Unterwegs mit der atemberaubenden Geschwindigkeit der modernen Lokomotiv-Technologie: Seppo durchquert Deutschland mit dem wohl romantischsten Verkehrsmittel, das der Mensch bis heute hervorgebracht hat, wie obiges Bild zeigt (Abbildung ähnlich). Erfahren wir im heutigen Kapitel des Reisetagebuches etwas über Sexismus und den Wert der „Apple Watch“, begleiten wir Seppo durch eine Gedankenwelt, die sich um Humor und Arroganz dreht. Reisen wir mit ihm in seine Heimat!

ICE 544

Berlin-Spandau – Düsseldorf


Wagen 21, Platz 55

Heute ist alles anders auf dieser Rückreise in die Heymat: Ich sitze nicht auf einem meiner zwei angestammten Sitzplätze 106 oder 101, sondern auf – Platz 55! Ganz andere Aussicht! Von hier, mitten im Wagen, sehe ich alles und jeden, was mir zugute kommt, geht es im Reisetagebuch doch auch und gerade um das Beobachten der Mitreisenden.

Nun gut, strenggenommen geht es um etwas ganz anderes. Nämlich darum, dass ich mir die Cait totschlage. Das ist das eigentliche Motiv dieser Serie, reiner Eigennutz. Eigennutz, der Fremdnutz mit sich bringt – das, liebe Freunde, ist doch die wahre Symbiose aus Schreiberling und Leserling!

Der Zug hat 15 Minuten Verspätung, über die bereits die App der Deutschen Bahn uns vorab informiert hatte. Ein toller Service, sodass wir erst entsprechend später gen Bahnhof Spandau aufbrechen mussten. Chapeau, Deutsche Bahn! Doch auf dem Weg zum Hauptbahnhof wurde unsere ausgelassene Stimmung jäh durchbrochen von einer weiteren push-Nachricht jener heilsbringenden App: Die Verspätung des Zuges wurde abgesagt; der ICE 544 sei nun wider Erwarten doch pünktlich. Würden wir das jetzt noch schaffen?

„Nicht einmal die Verspätungen bekommt die Bahn ordentlich hin, auf nichts ist Verlass!“, mosere ich und auch mein mitreisender Kollege Simon stimmt in das Fluchen mit ein:

„Wie kann ein Zug überhaupt schon am Startbahnhof Verspätung haben?! Vergessen sie, den Zug auf die Gleise zu stellen?!“

Unser Fahrer gibt Gas und missachtet sämtliche Regeln der Fahrkunst, wodurch er – paradox! – höchste Fahrkunst beweist. Nach dem Überrollen mehrerer Menschen erreichen wir noch zeitig den Bahnhof, wo uns die Informationstafeln davon in Kenntnis setzen, dass unser Zug sich doch zuverlässig um jene 15 Minuten verspätet. Und nun vibrieren auch unsere Handys, da die Bahn-App uns jetzt ebenfalls und abermals über die Verspätung informiert: „Abfahrt 11 Minuten später“. 15 Minuten hier, elf Minuten da.

„Ob man die beiden Zahlen addieren muss, um auf den tatsächlichen Wert der Verspätung zu kommen?“, frage ich Simon, der an seinem Koffer rumnestelt.

„Seppo, hast du nochmal dein …“

Treue Leser wissen, wonach es ihm verlangt, schrieb ich doch ausgerechnet heute Vormittag genau darüber!

“ … Taschenmesser?“

Elativgern reiche ich ihm mein Werkzeug und freue mich, dass es abermals helfen konnte! Seppo, ein Mann für alle Fälle. Probleme? Seppo rufen, er hilft! (Wenn es ihm nutzt)

Nun ist es 17 Uhr 19, ich sitze auf ungewohntem Platz. Die Bahn ist übervoll, sodass ein Mann in Uniform uns bat, kein Gepäck in den Gängen zu placieren. Das darf man eigentlich nie, aber noch weniger bei Überfüllnis.

Wie gewohnt wenden wir uns im Reisetagebuch zunächst meinem Sitznachbarn zu. Da ich heute vor Selbstbewusstsein nur so berste wie ein ICE, der entgleist, erlaube ich mir festzustellen, dass ich mich für meine 37 Jahre extrem gut gehalten habe. Ich bin der festen Überzeugung, dass ich durchaus als 35-Jähriger durchgehen würde. Ach, was sag ich! Ich habe den Körper eines 25-Jährigen! Jener Herr neben mir, der nun hoffentlich nicht auf meinen Monitor starrt, was, wie wir wissen, viele Sitznachbarn mich eingeschlossen tun, scheint mein Alter zu haben, dabei aber wie 45 auszusehen.

Mooooment, ruft nun der empörte Leser, wie könne ich das denn erkennen, sieht er doch wie 45 aus?! Ganz einfach: Nicht nur, dass ich im Körper eines 20-Jährigen lebe, nein!, ich habe auch noch die Menschenkenntnis eines alten, weisen Mannes!

