Der eine oder andere hat es gemerkt: Teile dieses Textes habe ich wegen eines nervösen Mausfingers am Morgen etwas voreilig und daher unvollständig veröffentlicht. War ein Teaser, gewissermaßen … hier nun der komplette Text mit „H“.

Frisch isses geworden. Hoch Hartmut hat Deutschland fest im Griff, wie man so sagt und titelt. Irgendwo ist sicherlich auch eine Schneewalze unterwegs, mal „Bild.de“ checken. Und eine Leserin mutmaßte anlässlich meines gestrigen „Kollapses„, dass ich mich womöglich über die Naturgesetze erhöbe, da ich auch bei Minusgraden das Tragen von Handschuhen verweigere. Ich habe das freilich abgestritten, doch nach meinem heutigen Lauf bei minus 14 Grad bin ich der festen Überzeugung: Ich habe sie bezwungen, die Natur! Ich bin stärker als Mutter Erde, widerstehe Väterchen Frost. Gut, das Symbol hinkt hier, aber wer merkt das schon?!

Minus 14 Grad sind für einen Westfalen wie mich eine ungewohnte Temperatur. Denke ich an die zurückliegenden Winter, erinnere ich mich an an Tiefsttemperaturen von milden minus zwei, drei Grad; viel kälter wurde es nie. Ich weiß gar nicht, was ein richtiger Winter ist; früher war mehr Winter. Lediglich 2008 fand ich mich einmal bei minus zwölf Grad laufend in Düsseldorf vor: Bis zum heutigen Tage galt jener Lauf als mein kältester. Diesen Rekord habe ich heute nach 16 Jahren des Laufens gebrochen. Es wird einer der Läufe sein, an die ich auch in zehn Jahren noch denke. Ein Lauf, der aus insgesamt mehr als 2.600 herausragt. Ein persönlicher Meilenstein.

Es gibt kein Wetter, bei dem ich nicht laufe; Wetter ist nie eine Ausrede für passionierte Läufer. Das Gegenteil ist der Fall. „Extreme“ Wetter sind eine willkommene Abwechslung: Ob schwüle 35 Grad oder frische minus 14 wie heute Morgen, ob massiver Schneefall oder ein Platzregen, ob Sturm Kyrill oder Windboe Torben: All diese Ausschläge waren und sind eine Herausforderung und ein Grund dafür, erst recht laufen zu gehen, wobei ich zugebe, dass ich Kyrill hätte meiden sollen.

Viele Leser waren sich einig, dass mein kleiner Kreislaufzusammenbruch anders als von mir gemutmaßt nicht Folge der Kälte gewesen sein könne. Das mag sein, letztlich ist die Ursache für mich unerheblich. Offenbar war der Körper etwas geschwächt, eines kam zum anderen, kann vorkommen, nicht weiter wild. Und so war für mich gestern Abend schon klar, dass ich auch trotz der für die Nacht angekündigten Kälte würde laufen gehen. Die Erfahrung wollte ich mir nicht entgehen lassen. Ob das der Gesundheit zuträglich ist, ist ebenfalls unerheblich für mich, glaube aber, dass ich mein Leben heute nicht verkürzt habe. Der menschliche Körper ist widerstandsfähig. Der zeitgenössische Mensch belastet ihn viel zu wenig, was zu den bekannten Zivilisationskrankheiten geführt hat.

Und wo ich gestern noch tönte, ich verweigere Handschuhe, muss ich heute einschränken: Beim Laufen trage ich mitunter sogar zwei Paar übereinander:

Ich darf jetzt schon verraten, dass ich sie auch hätte weglassen können, als ich mich heute Morgen gegen sieben Uhr im kalten Berlin der „Russenpeitsche“ stellte, wie man diese Kälte offenbar nennt, was mir bislang entgangen war. Womöglich ist der Begriff auch politisch nicht korrekt …

Dass die Hände beim Joggen frieren, war keine Überraschung für mich, doch weiß ich aus Erfahrung, dass sich nach etwa zwölf bis 14 Minuten eine wohlige Wärme bis in die äußerste Fingerkuppe ihren Weg bahnt (Mittelfinger). Das sind durchaus Minuten des Schmerzes, der allerdings einer Erleichterung weicht, auf die ich heute deutlich länger warten musste.

Da der Körper unter Anstrengung bei Kälte teilweise mehr schwitzt als bei Hitze, habe ich bewusst mehr Kaffee und Wasser vorab zu mir genommen und meinen Kreislauf mittels eines Mobilistationstrainings auf Touren gebracht, da die Nacht recht kurz war. Übrigens, Mobilisationstraining meint leider Yoga. Seit rund zwei Wochen weiß ich, welche Schmerzen Yoga verursachen kann. Ich belächle es nicht mehr … Also, Dehydrierung ist auch bei Kälte ein massives Problem (vielleicht war das ja gestern eine Ursache).

Beim Betreten der Außenwelt stellte ich sofort fest, dass es wirklich kalt war. Die Lunge merkte das sofort, die Atmung war eine andere, eine weniger tiefe, das Lungenvolumen somit ungewohnt eingeschränkt. Die Expertenwelt ist sich einig, dass den Bronchien Sport bis etwa minus 15 Grad zumutbar ist, wobei man auf einen Sprint oder Marathon eher verzichten sollte, die Belastung also der Witterung anpassen sollte. Und so lief auch ich eher gemütlich los und dengelte auch noch dieses fröhliche Video, in dem ich wie sooft von meiner selbst begeistert bin, was im Übrigen eine empfehlenswerte Eigenschaft ist in einer Welt der Neider und Missgunst.

