„Grundgütiger!“, höre ich mich beim Aufwachen rufen. Aufrecht finde ich mich im Bett sitzend wieder umgeben von einer Hülle aus Gleichgültigkeit, wie ich sie noch nie erlebt habe.

Neben mir bewegt sich etwas. Wird wohl meine Mitbewohnerin sein, alles andere – jeder andere – wäre eine Überraschung.

„Was?!“, flüstert sie mir gequält zu.

„Mir ist gerade etwas klargeworden.“

„Jetzt?! Um diese Zeit?! Wie viel Uhr ist es überhaupt? Es ist noch dunkel.“

„Es ist … Moment … extra einen Radiowecker mit großen Ziffern gekauft und jetzt bin ich schlagartig noch kurzsichtiger geworden … fünf Uhr.“

„Dann lass uns noch ein Stündchen schlafen.“

„Aber meine Erkenntnis!“

„Die hat Zeit. Oder schreib’s auf. Du hast so unerträglich viele Erkenntnisse zur Zeit, da kann diese eine mal warten.“

Also gut, meine Mitbewohnerin ist offenbar noch nicht empfänglich für meine bahnbrechende Erkenntnis, sodass ich mich ebenfalls wieder umdrehe, um noch einmal in den Schlaf zu finden. Offenbar ist mein Erkenntnisreichtum nun zu einem Problem geworden. Andere Menschen warten jahrzehntelang auf irgendwelche Erkenntnisse, manche sterben sogar erkenntnislos, und da soll es ein Problem sein, dass ich derzeit täglich mehrere Erkenntnisse habe?!

„Sind meine Erkenntnisse jetzt ein Problem zwischen uns?“

„Nein, nein. Oder doch, ja. Die Fülle! Und ihr Gehalt. Nicht jede Erkenntnis ist auch Erkenntnisgewinn! Oft erlebe ich bei dir Erkenntnisverlust durch Erkenntnis. Und jetzt schlaf.“

Unter stillem Protest schließe ich also meine Augen und suche den Schlaf.

Doch es will nicht gelingen. Endloses Schlafgestöber die Folge. Ich werde ungeduldig und beschließe, den Wecker einfach vorzustellen, damit meine Mitbewohnerin um Punkt sechs, wenn er klingelt, empfänglich für meine sensationelle Erkenntnis ist, die meine Welt so dermaßen verändern wird.

Möglichst lautlos rolle ich mich aus dem Bett hinaus, wie ich es beim Militär gelernt habe. Krache mit meinen Rippen auf die am Bett kauernde Wasserflasche und jaule auf – jedoch nur innerlich, wie ich es beim Militär gelernt habe. Mit angebrochener Rippe robbe ich um das Bettende herum, um auf die Seite zu gelangen, wo meine Mitbewohnerin schläft. Mein Ziel ist ihr Handy auf ihrem Nachttisch, denn auch dessen Uhrzeit will ich vorstellen.

„Darf ich vorstellen?“, frage ich mich innerlich und gratuliere mir zu diesem gelungenen Scherz, den ich bei der nächsten Silvesterparty von mir gebe, wenn ich mich zur Toilette begebe. Was ich allein letztes Silvester rausgehauen habe – Wahnsinn! Und immer dieses Schweigen der anderen Gäste, diese Totenstille als unmittelbare Folge meiner schwierigen Pointen. Und doch fand ich selbst sie so gut, dass ich immer noch darüber lachen muss …

Ich robbe also zum Handy meiner Mitbewohnerin, die plötzlich etwas von sich gibt:

„Was zur Hölle tust du da?!“

„Oh, du schläfst nicht? Welch peinliche Überraschung.“

„Wie soll ich schlafen?! Bei diesem Lärm?!“

„Lärm? Lautlos habe ich mich aus dem Bett gerollt! Wie ich es beim Militär gelernt habe! Laut- und klaglos nahm ich es hin, wie sich die Sodastream-Flasche in meine Seite bohrte! Du kannst ja nur deshalb nicht schlafen, weil dich eben doch meine Erkenntnis interessiert!“

