Besinnlichzeit. Geben wir uns der weihnachtlichen Stimmung hin und fragen wir uns:

Was ist wichtig?

Ohne Zweifel eine abgedroschene Frage. Dennoch stelle ich sie mir derzeit sehr oft. Doch wann hat man schon mal wirklich die Muße, um sie für sich zu beantworten? Denn es ist keine Frage, die man innerhalb weniger Minuten abarbeiten könnte. Ihre Beantwortung braucht Zeit wie Raum, um zu reifen. Und diese beiden Dinge will ich nun investieren, in diesen Tagen, in dieser besinnlichen Zeit, die ich jedes Jahr aufs Neue mir selbst im Stile eines Autokraten auferlege. (Weihnachtsphobe Menschen können diesen Tab also nun schließen.)

Vor etwa zwei Wochen schrieb ich über den Tod. Ich erntete wie erwartet die vorhersehbare Schelte, wie sie im Netz üblich ist, diese reflexhafte Erregung, die versucht, die nobelsten gesellschaftlichen Normen nicht aus dem Blick zu verlieren und sie für allgemeingültig zu halten. Im Laufe weiterer Tage bekam ich bis zum heutigen Tag viele E-Mails, denen Zuspruch angehängt war. Und dann fiel mir etwas auf, das ich eigentlich für mich behalten wollte, weil es ja doch wieder sehr provokant ist: „Geschmacklos“ empfanden jenen Artikel fast ausnahmslos Menschen, die derzeit dem Leben näher als dem Tod sind. Zuspruch hingegen erfuhr ich in großer Zahl von solchen Mitmenschen, die jetzt gerade, auch an diesem Abend, auch jetzt, kurz vor den eigentlich schönsten Tagen des Jahres, um ihr Leben kämpfen, mitunter den Kampf bereits aufgeben mussten. Das ließ ich mir auf der Zunge zergehen: Da ernte ich Empörung von gesunden Menschen, aber Zustimmung von wirklich Betroffenen. Das wiederum empörte mich: Wie kann es jemand wagen, meinen Umgang mit dem eigenen Tod zu kritisieren?! Was für eine Arroganz! Man muss ihn nicht gut finden, mir aber zugestehen.

In der Folge jenes Artikels verlor ich etwa acht Abonnenten, von denen einige natürlich mir noch mitteilen mussten, dass sie hier nicht mehr weiterlesen. Anstatt einfach zu gehen, was im Übrigen völlig in Ordnung ist und mich nicht erschüttert. Ich reibe es ihm noch unter die Nase! Mit Verlaub, es interessiert mich nicht. Ich rechnete sogar damit, mehrere hundert follower zu verlieren. Denn ich schreibe hier nun wirklich nicht massentauglich oder um es irgendwem rechtzumachen! Ich schreibe, was ich will. Und das ist befreiend, denn in welchen Lebensbereichen können wir tun und lassen, was wir wollen? Restriktionen erfahren wir doch überall, meist auch zurecht.

Und letztlich gewann ich mehr als 20 Abonnenten im selben Atemzug dazu. Obacht! Es geht mir nicht um Zahlen und Aufmerksamkeit, wie mir unterstellt wurde, was übrigens eine ziemlich billige Unterstellung jemandem gegenüber ist, der öffentlich schreibt und beruflich seine Fresse in die Kamera hält. Und davon abgesehen habe ich es auch gar nicht mehr nötig. Aber es war eben ein Zeichen von Zustimmung.

Eine E-Mail hat mich besonders bewegt, die ich hier anonymisiert wiedergeben möchte:

Lieber Seppo,

[…]

Klaus liegt schon seit dem xx.xx.2017 in der Klinik. Es geht ihm nicht gut. Ich finde deinen Artikel gelungen, weil er so viele Überlegungen aufgreift, die einem wirklich durch den Kopf schwirren, wenn man Angst davor hat, dass man bald sterben muss. Genauso, wie du es geschrieben hast, würde es Klaus gehen bzw. geht es ihm. Die Unfähigkeit sich in Sprache auszudrücken ist für ihn viel schlimmer, als der Verlust seiner Gehfähigkeit. Du hörst dich gerne reden, genauso geht es Klaus und so ist das wahrscheinlich bei jedem Journalisten.

Ich hätte mir gewünscht, er hätte mal seinen Nachruf geschrieben, hätte sich mal Gedanken gemacht und diese in Worte verfasst. ich beschäftige mich zwangsläufig mit dem Tod, aber ich weiß, dass sich alle von diesem Thema abwenden. Selbst die lieben Nachbarn meiden mich, um nicht fragen zu müssen, wie es Klaus geht. Ich komme mir schon vor, als sei es ansteckend . Es ist leider ein tabu Thema in der Gesellschaft, weil alle davor Angst haben. Irgendwie ist das wie bei einem kleinen Kind, dass sich verstecken möchte. Es hält sich die Augen zu und denkt, es ist versteckt. Wenn keiner über den Tod redet, ist er auch nicht gegenwärtig.

Ich finde den Artikle wirklich großartig. Ich für meinen Teil habe selbst meine Beerdigung und meine Todesanzeige genau geplant, weil ich genau weiß, dass es einen schnell ereilen kann, als einem lieb ist. Genau wie du schreibst, ob es durch Krankheit oder Unachtsamkeit im Straßenverkehr geschieht. Es kann jeden jederzeit betreffen.