Wirtschaftlich allerings scheint mein Nebenmann erfolgreicher zu sein als ich, was jetzt auch keine unüberwindbare Hürde ist. Er trägt eine smarte Uhr von „Apple“, die sicher nicht billig war, und er nutzt darüber hinaus ein teures Apple-Tablet, das vor seinem Apple-Laptop steht. Der Rahmen seiner Brille ist aus Holz. Solch hochwertige Brillen kenne ich, würde sie selbst nie tragen, da ich mich gelegentlich auf meine Brillen draufsetze, was Holz einem nachträgt.

Sein Kleidungsstil ist erlesen, ich sehe Markennamen, die sich teuer bezahlen lassen, was ich in Ordnung finde. Zudem kleidet er sich etwas, sagen wir mal, „feiner“ als ich es tue, was natürlich an Alter aufträgt. Die Art, wie er mit seinen Fingern seinen berührungsempfindlichen Bildschirm bedient, zeigt, dass er körperliche Arbeit nicht kennt. Das neben mir ist ein Geschäftsmann, der in diesem Moment einen Lagerbestand prüft. Mehr kann ich beim Schielen auf sein Gerät nicht sehen. Ich möchte betonen, dass ich hier lediglich aus journalistischem Antrieb seine Privatsphäre mit Füßen, immerhin meinen, trete. Und ja, das hier ist Reisejournalismus: Man stelle sich vor, jemand läse in 50 Jahren diesen Text: Wäre das nicht eine enorm wertvolle Quelle? „So reisten die Menschen vor 50 Jahren – mit Texten des an Herzinfarkt verstorbenen Autors und zweifachen Nobelpreisträgers Sebastian Flotho“. Ich muss irgendwie dafür sorgen, dass jemand auf diese Texte nach meinem Tod aufmerksam wird. Gerne auch schon vor meinem Tod.

Zu seiner „Apple Watch“ fällt mir googelnd gerade noch etwas ein: Sie ist weitaus günstiger als die Uhr, die ich gerade trage. Sitzt neben mir also doch ein abgehalfteter Lagerarbeiter? Ich möchte doch hoffen, dass man gewöhnliche Lagerarbeiter nicht in einen ICE lässt!

Es wird mal wieder Zeit zu schreiben, was ich unter einer der schönsten Form des Humors verstehe, da sich der Leserkreis gerade in den zurückliegenden Tagen vergrößert hat, sieht man mal von den acht Lesern ab, die sich aufgrund meines Todes, der sich als miese Ente herausgestellt hatte, zurückgezogen haben. Die TV-Serie „Pastewka“, die einstweilen zur streaming-Serie wird, basiert genau darauf, was „Fawlty Towers“, aber auch „Frasier“ in optimierter Form gelingt: Das Herstellen einer großen Fallhöhe durch maßlose Selbstüberschätzung der Hauptfigut mit unweigerlichem Absturz. Vor dem Fall kommender Hochmut bringt die Menschen immer zum Lachen, wobei eher der Fall Anlass zur Freude bereitet als der Hochmut. Kurz gesagt: Pasteweka, die Serienfigur, hält sich für den Größten, ist aber ein empathieloses Arschloch, das nur die eigenen Interessen befriedigt und dabei immer wieder auf die Fresse fällt und noch versucht, Haltung und Fassade aufrechtzuerhalten, was natürlich nach hinten losgeht. John Cleese ist ein Meister genau dieser Art von Humor. Und wer das verstanden hat, kann auch obige Lagerarbeiter-Szene richtig einordnen. Wir müssen uns nun eben gedulden, bis dessen Urheber – ich – fällt. Ich empfehle in diesem Zuge in diesem Zug sitzend im Zuge dessen den sofortigen Erwerb der Serie „Fawlty Towers“. Ich würde behaupten, es wurde nie wieder etwas gedreht, das witziger ist. Humor ist Geschmackssache, denkt vielleicht mancheiner nun, doch ich widerspreche vehement. Humor ist nicht Geschmackssache, denn wo kämen wir hin, jeder könnte sich aussuchen, was er witzig findet?! Humor folgt klaren Gesetzmäßigkeiten; manche Dinge funktionieren immer. Über diese Thematik könnte ich über Stunden referieren …

Je voller ein Zug ist, desto länger dauert es, bis der Kaffee-Handlanger bei mir vorbeikommt. Da ich in Wagen 21 sitze, kann das dauern, startet er doch stets von Waggon 25 aus, wo sich immer eines von den beiden Bord-Bistren befindet. Es gelüstet mich nach Kaffee, was auch Auswirkungen für meinen am Gang sitzenden Sitznachbarn haben wird. Ich werde mindestens einmal schiffen gehen müssen, wozu er wird aufstehen müssen. Darum sitze ich immer ungern am Gang, weil diese Fensterpisser mit schwacher Blase einen ständig um Durchlass bitten.

