Klinge an … und öffne das Paket!

„Das schreibe ich sofort meiner Mitbewohnerin! Warte, Christopher! Mach ein Foto von mir, wie ich das Paket öffne. Stellen wir nach. Das Foto schicke ich ihr!“

Getan nach gesagt und sie reagiert auch prompt:

„Hast du dich verletzt?“

Ich bin beleidigt und stolz zugleich, verletzt also im Stolz, und reagiere nicht. Denn ich bin nun zu einem Mann geworden, der für einige Minuten alleine im Wald überleben könnte.

Und das ist erst der Anfang!

Einige Tage später ist mein Kollege – dieses Mal ein anderer! – Simon Nutznießer meines Taschenmessers. Denn Simon ist geplagt von einer erheblichen Rollkofferproblematik, deren Schwerpunkt im ausziehbaren Koffergriff liegt: Eine von zwei Kreuzkopfschrauben ist chronisch lose, was sich ungünstig auf das Ausziehen des Griffes und freilich auch auf das Ziehen des Koffers auswirkt.

„Es kommt der Tag, da hechte ich zu Wagen 21 am Bahnsteig und das empfindliche Konstrukt fällt auseinander, infolgedessen ich den Zug verpasse, Seppo“, orakelt er.

Doch da hat er die Rechnung noch ohne mich gemacht!

„Simon! Gemach! Ich kann kraft meines Taschenmessers Abhilfe leisten!“

Du hast ein Taschenmesser? Bringst du-“

„Nein! Ich bringe mich nicht damit um!“

Ich reiche es ihm herüber und siehe da, der Mann, der im Filigranen ähnlich geschickt sich anstellt wie ich, befördert die Schraube mittels meines ausklappbaren Schraubendrehers, der zum Glück die passende Größe aufweist, in die für sie vorgesehen feste Position!

Sofort krame ich nach meinem Handy, um meiner Mitbewohnerin mitzuteilen, dass mein Messer ein weiteres Mal zur Abhilfe herangezogen werden konnte! Sie antwortet mit:

„Das Messer verändert dich.“


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