Ich beobachte Melanie Chorweiler dabei, wie sie einen Apfel isst. Da sie mit vollem Mund zumindest in meiner Gegenwart nicht spricht, muss ich, um an Informationen zu kommen, aus ihrem kauenden Gesicht lesen. Und es sagt:

„Ich zwinge mir grade einen Apfel rein. Es oedet mich an.“

Ihr Gesicht kann offenbar caine Umlaute, was meinen Lesefluss etwas stört.

„Apfel ist ja auch scheiße“, antworte ich trocken auf die nicht gestellte Frage.

Melanie Chorweiler hält in Bezug auf das Kauen inne, denkt nach und prustet mir unvermittelt gekauten Apfel ins Gesicht. Es ist ihre Art, mit vollem Munde zu lachen.

„Wie können Menschen gerne Äpfel essen?!“, fragt sie.

„Ich esse keine. Ich mache ja low carb.“

„Oh Gott, du isst nicht mal Fruchtzucker?!“

„Nein. Aber auch ohne mit ohne Kohlenhydrate würde ich Obst nicht anrühren. Obst ist kompliziert. Man muss es zum Beispiel abwaschen. Manchmal wäscht meine Mitbewohnerin Obst. Dann bekomme ich hin und wieder mal was ab.“

„Teilweise muss man es auch schälen … Erbeeren, die gehen aber noch. Ansonsten esse ich kein Obst.“

„Aber du isst doch gerade einen Apfel? Teile dessen liegen auf meinem Gesicht“, hake ich nach.

„Ist wegen des Gastes.“

„Du hast Besuch?“

„Ja, einen Obstbauern. Ich habe ihn auf dem Obstbauern-Kongress während meines Auslandsjahres im Inland, Quatsch, in Irland, kennengelernt.“

„Und der hat Obst mitgebracht?“

„Ja, Äpfel.“

Wir schweigen. Bei Facebook würde nun zu lesen sein „Vor 43 Minuten aktiv“. Denn so lange schweigen wir. Und sind dann wieder online.

„Obst ist mir zu viel Arbeit“, sage ich.

„Obst ist zu aufwendig“, stimmt Melanie Chorweiler mir zu, „Aber Bananen sind mein pre-workout-snack.“

„Ja, sie erfüllen ihren Zweck“, sage ich.

„Ja, wollte ich gerade sagen.“

„Oh, ein Hund!“

Neben den Einkaufswagen beim „Edeka Seitz“ ist ein Hund angeleint. Mit Hundemarken kenne ich mich erschreckend schlecht aus. Ich kann lediglich ausschließen, dass es sich um folgende Ausführungen handelt: Pudel, Schäferhund, Goldendoodle, Münsterländer, Golden Retriever, Dackel, Bernhardiner, Bernharbutler, Mops und Boxer.

„Kannst du bitte näher rangehen?“, bittet Melanie Chorweiler mich. Sie ist Hundefreundin.

Ich gehe also näher ran, will aber nicht zu denen gehören, die sich an angeleinte Hunde ranmachen. Also spreche ich den Hund aus einiger Entfernung an.

„Hallo!“

Der Hund guckt mich an. Er sieht ängstlich aus. Nicht wegen mir. Es scheint ihn die Sorge zu plagen, dass sein Frauchen/Herrchen verschwunden ist. Womöglich sucht es vergeblich die von Edeka boykottierten Nestlé-Produkte.

„Ist nur kurz einkaufen!“, rede ich dem Nicht-Terrier Mut zu.

„Achso.“

Ich teile Melanie Chorweiler mit, dass ich als Hundebesitzer, der ich leider nicht bin, Angst hätte, dass man mir meinen Hund klaut, bünde ich ihn vor dem Supermarkt fest. Sie interessiert es nicht, sie liket meine Äußerung nicht einmal aus Versehen.

