Die globale Ebene

Das passt zu mir, so kenne ich mich. Ich muss also nicht den Überraschten spielen. Tue ich ja auch nicht. Ich habe keinen Grund zu zweifeln. Der Brief ist echt. Immerhin habe ich mir selbst in dem Brief glaubhaft versichert, er sei von mir. An mich. Ist auch caine Kunst, sich selbst einen Brief zu schreiben. Man kann unter Umgehung der Post sich auch das Porto sparen, ja sogar den Briefumschlag. Im Grunde könnte man sich sogar den ganzen Brief schenken. Fazit: Nichts macht weniger Umstände, als sich selbst einen Brief zu schreiben. Gut, es sei denn, man möchte den Zustellungszeitpunkt exakt terminieren. Wobei, es genügte dann ja, den Brief einfach irgendwo zu deponieren, um ihn dann zum Wunschtermin zu öffnen. Darf man halt nur nicht vergessen. In Richtung Zukunft also ist das Briefeschreiben gar kein Problem, ja, im Grunde sogar die gängige Variante, an sich sogar die einzig mögliche.

Der Brief allerdings, der heute Morgen auf meinem Schreibtisch lag – und nicht etwa im Briefkasten -, wurde geschrieben am 15. August 2067. Also wird vielmehr. Unverkennbar an der Handschrift meines 87-jährigen Ichs. Ich werde mindestens 87! Toll! Reicht mir im Grunde schon!

Es ist sieben Uhr, als ich ins Wohnzimmer gehe, um das sechste Adventstürchen zu öffnen, das bei uns eher ein Säcklein ist. Ich verrate nicht, was drin ist, da es ein unzulässiger Eingriff in die Privatsphäre meiner Mitbewohnerin wäre, die meinen Kalender befüllt hat. Unvergessen ist die „Reisemuschi“, die ich mal im neunten Türchen hatte. Direkt zerfetzt, so kennt man mich …

Voller Freude ob des kleinen Geschenkes setze ich mich entsprechend trunken, freudetrunken also, an meinen Schreibtisch, wo mir sofort jener Briefumschlag auffällt, dessen Inhalt an mich adressiert ist.

„Hier ist ein Brief für mich! Ist der von dir? Gehört der zum Adventssäckchen?“, rufe ich meiner Mitbewohnerin zu, die ihrerseits in der Küche den ihren Adventskalender um ein Säckchen erleichtert.

„Bei mir ist gar nichts im Adventskalender!“, ruft sie zurück.

„Das ist keine Antwort auf meine Frage!“

Verdammt, ich habe ihren Kalender ja nur bis zum fünften befüllt. Ihr enttäuschtes Gesicht möchte ich mir nun ungern antun und schließe die Wohnzimmertür, um mich dem geheimnisvollen Umschlag zu widmen.

So geht kein Spannungsbogen, Seppo. Der Leser weiß doch bereits, von wem der Brief ist!

Weihnachten ist die Cait der Besinnlichcait, ich belästige niemanden mit einem Spannungsbogen. Ja, mein Gott, der Brief ist von meinem künftigen Ich. Und offenbar nutzt man im Jahr 2067 noch Briefumschläge.

„Moinsen, Seppo!“

So rede ich mich an in diesem Brief und ja, so würde ich mich in der Tat anreden, würde ich mir heute einen Brief ins Jahr 1998 oder so schicken. Hier ist mir also sofort klar, dass ich tatsächlich der Absender bin, zumal mir sonst niemand mit Herzen versehene Briefe schreibt.

„Sicher wunderst Du Dich über diesen Brief!“

Aha! Nächstes Indiz! Anrede großgeschrieben. Macht kaum noch einer, weil viele inzwischen verdummt. Und es zeugt von Respekt. Da ich mich selbst respektiere, ist noch klarer als ohnehin schon: Der Brief ist von mir.

„Ich schreibe diesen Brief am 15. August 2067 und ich weiß, dass du dieses Datum einordnen kannst. Übrigens, da Du ja jetzt weißt, dass Du in 50 Jahren diesen Brief schreiben wirst, darfst Du nicht vergessen, ihn in 50 Jahren wirklich zu schreiben! Und komme bloß nicht auf die Idee, ihn vorher zu schreiben! Denn schon im Jahr 2025 wirst Du wissen, wie man Briefe in die Vergangenheit schickt! Lustige Geschichte an der Stelle: 2026 schreibst Du Dir selbst einen Brief ins Jahr 1982, wo Du diesen als Zweijähriger gefunden hast, ihn aber nicht einordnen konntest.“

Achja, ich erinnere mich. Ich war zwei, als ich einmal ein seltsames Stück Papier gefunden hatte. So etwas vergisst man nicht.

Der Brief ist von mir. Und ich weiß nun, dass ich erfolgreich sein werde! Denn bereits seit rund zehn Jahren forsche ich an einer Möglichkeit, Briefe in die Vergangenheit zu schicken. Schon in sieben Jahren werde ich also den Durchbruch geschafft haben! Auch, wenn ich die Forschung nun einstellte?!

„Stelle bitte Deine entsprechende Forschung nicht ein, da ich Dir andernfalls diesen Brief nicht werde schreiben können, um Dir die Fragen zu beantworten, die dich schon 2017 interessierten. Oder interessieren.“

Jetzt wird es spannend! Wie heute schon rede ich auch in Zukunft offenbar gerne um den heißen Brei herum. Schade, ich hatte gehofft, diese Eigenschaft einmal ablegen zu können.

