Es ist Montagmorgen und wie es montagmorgens meiner Art entspricht, sitze ich im ICE nach Berlin-Gesundbrunnen, wobei ich bereits in Spandau aussteigen werde. Seit gestern haben wir Frühling, bei milden sechs Grad bin ich zum Bahnhof gegangen und hatte anders als vor einer Woche keinen Kreislaufzusammenbruch. Das wäre auch ziemlich albern gewesen, da Kreislaufzusammenbrüche sich aus Regelmäßigkeiten nichts machen, sodass ich nun nicht jeden Montagmorgen auf dem Weg zum Bahnhof ein plötzliches Absacken meines Blutdruckes befürchten muss.

Vor zwei Wochen, abermals ein Montagmorgen, saß ich um diese Zeit bei einem Halsnasenohrenarzt, einem Arzt mit Hals, Nase und Ohren. Massive Schmerzen im rechten Ohr hatten mich zu ihm gebracht, der mir dann eine leichte Gehörgangsentzündung diagnostiziert hatte, die aber schnell verflog. Als Hörsturzgeschädigter ist man allerdings in Bezug auf seine Ohren sehr achtsam und verschenkt keine wertvollen Minuten. Der Hörsturz ist der Schlaganfall der armen Leute.

Montags ist also immer was bei mir, obwohl doch sonst alles in meinem Leben in angenehm berechenbaren Bahnen verläuft. Und so fragte ich mich auch heute Morgen, was mir wohl den Tag versüßen würde, zumal mir noch der Wein vom Wochenende in den Knochen steckt. Falls also jemand zufällig wirre Facebook-Nachrichten von mir bekommen haben sollte: Der Wein war’s.

Sieben Uhr in etwa, ich verlasse die Wohnung meiner Mitbewohnerin und mir, deren monatlichen Nebenkosten nun um 20 Euro gestiegen sind. Ich kontrolliere qua genauen Hinfühlens meinen Kreislauf und befinde ihn für angemessen, in der Beziehung sollte also alles gutgehen. Kalt ist es auch nicht, vielleicht wird es ja ähnlich sonnig wie gestern. Ich passiere wie jeden Montag unseren Metzger, bei dem es heute gekochten Hasen im Angebot gibt. Zu diesem Zeitpunkt ist mein rechter Fuß trocken – wie auch der linke. Es gibt keinerlei Anlass für mich, über meine Füße nachzudenken. Aber gekochter Hase?, denke ich, nichts gegen das Essen von Hasen, aber gekocht? Ich sehe mir die Angebotstafel genauer an, die vor der Metzgerei steht. Ah, Haxen! Das X sieht aus wie ein S. Verstehe. Haxen.

Ich ziehe weiter. Nicht eilig, da ich viel zu früh dran bin, was ich immer bin. Am Bahnsteig werde ich mit Sicherheit noch mindestens 20 Minuten warten müssen, zuzüglich der Verspätung des Zuges, der in der Tat nicht nur vom falschen Gleis, sondern auch zu spät abfahren wird.

Ich gehe vorbei am Fisch-Laden. „Täglicher Frischer Fisch aus Aller Welt“, steht dort über der Eingangstür geschrieben. So viel falsch auf einem Schild, denke ich und frage mich, was eigentlich täglicher Fisch sein soll. Als Kind hatte ich mal einen Goldfisch. Oder mehrere. Hintereinander. Alle das Klo runtergespült. Hintereinander. Das Herunterspülen von toten Goldfischen in die Kanalisation gehört zu meinen ersten frühkindlichen Erinnerungen.

Kurz vor dem Bahnhof laufe ich am Gemüseladen vorbei. Dessen riesige Auslagen im Außenbereich müssen jeden Morgen aufs Neue bestückt werden. Ein enormer Arbeitsaufwand muss das sein, denke ich, als ich die drei Männer sehe, die das wie jeden Montag, aber auch an jedem anderen Tag, tun. Kistenweise Äpfel, kistenweise Kartoffeln, kistenweise Tomaten und kistenweise grünes Gedöns – was für eine nervige Arbeit das sein muss.

