Ich gebe ja zu, „Herrenklub“ hört sich irgendwie seltsam an und ich kann das verstehen, da dem Begriff etwas mitschwingt. Etwas Schlüpfriges womöglich, gar Vulgäres hört derjenige, der nicht an das denkt, was Herrenklub eben meint. Wir waren uns dessen bewusst, als wir unseren Münsteraner Klub damals gegründet hatten, sahen es aber auch nicht als unsere Aufgabe, gegen diese Klischees vorzugehen. Unumstritten damals war lediglich, dass wir mit nicht einmal 30 Jahren mitnichten „Herren“ waren, die sich da anschickten, einen zumindest phänotypisch elitären Klub zu gründen, über den absolutes Stillschweigen zu herrschen hatte, das ich allerdings hier bereits gebrochen habe. Doch vielleicht trägt es dazu bei, mit einigen Ressentiments aufzuräumen, obgleich ich eigentlich darüber stehe.

Als Zwangs- und Wahldüsseldorfer ist es mir nur noch selten vergönnt, der „Sonntagsrunde“ des Klubs beizuwohnen, doch vor zwei oder drei Wochen war es mal wieder so weit. Und während ich den Sonntag somit im Klubsaal verbrachte, ging meine Mitbewohnerin mit einer Freundin frühstücken. Denn im Herrenklub haben Frauen freilich nichts zu suchen, sodass ich mich in einem Hort der Freiheit, Rationalität und Unbeschwertheit wiederfand, auch wenn ich absoluter Freund weiblicher Gesellschaft bin. Aber es gibt eben Tätigkeiten, da ist das weibliche Geschöpf ein Stolperstein.

Wie oft versuche ich, in Gegenwart meiner Mitbewohnerin beispielsweise etwas zu lesen. Sitze dann da, vertieft in einen Artikel über, sagen wir mal, das Zustandekommen des Koalitionsvertrages, dessen positive Seiten in der Öffentlichkeit derzeit gar nicht wahrgenommen werden, da anderes sich in den Vordergrund spielt, über das sich viel besser schimpfen lässt, da grätscht meine Mitbewoherin in meine Lektüre mit:

„Der neue ‚Rewe‘ ist scheiße.“

„Hm? Was? Ja, das ist er. Ich gehe auch lieber in den Rewe.“

„Aber der ist doch scheiße! Hörst du mir nicht zu?!“

„Was? Der Rewe? Ja, der ist super!“

„Musst du immerzu lesen?!“

„Nein, aber ich will.“

Ich lese weiter. Frau Merkel sei während der Verhandlungen in einer rosafarbenen Wolldecke eingehüllt durch die Flure gelaufen. Seehofer drohte zwischendurch mit Abbruch der Verhandlungen. Ach, der Seehofer. Droht immer.

„Rosenmontag gehe ich als Boxerin“, unterbricht mich wieder meine Mitbewohnerin.

„Hmmm.“

„Das blaue Auge habe ich bereits. Sogar vom Boxen.“

„Aha …“

„Unterbreche ich dich wieder?“

„Geh doch dann in den ‚Netto‘ oder ‚Lidl‘.“

„Ich spreche von meinem Kostüm!“

Das blaue Auge übrigens hat sie wirklich nicht von mir. Aber ich war kurz davor, das zweite anzugleichen.

„Ich versuche zu lesen!“

„Worum geht’s?“

„Groko.“

„Die SPD-Basis wird eh dagegen stimmen.“

„Ja, glaube auch.“

„Du bist doch SPD-Mitglied. Wie stimmst du?“

„Da ich vernunft- und nicht empörungsgesteuert bin, gibt es nur eine Option.“

 

