Tumulte in der Ruinenstadt Düsseldorf am gestrigen Abend. Nicht ungewöhnlich, möchte man meinen, gerade in der Wohngegend meiner Mitbewohnerin und mir, wo regelmäßig die „Givebox“ am Goetheplatz in Flammen steht, nachdem vorher noch ein Drogendealer reingekackt hat. Polizeieinsätze bei uns in der Straße sind caine Seltenheit, oft genug verkurzweilen sie uns die Abende am Fensterbrett.

Doch was sich gestern zutrug, war dann doch mal was anderes. Um es kurz zu machen: Unser Stadtteil Düsseldorf-Oberbilk ist nun Sperrzone, abgeriegelt durch das Militär, dessen inländischer Einsatz vom Grundgesetz nur dann gedeckt ist, wenn eben der Notstand ausgebrochen ist. Und ohne Zweifel: Das ist er vollkommen zurecht. Wenn sich denn der Verdacht bestätigen sollte, doch unsere Regierung, derzeit etwas vakant, hat allen Grund, cain Risiko einzugehen. Nicht bei einem solchen Verdacht.

Wir sitzen also fest. Die Wohnung dürfen wir zwar noch verlassen, doch die Grenze zum nächsten Stadtteil, Friedrichstadt, nicht überschreiten, was auch umgekehrt gilt. So darf mein früherer Kollege Archobald, in Friedrichstadt zuhause, auch nicht mehr nach Oberbilk. Ich dürfte nun also nicht, wie vor einigen Monaten, Archobald beim Zusammenbauen seines Kleiderschrankes zur Hilfe kommen. Würde ich auch nicht mehr tun, denn Archobald trägt die Schuld am Düsseldorfer Ausnahmezustand. Denn er hat jenen grauenhaften Verdacht den Behörden gemeldet. Den Seuchenschutzbehörden, die den Ausbruch einer Pandemie fürchten. Um Düsseldorf, so sehe ich es, wäre es nicht schade, doch würde die Pandemie – das macht eine solche aus – nicht an der Stadtgrenze haltmachen. Das Ganze ist also mitnichten lustig und jedem, der die Live-Berichterstattung auf den so genannten „Nachrichtensendern“ „NTV“, seit kurzem bar des Bindestriches, und „N24“, bald schlicht „Welt“, verfolgt, ist der Ernst der Lage klar. Denn wir, die in Oberbilk Eingeschlossenen, fast 30.000 Menschen an der Zahl, stehen unter dem Verdacht, Träger einer schlimmen Seuche zu sein. Schöne Scheiße. Und das zu Weihnachten. Prost Mahlzeit.

Alles begann damit, dass Archobald die Vermutung gestreut hat, ich sei krank. Ich! Ausgerechnet ich stehe bei diesem Seuchen-GAU im Mittelpunkt! Dabei ist mir beim Blick in den Spiegel nichts aufgefallen. Und außerdem bin ich der Meinung, dass mein Freund Merugin der bessere Kandidat für den Patienten Null gewesen wäre.

Es nahm am frühen Morgen seinen Lauf, inzwischen ist das Gesprächsprotokoll ja zu den Medien durchgesickert, der Leser wird es kennen. Für all jene jedoch, die statt NTV „Zee.One“ gucken und es nicht mitbekommen haben, hier noch mal das Telefonat zwischen Archobald und dem Düsseldorfer Gesundheitsamtes. Für mich jetzt schon klar: Hier sollte ein rechtschaffender Bürger denunziert werden!

Archobald: Hallo, mein Name ist Archobald W. [anonymisiert]. Ich muss leider jemanden melden. Einen Mitbürger.

Gesundheitsamt: Geht es um die Gefährdung der öffentlichen Gesundheit?

A.: Das steht zu befürchten. Es ist freilich nur ein Verdacht.

G.: Um wen geht es?

A.: Der Mann heißt Sebastian Flotho, wohnhaft in Oberbilk. Mondstraße. Am Goetheplatz.

G.: Sie wollen hier also jemanden denunzieren?

A.: So schwer es mir fällt, ja. In diesem Fall wiegt der Schutz der Bevölkerung schwerer. Ich hege bei Herrn Flotho den Verdacht auf Hackfresse.

G.: Oh, ich verstehe. Das geht nach ganz oben. Katastrophenschutz. Sollte sich der Verdacht auf Hackfresse bestätigen, ist Ihnen die Menschheit zu großem Dank verpflichtet.

A.: Um nichts anderes ging es mir.

Das ist zumindest das, was veröffentlicht wurde. Ich kann nur spekulieren, ob da noch mehr war oder nicht; das jedenfalls ist die offizielle Version.

