„Große Sorge um seppolog-Chefautor!“
„Drogendrama um Seppo?“
„Seppo Opfer der Schneewalze!“

So titeln die Gazetten in meinem Geiste, deren einziger Leser ich selbst bin. Ich sitze wohlauf im ICE 545 nach Berlin-Gesundbrunnen, um dessen Abfahrtsgleis bis zuletzt ein großes Geheimnis gemacht wurde. Doch ich hatte andere Sorgen; Sorgen um die Aufrechterhaltung der im Wortsinne Aufrechthaltung meines Körpers. Ich will nicht dramatisieren, doch dass ich diese Ceylen noch schreiben kann, ist das Ergebnis eines rettenden Kaffees. Dass ich noch lebe, ist wohl meinem geistigen Widerstand gegen den Kreislaufzusammenbruch zu verdanken, der gerade 40 Minuten hinter mir liegt.

„Nichts ahnend verließ Seppo um sieben Uhr 15 das Haus“

Dass es heute besonders kalt sein würde, wusste ich. Dass es vielleicht doof ist, dass ich seit 20 Jahren das Tragen von Handschuhen verweigere, wusste ich auch. Mein Fußweg zum Düsseldorfer Hauptbahnhof dauert lediglich 13 Minuten, mit dem Taxi bräuchte ich länger, da man in Düsseldorf ja nie links abbiegen kann.

Nach fünf Minuten des Gehens war die den Koffer hinter mir herziehenden Hand bereits nicht mehr spürbar und ich dachte noch daran, wie ich vor etwa zehn Jahren bei ähnlicher Kälte (die meisten von uns sind ja Kälte nicht mehr gewohnt – was sind schon minus sechs Grad?!) vor Castrop-Rauxel zusammenbrach. Damals war ich „elektronischer Berichterstatter“, ein Ein-Mann-EB-Team oder einfach „Videojournalist“ und wartete für meinen Auftraggeber NRW.TV, dem größten Regionalsender aller Zeiten, inzwischen paleite, auf den damaligen NRW-Verkehrsminister Oswald „Oliver“ Wittke. Meine Erinnerung ist verblasst, aber es ging bei jenem Pressetermin wohl um die Vorstellung eines neuen Verkehrskonzeptes bei Castrop-Rauxel. Dazu sollte – ohne Scheiß – ein neuartiges Verkehrsschild eingeweiht werden. Das sind so die Themen eines weltgrößten Regionalfernsehsenders aller Zeiten gewesen. Herr Wittke verspätete sich. Klirrende Kälte und Schneefall setzten mir damals zu. Meine Hand hielt die Kamera auf meiner Schulter, als ich merkte, mein Kreislauf sackte ab. Zeitlich war das sehr unpassend, da nun Herr Wittke kam, mit dem ich ein Interview zu führen hatte. Während des Interviews geriet ich mit der Kamera auf der Schulter ins Wanken, ahnte, dass ich nun jeden Moment zu Boden gehen würde. Meine Praktikantin stellte tapfer die von mir vorab diktierten Fragen, während ich feststellte, dass das von mir „eingerichtete“ Bild kaum sendbar sein würde. Für den Unbedarften: Der O-Ton-Geber, Herr Wittke also, darf nicht mittig im Bild stehen. Vielmehr muss er rechts oder links an seiner Schulter angeschnitten sein, wobei über seinem Kopf nicht zu viel Freiraum bleiben darf. Das ist die nicht so schwere Kunst, die ein Kameramann bei einem Interview abliefern sollte. Verabschiedet sich jedoch das Gleichgewicht, beginnt das Bild zu wackeln.

Ich hatte mir vorgenommen, das Zu-Boden-Gehen möglichst lang hinauszuzögern, um noch diesen O-Ton vollenden zu können. Der Wert der Kamera floss dabei in meine Überlegungen ein, nicht etwa mein Arbeitsethos, über den ich als Kameramann wider Willen nicht verfügte. Doch fällt eine Kamera ungebremst zu Boden, weil der Kameramann kollabiert, kann der Schaden in den fünfstelligen Tausender-Bereich gehen.

Ich hielt durch, bekam noch ein „Danke“ heraus und informierte meine nun überforderte Praktikantin darüber, dass ich mich nun hinsetzen musste. Sie hat es nicht verstanden, worauf ich jedoch keine Rücksicht mehr nehmen konnte.

So etwas ist immer etwas peinlich. Die umstehenden Presse-Kollegen belächelten die Szene, kamen sie doch von RTL, Sat.1 und Co. und nicht von einem popeligen Regionalsender, der aber der weltgrößte war, wie man uns immer wieder gesagt hatte, und stiegen in ihre Autos. Auch Herr Wittke wusste nicht so recht, was ich da tat und fuhr zu seinem nächsten Termin. Einer jedoch half: Der Boss von „Straßen.NRW“, dessen Name mir leider entfallen ist; inzwischen wurde er auch abgelöst. Er jedenfalls hob tatkräftig meine Beine hoch und reichte mir kostbares Wasser.