Nach unmittelbarer Ansicht des Videos wurde ich der kleinen Eiszapfen in meinem Bart gewahr. Ich fragte mich, wie viel von dem Eis wohl aus meinem Rotz bestand, wie viel davon Kondenswasser aus der Luft war. Später des Laufes erwischte es auch meine Lippen, sodass lebendige Selbstgespräche nicht mehr möglich waren: Lippenerektion.

Frieren tut man beim Laufen nicht. Man denkt nicht, „Hoffentlich bin ich gleich wieder im Warmen“, denn die Kälte spürt man nicht, da man sich ja schließlich bewegt. Es ist nicht ansatzweise ein unangenehmes Gefühl. Doch beim Bedienen meines Handys stellte ich zum einen fest, dass das Display auch auf Handschuhe reagiert, und zum anderen, dass ich meine Fingerkuppen nicht mehr spürte. Ich erwischte mich dabei, wie ich während des Laufens ständig eine Faust ballte – Hand auf, Hand zu, Hand auf, Hand zu … Erste Verzweiflungstaten.

Nach etwa 20 Minuten waren die Hände komplett warm. Ich fühlte mich bestätigt. Wieder einmal hatte ich die Naturgewalten besiegt! Bin ich tatsächlich der Übermensch, für den man mich hält? Doch die Naturgewalten verneinten, schlugen zurück. Nach 25 Minuten. Die Hände schmerzten, es war ausgesprochen unkomfortabel. Spaß hatte es mir zu dem Zeitpunkt nicht mehr gemacht. Und es ärgerte mich. Denn so eine Lapalie wie vereiste Fingerkuppen verlitten mir den Lauf?! Ich hatte mir schwerer Atmung gerechnet, mit einer kalten Nasenspitze, mit gefrorenen Ohren, ja, sogar eher mit kalten Füßen – aber mit gefühllosen Fingerkuppen?!

Kleinste Einschränkungen des Körpers können im ungünstigen Falle den Laufrhythmus beeinträchtigen. Das war nun auch der Fall. Der Kampf gegen die kalten Finger brachte mich aus dem Lauftakt, wodurch der Lauf anstrengender als nötig wurde. Getragen allerdings hatte mich dieses einem Läufer bekannte Gefühl der Euphorie: Ich fand es schlicht geil, dass ich auch bei diesem Wetter laufen ging. Der Blick auf die leicht weißliche Landschaft, auf die glitzernden Straßen. Das hatte was. Das hat man eben nicht oft. Das war die Abwechslung, von der ich sprach. Und ich wusste da schon, dass dieser Lauf in meine eigene kleine, persönliche Laufgeschichte eingehen würde. Dass das Durchschnittstempo am Ende sehr niedrig war: geschenkt. Darauf kam es nicht mehr an. Es kam darauf an, es durchzuziehen und noch mit 36,5 Grad Körpertemperatur nach Hause zu kommen. Denn eines war auch klar: Wegen Erschöpfung abbrechen war nicht, denn noch kälter wäre es geworden, wäre ich nach Hause gegangen.

Und erst dort wieder angekommen sollte ich die wahre Welt des Schmerzes betreten. Das Aufschließen der Haustür war ein Akt unter dem Einfluss des Kontrollverlustes über meine Hände. Dabei musste ich nicht einmal einen Schlüssel ins Schloss stecken, ich musste lediglich einen Chip vor das Schloss halten, das mir dann Zugang gewährte. Selbst das war kaum möglich, konnte ich meinen Schlüsselbund kaum entfrimeln. Ich fluchte. Wollte nur noch rein ins warme Haus.

Diese eigentlich lächerliche Hürde genommen entledigte ich mich meiner viel zu dünnen Handschuhe und hielt meine Hände unter kaltes Wasser. Und ich habe vergessen, wie weh es tut, wenn das Gefühl die Finger zurückerobert. Ich will nicht rummemmen, fand das von außen betrachtet auch recht humorig, doch es tat höllisch weh, sodass ich leise aufstöhnte, um meine Mitbewohner nicht zu wecken. Ich hüpfte meine Fingerkuppen haltend durch das Wohnzimmer. Fluchte weiter. Hüpfte zur Spüle in der Küche, um die Hände wieder unter kaltem Wasser zu wärmen. Soll man ja so machen, tat aber dennoch höllengemäß weh. Und das tun sie jetzt immer noch ein wenig, die Fingerkuppen, sodass es mir schon vor morgen früh graust. Vielleicht aber wird es dann wärmer. Mit vielleicht minus zehn Grad. Ist ja nichts.

Ich weiß, das liest sich hier, als hätte ich den Mount Everest am Südpol bezwungen. Minus 14 Grad sind woanders Sommer. Für mich aber nicht. Ich fand es eine geile Nummer, ein kostenloser Spaß für mich, auf den ich etwas stolz bin. Weil ich weiterhin (unaufgefordert) erzählen kann:

Es gibt kein Wetter, bei dem man nicht laufen kann.

Denn das stimmt.