Im Herrenklub wird das genau so gesehen. Nur, dass man mich dort nicht danach fragt, weil es ja nun wirklich klar ist, dass es nur die eine richtige Entscheidung gibt. Und man wird nicht gefragt, während man liest. Das ist ein großes Plus des Klubs, die Ruhe, die dort herrscht, die eine absolute Entspanntheit ermöglicht. Doch damals, damals kam es zum Skandal. So etwas hätte nicht geschenen dürfen, nicht in meinem Herrenklub! Reisen wir also ein, zwei Wochen zurück und in die Stadt, die seltsamerweise in dem Ruf steht, besonders spießig zu sein, obwohl es dort von Studenten aus aller Welt wimmelt. Übrigens die einzige Stadt, in der die AfD weniger als fünf Prozent der Stimmen bekam. Schon mit Kardinal von Galen hatten die Münsteraner einen großen Widerstandskämpfer unter den ihren. Aber Nazis hatten sie freilich auch …

Es ist neun Uhr am Morgen. Die Sonne scheint wie immer in Münster, aber es ist frisch. In angemessener Kleidung nehme ich die Stufen zur Klubvilla am Rande der Münsteraner Promenade. Ich tue so, als wüsste ich nicht ganz genau, dass ich, da selten dort, ein gern gesehener Gast bin. Nahezu unterwürfig grüßt mich manch einer in der gebotenen Klubzurückhaltung, da Reden nicht gerne gesehen ist. Ich übergebe meine Jacke an Raktunol, unseren Empfangsherren, dessen Klarname hier nichts zu suchen hat. Raktunol nickt mir nüchtern zu, aber ich weiß natürlich, dass er angesichts meines Angesichts Schmetterlinge im Bauch fühlen muss. Der Gründer höchstpersönlich lässt sich wieder blicken und schaut nach dem Rechten, denkt er vermutlich.

Das stimmt auch, muss ich zugeben. Darum kündige ich meine seltenen Besuche auch nicht an. Mein erster Blick gilt freilich meinem Sessel. Steht er noch wie beim vergangenen Besuch? Wurde er regelmäßig abgestaubt? Hat ihn womöglich jemand benutzt? Jedes Mitglied hat seinen eigenen Sessel: Fremdsitzen ist ein Grund zum Rauswurf.

„In Bochum hat es geschneit, Seppo?“

Die Frage oder auch Feststellung kommt von Klonthoff, der hier im Blog ebenfalls mit Decknamen auftritt.

„Klonthoff, guten Morgen. Und wie immer: Ich komme aus Düsseldorf angereist, nicht aus Bochum.“

„Vom Schreibtisch des Ruhrgebiets! Alles andere wäre deiner auch unwürdig!“

Klonthoff versucht gerne, mich zu provozieren. Er denkt, ich hielte mich für etwas Besseres. Da ich mich aber für etwas Besseres halte, lasse ich ihn ins Leere laufen. Aber er hat Recht: Ich sähe mich eher am Schreibtisch als unter Tage. Und trotzdem, seit Jahren schon versuche ich, Klonthoff aus dem Klub zu werfen, da seine arrogante Art die meine übertrifft, was ich mir an sich nicht bieten lassen kann.

Doch etwas ganz anderes bringt mich aus der Fassung.

„Sag mal, Klonthoff, welche Zeitung liest du da?“

Klonthoff wird rot. Und das bestätigt meine schlimmsten Befürchtungen. Es ist das eine, dass Klonthoff meint, hier sonntags immer das Springer’sche Schmierenblatt „Welt am Sonntag“ lesen zu müssen. Das wird geradeso noch geduldet. Doch nun sehe ich ihn da sitzen mit der „Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung“, die jedes Jahr vollkommen zurecht immer und immer wieder mit Designpreisen überhäuft wird. Sie gilt als weltweit am besten designte Zeitung. Überhaupt sind die deutschen Blätter immer wieder ganz weit vorn, was das und übrigens auch Inhalt angeht.

„Ist das da etwa mein Exemplar, das du da liest, oder bist du endlich umgestiegen?“, frage ich.