Nun endlich kommt der Obstbauer aus dem Supermarkt zurück. Ich verstecke meine Überraschung darüber, wusste ich gar nicht, dass er uns begleitet hat. Der Obstbauer hat sich für ein Wok-Gericht eingedeckt. Beschwingt erzählt er uns von seiner „Beute“:

„Gemüse, Bambus, Zucchini, Chili, Sojasauce, chinesische Fischsauce, Reis, Nudeln, Lauch.“

Ich tue so, als fände ich das ganz schmackhaft. Tatsächlicher aber lehne ich fast alles des Aufgezählten ab. Außerdem fehlt mir etwas. Das Fleisch. Doch der Obstbauer ergänzt:

„Und Huhn.“

„Ah!“, sage ich erleichtert.

Und Melanie Chorweiler: „Kannste so nehmen. Alles low carb.“

Wir lachen alle herzhaft. Zwischenzeitlich erstickt Melanie Chorweiler fast an einem Stück Apfels, das ihr beim Lachen in die Augenhöhle gerutscht ist. Der Obstbauer klopft ihr beherzt auf den Hinterkopf. Weil das nicht genügt, greife ich zu der Holzlatte der neben uns stehenden Europalette und ziehe der ollen Chorweiler damit einen über.

„Das hat gesessen!“, triumphiere ich, als Melanie Chorweiler sich des Apfelstückes entledigt.

Wir setzen das Lachen fort und können das auch begründen. „Kannste so nehmen“ ist eine Phrase aus der Fernseh-Branche, in der wir alle arbeiten. Vom Obstbauer abgesehen. Der macht in Obst, ist aber angefragt für die neue TV-Sendung „Apfel und Co.“ Als Moderator. Eigentlich sollte ich das ja übernehmen, aber beim Casting habe ich ungeschickt einfließen lassen, dass ich Äpfel scheiße finde. Das kam nicht gut an. Hat mir das Genick gebrochen.

Wir verlassen den Supermarkt-Parkplatz und fahren nach Hause. Ich wundere mich, dass Melanie Chorweiler und ihr Obstbauer sich nicht darüber wundern, dass ich mich zu ihnen ins Auto gesetzt habe. Das sollte eigentlich ein Scherz von mir werden: Als sie einstiegen, stieg ich einfach hinten ins Auto dazu. Hatte erwartet, dass mal einer was sagt, vielleicht schmunzelt, hohohohoho, Seppo, du Spinner! Von wegen. Ich sitze hinten im Auto und werde gar nicht wahrgenommen.

„Hatte ich schon erzählt, dass ein Arbeitskollege von mir mich jeden Morgen exakt zwei Mal grüßt?“, mache ich auf mich aufmerksam.

Melanie Chorweiler dreht sich zu mir um: „Seppo?!“

„Na endlich merkt es mal einer. Könnt ihr mich wieder zurückbringen?“

Der Obstbauer schaltet sich ein, dreht sich ebenfalls zu mir um: „Keine Chance, ich habe Apfelkompott auf dem Herd.“

Ich: „Wer von euch fährt eigentlich? Einer muss doch auf die Straße achten!“

Melanie Chorweiler und der Obstbauer sehen sich an.

Melanie Chorweiler: „Also er fährt. Ich kann ja auf die Straße gucken, während er zu dir spricht und umgekehrt.“

Der Obstbauer: „Ich hoffe, ich hab den Herd überhaupt angemacht.“

Melanie Chorweiler: „Der Hund war niedlich.“

Nachdem die Polizei unseren Unfall aufgenommen hat, brachte uns der ADAC freundlicherweise nach Hause. Leider verpasste ich die Chance, mich bei mir absetzen zu lassen, sodass ich nun mit Melanie Chorweiler und dem Obstbauern in ihrem Wohnzimmer sitze. Ich beschließe, mich dort wohnlich einzurichten. Melanie Chorweiler erklärt sich sogar bereit, alle braunen Möbelstücke für mich weiß anzumalen.