Sie richtet sich im Bett auf und öffnet das Licht: „Also gut, dann erzähl.“

„Dürfte ich dazu wieder auf meine Bettseite kommen?“

„Was wolltest du denn überhaupt hier?!“

„Wunderte mich schon, dass du nicht nachgehakt hast. Ich bin ja eher selten hier neben dem Bett auf deiner Seite. Ist ja schon ungewöhnlich. Ich wollte lediglich dein Handy manipulieren, wie ich es beim Militär gelernt habe.“

Ich rutsche über sie hinweg auf meine Seite. In Filmen sähe so etwas sehr galant aus. Im wahren Leben aber bleibe ich mit meinem Fuß irgendwie in ihrer Decke hänge, sodass ich im Kriechen stolpere und dabei mit meinem rechten Auge ungelenk auf ihren Hüftknochen pralle, der sich wie eine Sodastream-Flasche in mein Auge bohrt.

„Arrrg“, sage ich, um dem Schmerz Ausdruck zu verleihen.

„Was tust du da unten?! Nicht jetzt!“

„Ich bin unglücklich gestolpert. Mein Fuß hängt fest. Ist eigentlich jemals schon jemand glücklich gestolpert?!“

Im selben Moment gelingt mir des Fußes Befreiung, die jedoch unerwartet ruckartig erfolgt, dass ich einen Satz nach vorne mache und mit meinem Ellbogen im Gesicht meiner Mitbewohnerin lande.

„Geht’s noch?!“

„Was ist denn los?“

„Du liegst mit deinem Ellbogen in meinem Gesicht!“

„Ja, achso. Wunderte mich auch schon über diesen Widerstand. Entschuldige. Es ist nur so, dass sich mein Fuß unerwartet heftig losreißen konnte, wodurch mein Rest etwas übereifrig, fast schon albern, nach vorne fiel. Aber nun bin ich ja da. Also“, setze ich die Wiedergabe meiner Erkenntnis an, „Mir wurde eben im Halbschlaf völlig klar, dass es überhaupt keine Rolle spielt, ob ich lebe oder nicht.“

„Ja, so weit, so klar.“

„Wie, so klar?! Entschuldige mal, aber mir war das nicht so klar! Ich meine, dass es dem Lauf der Dinge völlig egal ist, wenn ich heute noch ablebe.“

„Für den Lauf der Dinge gibt es wirklich Schlimmeres. Hast du etwa tatsächlich geglaubt, der Laden Welt liefe ohne dich nicht?!“, fragt mich meine Mitbewohnerin bass erstaunt und dabei sehr nüchtern und abgeklärt.

„Ja. Also wenn du so direkt fragst: Ja!“

Mein Wecker klingelt.

„Ist es schon sechs?!“, fragt meine Mitbewohnerin.

„Nein, ich hab ihn vorgestellt, wie ich es beim Militär gelernt habe. Du kannst noch weiterschlafen. Dir scheint es ja egal zu sein, ob ich nun bin oder nicht.“

„Das habe ich nicht gesagt! Mir ist es nicht egal. Aber dem Gefüge insgesamt.“

„Siehst du. Das meine ich ja. Das ist meine Erkenntnis.“

„Und das wusstest du vorher nicht? Was hast du denn bis eben geglaubt, wie wichtig du bist?!“

„Nun, ich hielt mich für schlicht für ein unersetzliches Zahnrad im Gefüge der Gefügten. Aber gut, wenn das nicht neu für dich ist, dann frage ich dich nach dem Umkehrschluss! Denn der hat es in sich!“

„Häh?“

„Siehst du! Wenn mein Ableben so irrelevant ist, dann stört es ja wohl auch nicht groß, wenn ich vom Ableben absehe, oder?“


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