„Entschuldige bitte, wenn ich um den heißen Brei herumreden sollte. Das hab ich früher schon immer getan, wie Du ja weißt. Nun, besonders brennend interessiert dich ja die Frage, wie sich die politischen Verhältnisse verändern werden. Der ‚Unangenehme Krieg‘ im Jahr 2029 hat die europäische Landkarte leicht modifiziert. Die neue Putin-Union hat sich das Baltikum zurückgeholt und im Großen Blitzkrieg am Bosporus sich das Erdogan-Reich einverleibt. Der große Friedensvertrag zwischen Putin und Erdogan war lediglich ein russischer Bluff. Was jeder gewusst hatte. Auch die USA, die sich nach dem Bürgerkrieg wieder gefangen hatten. Die Wiedereinführung der Sklaverei schmeckte nicht jedem in Europa, doch nahm man diese nach dem Krieg zwischen China und den USA in Kauf, um endlich Ruhe zu haben. Ich weiß jetzt gar nicht, ob es zu Deiner Zeit Nordkorea noch gab oder der siebentägige Atomkrieg schon hinter dir liegt. Du musst mir das nachsehen, das Alter hinterlässt selbst bei Dir, mir, seine Spuren.“

Okay, das sind alles keine überraschenden Dinge, wichtig ist, offenbar überlebe ich mehrere Atom- und Blitzkriege. Global wird sich also einiges bewegen. Aber Sklaverei?! Steckt Trump dahinter? In jenem Brief erfahre ich es nicht.

„Kommen wir zu Germany. Im Zuge der Abschaffung der Deutschen Sprache im Jahr 2056 wurde Deutschland weiter anglisiert, was die wenigsten gemerkt haben, da ja jeder Idiot mitgemacht hat. Du hast es ja schon immer gesagt. Englischklingende Vornamen übrigens sind inzwischen völlig normal, auch wenn die ganze Welt inzwischen über Germany lacht. Die Amtszeiten Bernd (!) Höckess als erst Bundes-, später dann Neureichskanzlers konnten die Verdenglischung auch nicht mehr aufhalten, allerdings schreibt sich die AfG auf die Fahne, dass Germany ‚endlich reindeutsche Zone‘ sei. 2058 begann die Regierung damit, jeden in ihren Augen Nicht-Deutschen aus dem Land zu transportieren. Dazu hat sie sogar das Schienennetz der Deutschen Bahn, inzwischen wieder ‚Reichsbahn‘ modernisiert. Leider trug sich in den Jahren vorher genau das zu, was Du schon 2017 befürchtet hast. Angela Merkel hat sich leider nicht in eine achte Amtszeit retten können. Und nachdem Bundeskanzler Christian Lindner von der ‚Liste Lindner‘, bis 2027 FDP, krachend über die Flüchtlingsfrage gestürzt ist, kam die AfG an die Macht. Wie vor mehr als hundert Jahren die Nazis: grölend und brutal auf allen Ebenen, während die Anständigen, wie es leider ihre Art ist, schwiegen. Geschichte hat sich hier tatsächlich nahezu eins zu eins wiederholt. Freie Presse gibt es nicht mehr. Es gibt einen von der Partei betriebenen Fernsehsender sowie ein parteieigenes Streaming-Portal, das nur innerhalb des abgeschotteten deutschen Internets, dem ‚Deutschnetz‘, abrufbar ist. Das Öffentlich-Rechtliche Fernsehen wurde von der AfG als zu staatsnah abgeschafft und durch eben jenes Staatsfernsehen ersetzt. Das Programm strotzt vor deutschnationaler Hetze, die Einschaltquote ist – das wird dich nicht überraschen – gigantisch hoch. Zumal private Konkurrenz nicht mehr zugelassen ist. Gefängnisse gibt es auch noch. Sie sind randvoll – trotz der Einführung der Todesstrafe -, meist sind Oppositionelle wie Journalisten die Insassen. Um die Gefängnisse zu entlasten, wird ernsthaft über die Eröffnung von ‚Freizeitlagern‘ diskutiert, die man in der Presse keinesfalls ‚Arbeits’lager nennen sollte, da das einem Freifahrtsschein in diese gleichkäme.

Wie es zu Deiner Zeit bereits in China eingeführt wurde, trägt jeder Bürger eine ID, eine ‚Deutsch-Zugehörigkeitsnummer‘ in Form eines Nanochips hinter dem Augapfel, der zudem mit einer kleinen Kamera versehen ist, die dem Deutschen bereits kurz nach der Geburt implantiert wird. Alles, was ein German sieht, wird auf einem Server der Partei gespeichert und stichprobenartig gesichtet. So etwas wie ein Spitzelapparat wie einst bei der Stasi ist nicht mehr notwendig, jeder ist nun ein Spitzel. Achja, ganz lustig, ‚Guten Morgen‘ heißt heute ‚Heil Höcke‘, obwohl der vor Jahren schon einem Attentat durch Karl Lagerfeld, der übrigens noch immer lebt!, zum Opfer fiel. Lagerfeld entwirft derzeigt chice Gefängniskleidung, kommt aber in 20 Jahren schon wieder frei. Spätestens dann wird er Juror bei ‚Germany’s next Topmodel‘, das übrigens tatsächlich noch läuft. Und Heidi Klum sieht noch so aus wie mit 70! Hut ab!“

Nichts also, das mich wirklich überrascht. Die Frage ist allerdings, wie ich es geschafft habe, eine AfG-Diktatur zu überleben. Wurde ich etwa zum Mitläufer? Das wäre ziemlich peinlich. Wir erfahren es im zweiten Teil:

Die persönliche Ebene.