Leider auch in der Weihnachtszeit, was ich wirklich unpassend fände, zumal ich auch in diesem Jahr wieder rund 60 Euro in eine fürstliche Tanne investieren werde, die bitte vor mir oder meinen Lieben jede Nadel verlieren soll. Nicht auszudenken, ich stellte mir wieder meinen Zwei-Meter-Baum ins Wohnzimmer, das an sich dafür viel zu klein ist, und ich geriete dann in den Tod!

Wegen einigen Geraffels in meinem derzeitigen Leben komme ich kaum dazu, mir darüber im Klaren zu werden, was eigentlich relevant ist. Für mich persönlich. Denn jeder hat ja so seine eigenen Prioritäten. Der eine will die Welt sehen, der andere sammelt Murmeln, wieder ein anderer katalogisiert Kataloge, was übrigens echt mal überfällig ist angesichts der Masse an Katalogen, die es in dieser Welt geben muss. Ich sammle zwar caine Murmeln, gehöre aber auch nicht zur ersten Gruppe, die den wie ich finde überheblichen Anspruch hat, alles mal sehen zu müssen. Ich bin genügsam, mir reicht es, die Welt sieht mich. Gut, der Zug ist abgefahren, das betrachte ich aber relativ nüchtern und gelassen und viel unbekümmerter als mir manch einer zugestehen will. Vieles, was ich habe, brauche ich gar nicht. Ich bin gnadenlos bescheiden. Mir genügen einige wenige Grundwerte. Denn etwas ganz anderes ist viel wichtiger:

demütige Zufriedenheit.

Ein Herdentier bin ich weißgott nicht, ich meide Herden. Doch einige wenige Menschen, Mitstreiter und Gefährten brauche sogar ich. Es genügt mir jedoch eine der beiden Hände, um diese abzuzählen. Und da es diese Menschen in meinem Umfeld gibt, kann ich bereits zufrieden sein. Besonders einer – von meiner Mitbewohnerin abgesehen, die ich wohl nicht extra erwähnen muss, was ich aber nun getan habe – hat schon einige Achterbahnfahrten meinerseits praktisch live miterleben dürfen; ein inzwischen sehr wichtiger Mensch auf der Habenseite in Sachen Zufriedenheit, der sich durch meine Kalamitäten, die immer auch eine tragikomische Seite haben, nebenbei ganz gut unterhalten fühlt. Netflix ist nichts dagegen.

Völlig klar ein anderer Aspekt: Gesundheit. Wäre gut, wenn vorhanden. Haben wir leider kaum Einfluss drauf. Ich vermeide gewisse Risiken, springe von nichts runter, klettere nirgendwo hoch und verzichte weitestgehend auf medizinische Versuche. Ich bin leidenschaftlich risikoavers. Ich feiere mich sogar dafür. Ich feiere mich an sich für alles. Ich feiere mich sogar für das im Klo versenkte Handy, was ich aber gleichzeitig sehr bedaure. Der Rest aber liegt in der Hand des Schicksals. Wer weiß, was bereits in mir schlummert und mir einiges an Unbehagen bescheren wird, sodass Unbekümmertheit jetzt schon fehl am Platz ist? Jetzt schon wertschätzen, was da ist, nicht erst, wenn es zu spät ist! Daran versuche ich mich jeden Tag zu erinnern. Jetzt schon Unannehmlichkeiten relativieren, nicht erst, wenn viel größere in mein Leben treten! Und dabei gleichzeitig das Haben schätzen, den Saldo als mindestens als ausgeglichen betrachten. Und wenn er das nicht ist: dafür Sorge tragen!

Denn es ist nicht nur das Schicksal, das Universum oder irgendein Gott, an dem alles hängt. Viel mehr, als ich mir immer zugestehen wollte, hängt an uns selbst. An mir. Ich will ja nicht für Euch sprechen, Ihr werdet wie ich ebenfalls einen gangbaren Weg gefunden haben.

Ich erlaube mir, bald alles auf eine Karte zu setzen. Ein Scheitern ist rational möglich, ziehe ich aber nicht in Betracht, da ich von einem enormen Optimismus getrieben bin, der allerdings auch – achtung! – alternativlos für mich ist. Ich bin 37 oder 38 Jahre alt und ich stehe an einem Punkt, an dem es vorangehen muss. Ich nehme einfach mal an, dass jeder von Euch mal diesen Moment erreicht und womöglich etwas grundlegend geändert hat. Ich bin zweifellos zu jung, um schon sagen zu können, dass ich (wo auch immer) angekommen bin. Ich war angekommen, doch nur zum Verweilen, und so ist es nun Cait weiterzugehen. Und geheimniskrämerisch kann ich sagen, dass manches schneller kommt, als ich es geplant hatte. Und das ist gut, denn so hat Phlegma, ein Fluch, caine Chance mehr.

2018 erklimme ich entweder den Olymp meines Lebens – oder werde Murmelsammler. Wie es auch kommen mag, das seppolog wird es begleiten, so lange ich es in meiner Hand habe. Und das habe ich. Haben wir alle. Naja, fast. So ehrlich müssen wir sein.


Gegendarstellung: Die Supermarktkette „Netto“ bietet anders als im Artikel „Der fünfte Advent“ im Weblog „Seppolog“ behauptet Wachskerzen in verschiedenen Farben an.

Das seppolog ist laut § 56 RfStV dazu verpflichtet, rechtmäßig erwirkte Gegendarstellungen abzubilden.