So ein Kreislaufkollaps ist kein großes Drama. Nur ist es schwer, ihn unauffällig über die Bühne zu bringen, weil nur eines hilft: Hinlegen und Beine hoch. Innerhalb weniger Minuten war ich wieder voll da und konnte mich von meiner Praktikantin zum Hauptsitz des weltweit größten, aber insolventen, Regionalsenders aller Zeiten chauffieren lassen. Von meiner Seite aus wäre damit alles in Ordnung gewesen, doch überzeugte mein treusorgender Chefredakteur mich davon, dass ich wohl einen Schlaganfall hatte. Er bestand darauf, dass ich mich in die Notaufnahme eines Krankenhauses bringen ließ, wo ich an der Anmeldung sagte:

„Ich habe womöglich einen Schlaganfall.“

Ich hatte geglaubt, auf die Weise relativ schnell dranzukommen. Und so habe ich nur fünf Stunden an einem Freitagabend auf Behandlung warten müssen. Hätte ich wirklich einen Schlaganfall gehabt, wäre an der Stelle viel zu viel Cait vergeudet worden. Aber freilich war mir selbst klar, dass ich völlig gesund war. Oh, und allein für eine Aussage des Arztes hatte sich die Sache für mich gelohnt:

„Sie machen viel Sport, Herr Flotho?“

„Ja.“

„Das sieht man ihrem Herzen an. Weiter so!“

Das hat einen gewissen, mein Herz betreffenden Hintergrund, der hier nicht weiter ausgeschlachtet werden soll. Für mich jedenfalls war das damals eine gute Nachricht.

Das ist inzwischen für mich eine heitere Anekdote und schon damals schob ich den kleinen Blutdruckabsacker irgendwie auf diese plötzliche Kälte nach der Wärme im Auto.

Und als ich heute mich dem Bahnhof näherte, wiederholte sich dieses. Ohne Wittke natürlich und ohne Praktikantin.

Mir war schon etwas schummerig, als ich das ebenfalls kalte Bahnhofsgebäude betrat und beschloss, mich im Presse-Laden aufzuwärmen, da ich – wie es meiner Art entspricht – viel zu früh am Bahnhof war. Ich kaufte eine „Men’s Fitness“ und die/das neue „Spiegel Geschichte“. Mir war schlecht. Ich bemerkte einen albernen Schweißausbruch. Die plötzliche Wärme war zu viel des Guten. Ich reihte mich in die Kassenschlange ein und überlegte, ob die Nummer nun gutgehen würde. Als ich nun endlich mit dem Bezahlvorgang an der Reihe war, sah ich erste schwarze Flecken vor meinen Augen. Auch das Gehör brach leicht weg, alles wirkte dumpf.

Die Situation wurde akut. Ich musste kreidebleich bis grün ausgesehen haben. Als ich den Zwanzig-Euro-Schein aus meiner Patte kramte, überlegte ich, die Kassiererin davon in Kenntnis zu setzen, dass ich mich nun auf den Boden ihres Etablissements würde setzen müssen. Im Geiste formulierte ich bereits vor:

„Pardon, aber ich habe gerade einen leichten Kreislaufzusammenbruch, ich müsste mich eben mal setzen. Keine Umstände, bitte.“

Genau so hätte ich es gesagt. Ich will es wirklich nicht dramatisieren, so ein Kreislauf erholt sich zügig, aber eben nicht im Stehen. Oft habe ich das nicht, das vergangene Mal, wie erwähnt, vor zehn Jahren.

Ich habe in diesem Moment überlegt, ob es der Geist vermag, sich dem kleinen Zusammenbruch zu verweigern. Kann der Geist sich dem widersetzen? Wie viel macht Willenskraft unter solchen Umständen aus? Kann man sich bis zu einem gewissen Grad zusammenreißen? Vom Sport weiß ich, dass vieles geht in diesem Zusammenhang.

Den Bezahlvorgang bekam ich wider Erwarten über die Bühne, ohne mich setzen zu müssen. Mir war nun einigermaßen kotzübel, sodass ich zügig den Laden verließ, vor dessen Schaufenster ich mich dann im Bahnhofsgebäude auf den Boden setzte. Ich war schweißnass. Ich griff zu meinem Handy, um so auszusehen, als würde ich lediglich eine gemütliche Pause machen. Überlegte dann, was zu tun ist, würde der Zustand sich nicht verbessern. Mitbewohnerin informieren?! Nicht nach Berlin fahren?

Nach einigen Minuten kam das Gehör wieder, mir war weniger schlecht. Ich stand auf und ging zum Aufgang von Gleis 18. Dort rief mir der Kaffee-Verkäufer zu, dass heute cain Zug von Gleis 18 abfahren würde, sondern von Gleis 19. Ich bedankte mich für die Info und kaufte einen Kaffee. Setzte mich dann kurz, um dann den Weg zu Gleis 19 zu nehmen. Dort angekommen informierte eine Durchsage darüber, dass nun doch alle Züge ab Gleis 18 tatsächlich an Gleis 18 ankommen und dort wieder abfahren. Also ich wieder zurück, nicht ohne meinen Kopf zu schütteln.

Noch fünf Minuten, dachte ich, dann kann ich endlich wohltemperiert sitzen.

Seit knapp einer Stunde sitze ich nun im Wagen 21 auf Platz 51, wo ich herzhaft über meinen albernen kleinen Zusammenbruch schmunzeln kann. Das ist nun alles kein Fall für den Arzt. Vielleicht war mein Körper nach elf (!) Stunden Schlaf einfach nur überrascht, wie senkrecht und kalt ich in den Tag starten würde. Ein „Gute Besserung“ Ihrerseits ist also nicht vonnöten, aber vielleicht sammeln Sie für ein Paar Handschuhe für mich. Denn offenbar neigt mein Körper zum Kollaps, wenn dessen Hände einfrieren.

Handschuhe für Seppo e.V.
Sparkasse Münsterland-Ost
Iban: DE-123412341234123412
Verwendungszweck: Handschuhe für einen alten Mann