Die Behörden haben schnell reagiert, ist Verdacht auf Hackfresse doch ein oft geprobtes Katastrophenszenario, das in regelmäßigen Abständen unter anderen mit Beteiligung von THW, DRK und Bundeswehr durchgespielt wird.

Gegen Mittag klingelt es zuverlässig an unserer Wohnungstür.

„Wer ist das? Erwartest du jemanden?“, fragt meine Frau in spe, nachdem ich eine Kandidatin für meine Trauzeugin gefunden habe. Sie lag so nahe!

Ich und jemanden erwarten?! Hahahaha. Ich nehme an, dass jetzt eine seltsame Geschichte ihren Lauf nimmt. Wie immer, wenn es hier klingelt. Kannst schon mal den Rechner hochfahren, kann ich gleich direkt verbloggen.“

Ich spähe durch den Türspion und das Herz bleibt mir stehen.

„Du glaubst nicht, wer da im Treppenhaus steht. Ich vermute, einer von uns hat so richtig Scheiße gebaut. Wahrscheinlich ich. Zu viele Steakmesser gekauft oder so.“

„Wer isses denn? Rudine?“

„Großer Gott. Nicht ganz so schlimm. Es ist die Bundeswehr. Ich sehe direkt in einen Gewehrlauf. Hier, guck mal durch!“

„Mach besser auf.“

Ich öffne: „Hallo.“

„Herr Flotho?“

„Kommt darauf an. Worum geht es?“

Der Uniformierte mustert mich: „Ja, könnte wirklich sein“, sagt er zu den anderen Uniformierten, „Herr Flotho, bei Ihnen besteht schwerer Hackfressen-Verdacht. Sie stehen ab diesem Moment unter Quarantäne. Dieser Bezirk wird abgesperrt. Mit wem hatten Sie in den vergangenen Wochen Kontakt?“

„Äh, im Sinne von Geschlechtsverkehr?“

„Nein, generell.“

„Das ist recht übersichtlich bei mir. Ich könnte Ihnen eine Liste anfertigen.“

„Das wäre vielleicht nicht schlecht, da wir dann nicht jeden in Oberbilk erschießen müssen. Um die Treffsicherheit unserer Gewehre ist es schlecht bestellt, wie Sie wissen.“

Als erste setze ich Rudine auf die Liste, auch wenn ich mit ihr schon lange keinen Kontakt hatte. Aber auf diese Weise werde ich sie vielleicht ganz unkompliziert los.

Inzwischen wohnen mehrere Bundeswehrsoldaten bei uns, die auf mich aufpassen. Regelmäßig untersucht mich ein Team von Spezialisten, vermessen mein Gesicht, stellen das Ausmaß der Abweichungen der Symmetrie fest.

Der behandelnde Arzt für Gesichtschirurgie, Doktor Front: „Herr Flotho, das sieht nicht gut aus. Wir müssen auch davon ausgehen, dass Sie nicht wenige Menschen angesteckt haben. Wenn Sie mal eben diesen Spiegel … genau, vor Ihr Gesicht, wenn man das so nennen kann … Also, was wir hier sehen, scheint den Verdacht auf Hackfresse zu bestätigen.“

„Habe ich das Recht auf eine zweite Meinung? Ich meine, das wird ja oftmals empfohlen.“

„Ja, also ich sage ausdrücklich, es ist ja nur ein Verdacht, aber ein dringender. Sehen Sie, hier, unterhalb der Nasenflügel. Diese Einbuchtungen.“

„Meine Mitbewohnerin findet das ganz niedlich!“

„Ich finde es hackfressengleich. Aus medizinischer Sicht natürlich. Und wenn Sie jetzt mal meinem Finger folgen, der diese Senkrechte durch Ihr Gesicht zeichnet … Ich meine, da wird einem doch übel!“

„Das ist aber wenig schmeichelhaft. Bisschen mehr Feingefühl.“

Auch unsere Nachbarn wurden inzwischen untersucht. Und was soll ich sagen?! Bei ausnahmslos allen besteht dringender Hackfressen-Verdacht. Somit ist es nur folgerichtig, dass Düsseldorf-Oberbilk abgeriegelt wurde, bis sich der Verdacht entweder bestätigt oder beunstätigt hat. Auch wenn ich selbst betroffen bin, als Ausgangspunkt der Seuche gar!, habe ich vollstes Verständnis dafür, dass der Staat hier schnell und unbürokratisch eingeschritten ist. Meine Adventszeit ist natürlich jetzt ein wenig versaut, auch wenn ich gerne mit einigen Bundeswehrsoldaten zusammen am Adventskranz den derzeit fünten Advent begehe.


Fotos von meiner Hackfresse finden Sie auf Instagram und Facebook.

Danken möchte ich an dieser Stelle Peter, der diesen Blog seit jeher albern findet, daher auch hier nicht liest, aber immerhin Ideengeber dieser Knallergeschichte war.