Schräg vor mir rechter Hand sitzt eine Dame mit Zeitung im so genannten „nordischen Format“, also mit einer großen Zeitung, die man nicht ohne Weiteres auf dem Klo lesen kann, was ich aber dennoch tat, bevor es Handys mit Internetanbindung gab. Eine solch große Zeitung würde ich sehr gerne im Zug lesen, ich denke da an meine „Zeit“ oder die „FAZ“. Doch da spielt kein vernünftig tickender Sitznachbar mit. Eine Zeitung einmal ausgeklappt hat eine Spannweite von etwa sechs Metern. Er müsste also schon sehr tolerant sein, um zu dulden, dass er den „Kunstmarkt“-Teil vor seinem Gesicht hängen hat, während ich – ganz Bildungsbürger – das Feuilleton lese, beispielsweise einen Debattenbeitrag über die sexuelle Belästigung von Frauen am Arbeitsplatz, die mir gar nicht ermöglicht wird, da ich derzeit nicht mit Frauen zusammenarbeite. Aus lauter Verzweiflung habe ich bereits meinen männlichen Kollegen unter den Rock gegriffen und ihnen eine große Karriere in Aussicht gestellt.

In vielen Debattenbeiträgen lese ich, dass der Mann inzwischen völlig verunsicherheit sei. Was geht, was geht nicht?! Welche Rolle darf ein Mann, muss ein Mann überhaupt einnehmen, seit die Frau wählen und nicht mehr in der Ehe vergewaltigt werden darf? Ich selbst habe an sich gar keine Probleme mit der Findung meiner Geschlechterrolle. So schwierig ist es auch gar nicht. Man schläft einfach nur mit Frauen, die das sehr begrüßen und macht Komplimente zu einzelnen Körperteilen oder der Erscheinung im Ganzen nur dann, wenn man sicher weiß, dass sie das nicht anstößig findet. Es wäre toll, man würde die entsprechende Frau auch schon etwas länger kennen, ein entsprechendes Verhältnis zu ihr haben. Nebenbei fiel mir letztens ein, dass ich mal eine Frau kannte, die in fröhlicher Kollegenrunde darüber schwadronierte, bei welchem Kollegen sich der Penis durch die Hose abzeichne. So herum geht es also auch. Aber das ist natürlich kein Argument für den Mann, nach nun sich abzeichnenden Vaginen zu suchen, auch wenn es Frauen gibt, die ihre Leggings geradezu aufsaugen. Kurzum: Sexuelle Übergriffe sind nicht wünschenswert. Wenn Mann das begriffen hat, reichen ein paar kleine weitere Verhaltensregeln aus, um seine Rolle auszufüllen. Bisschen Tür aufhalten zum Beispiel. Gut, es gibt Frauen, die reagieren dann allergisch, behaupten, sie könnten das selbst auch ganz gut, das Öffnen der Tür. Nur deshalb steht auf vielen Türen „Drücken“ beziehungsweise „Ziehen“. Das ist extra für Frauen so gekennzeichnet. Männer bräuchten solche Schilder nicht. Sie analysieren ganz automatisch die Türangeln, von deren Ausrichtung sie auf die Bewegungsrichtung der Tür schließen. Frauen, die keinen Bock auf Gentlemen haben, finden für mich gar nicht statt.

Eine Stunde der Fahrt liegt hinter mir, drei weitere folgen. Laut Plan. Da kann noch viel passieren. Die Zeitungsleserin hat das Lesen aus den erwähnten technischen Gründen bereits wieder aufgegeben und ihre Brille abgesetzt, um nun in die verschwommene Leere zu starren. Sie ist nicht mein Typ. Schade. Sonst hätte ich sie jetzt drei Stunden anstarren können, um mich an der weiblichen Schönheit zu ergötzen, was vermutlich schon wieder sexistisch ist. Ich ergötze mich auch an schönen Uhren. Nein, das war kein guter Satz. Frauen mit Uhren gleichgesetzt und damit zu Gebrauchsgegenständen gemacht. Wie man es macht! Ich nehme das zurück. Das seppolog ist sexismusfrei! Hier ist alles politisch korrekt! Anecken nicht erwünscht! Jedem hat es rechtgemacht zu werden. Bloß keinen Widerspruch provozieren; das hat man heutzutage nicht mehr gern. In diese Richtung bewegen wir uns tatsächlich seit einigen Jahren und es ööööödet mich an. Diese Empfindlichkeit! Dieses Aalglatte, dieses Weichgewaschene! Leider alles verlogen. Haut doch mal auf die Kacke! Ist doch klar, dass nicht alles jedem gefallen kann. Wir sind doch kein homogener Brei.

Joey: „Er hat ‚homo‘ gesagt!“

Da der Kaffeehandlanger einfach nicht aufkreuzt, bitte ich meinen Nachbarn nun um Durchlass, da ich mir meinen Kaffee selbst holen werde. Ich bin Selbstabholer. Völlig unter meiner Würde.


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