„Nun, ich dachte, da du dich hier ja kaum blicken lässt …“

„Da hast du also gedacht, ich lese mal fröhlich Seppos Zeitung, der merkt das ja nicht?!“

„Nun, ja. Aber ich überlasse sie dir gerne.“

„Ach, du überlässt mir gerne meine Sonntagszeitung? Darf ich dir einen Kaffee als Dankeschön bringen?“

„Das ist an sich nicht nötig, aber gerne, ja!“

Ich gehe zur Kaffeebar, ziehe fünf Espressi, die ich mit einer Handvoll Zuckerwürfeln anreichere, zügele mich und spucke nicht hinein und gehe zurück zu Klonthoff, der allen Ernstes den Sportteil der Zeitung liest.

„Wie ordinär, Klonthoff. Die Zeitung kannst du behalten, hier, der Kaffee.“

Innerlich bin ich hochgradig wütend, äußerlich wirke ich wie ein Düsseldorfer, der seine Stadt wirklich für lebenswert hält. Ich mache mich auf die Suche nach Bruchli. Passiere dabei die Ahnenwand mit den Porträts derer, die den Klub verlassen habe. Unter anderem hängt da auch mein ehemals bester Freund Pavel. Möge seine verdammte Seele in Frieden ruhen.

„Bruchli!“, finde ich Bruchli.

„Seppo! Ab jetzt wieder öfter hier?“

„Noch nicht ab jetzt, aber ja, bald … Bruchli, folgendes. Ich habe ein Problem. Klonthoff hat meine Zeitung gelesen.“

Bruchli erblasst.

Ich weiter: „Ja, ich kann es auch kaum fassen. An sich müsste er dafür rausfliegen.“

Bruchli: „Soll ich Raktunol losschicken, um dir ein neues Exemplar zu holen?“

„Das wird wohl der einzige Ausweg sein. Sag ihm, er soll eines von hinten nehme, ohne Knicke oder Falten!“

Bruchli geht los, ich ebenfalls, aber zu meinem Sessel. Das Haar, das ich vor sechs Wochen dort platziert hatte, ist doch da. Ich darf also davon ausgehen, dass mein Platz wie vorgeschrieben nicht fremdbesetzt worden ist. Aber auch nicht abgestaubt.

Dieser Sessel ist Heimat. Ich lasse mich nieder, um direkt wieder aufzustehen, da ich meinen Kaffee vergessen habe.

Ich sehe Klonthoff, der angewidert in seine Tasse blickt.

„Schmeckt’s?“, rufe ich ihm zu.

Er reagiert nicht.

Sportteil …, denke ich, wie ordinär.

Nach nur zehn Minuten kommt Raktunol mit der frischen Zeitung zu meinem Sessel. Angesichts einer frischen Zeitung, noch ungelesen und so glatt, geht mir auch heute noch immer wieder das Herz auf. Ich weigere mich, eine Gazette zu lesen, die schon jemand vor mir gelesen hat, und habe vollstes Verständnis dafür, wenn jemand sogar so weit geht, seine Zeitung zu bügeln. Ich kenne das ja auch, wenn es morgens schwer regnet und die angelieferte Zeitung entsprechenden Schaden nimmt. Das ist im Grunde der GAU: Eine getrocknete Zeitung, nachdem sie nass geworden ist. Lese ich nicht. Da kaufe ich mir eher eine neue.

Nennen wir es einen spleen oder Tick, für den ich in der Außenwelt freilich cain Verständnis erwarte. Doch im Hrrenklub würde ich mich zur Witzfigur machen, klappte ich eine bereits benutzte Zeitung auf. Dann könnte ich als Ehrenmitglied direkt abtreten.

In diesem Moment sitze ich im ICE 545 nach Berlin-Gesundbrunnen. Vor mir hängt im Netz des Sitzes eine Ausgabe der „DB Mobil“. Ob ich die anrühre?

Vorher gucke ich mir aber erst einmal an, was unter normcore zu verstehen ist. Als erstes denke ich an mein core-Training. Mal sehen, was es wirklich meint.