Ich überquere die Ampel mit der seltsam kurzen Grünphase. Fußgängerampeln haben hier in Düsseldorf eine Gelbphase. Bei Gelb soll man nicht mehr die Straße überqueren. Gelb ist somit wie Rot und auf den Internetseiten der Stadt Düsseldorf las ich vor Jahren, die Gelbphase sei im Grunde nur ein Marketinggag, funktional keinesfalls. Und trotz Überquerens bei Gelb erreiche ich heil den Bahnhof – viel zu früh. Ich schreibe meiner Mitbewohnerin via Facebook:

„schon wieder viel zu früh, aber kein kreislaufkollaps!“

Ich betrete den Presseladen und kaufe mir zwei Magazine: „Stern Crime“, ziemlich gut gemachtes Unterhaltungsmagazin, und die neue „Men’s Fitness“, von deren Titelseite mich der Tom Cruise der Schauspieler anblickt: Ben Affleck. Den finde ich irgendwie farblos, kaufe das Heft dennoch und hoffe, diese Ausgabe nicht bereits gelesen zu haben. Später während der Zugfahrt werde ich dies erfahren.

Weil ich immer noch zu viel Zeit habe und der Zug sich nun um zehn Minuten verspätet, kaufe ich oben am Bahnsteig 18 bei „Le Crobag“ einen großen Kaffee für zwei Euro 30, was ich ziemlich günstig finde. Der Kaffee befindet sich im Becher, was nur deshalb erwähnenswert ist, weil er das gleich nicht mehr tun wird.

Natürlich hatte ich darüber nachgedacht, wie sonnvoll das Herumtragen eines Kaffees ist, wenn ich in den Zug einsteige. Koffer und Tasche beanspruchen ein bis zwei Hände, der Kaffee mindestens eine weitere. Könnte schwierig werden, meinen Sitzplatz einzunehmen, mindestens jedoch mit einigem Geraffel verbunden sein.

Der Zug kommt. Zwar zu einem anderen Gleis, aber damit rechne ich inzwischen ja sowieso immer. Ich steige ein und da ich heute Morgen die Ruhe selbst bin, warte ich in einer Ecke des Ganges stehend, bis sich jeder gesetzt hat, um erst dann meinen Koffer auf die Ablage über den Sitzen hochzuwuchten. Ich bitte meinen künftigen Sitznachbarn darum, kurz aufzustehen, um mich zu meinem Fensterplatz durchzulassen.

„Moment, ich stelle besser erst den Kaffee ab“, sage ich. Ich will ja nichts verschütten.

Koffer liegt auf Ablage, Kaffee steht auf dem kleinen Tischchen vor meinem Sitz, sodass ich mich reinzwänge, um dann festzustellen: Kacke, Jacke noch an.

In der zweiten Klasse eines ICE hat man wenig Platz. Es ist sehr beengt, ein Ausziehen der Jacke kaum möglich, ohne den Sitznachbarn dabei mit dem Arm einen Schlag ins Gesicht zu verpassen. Mir passiert das heute nicht, dafür aber verpasse ich dem Klapptisch einen Schlag, der infolgedessen nach oben klappt. Für meinen Kaffee ist es damit unmöglich, stehen zu bleiben. Er kippt unaufhaltsam zur Seite und fällt auf meinen Fuß.

„Ach, Scheiße! … Haben Sie etwas abgekriegt?“, frage ich meinen Sitznachbarn. Der verneint.

Ich hingegen bejahe, denn mein rechter Schuh samt innenliegendem Fuß ist nun kaffeegetränkt. Der Teppichboden unter mir versaut, denn nur die Seitenwand unter dem Fenster kann ich mit einem Papiertaschentuch abwischen. Informiert man nun einen Schaffner?, frage ich mich. Was sollte der tun? Haben sie Teppichreiniger an Bord? Muss ich plötzlich für den Schaden auskommen? Also entscheide ich mich mutig für Feigheit und kehre den Vorfall unter den Teppich, während mein rechter Fuß zunehmend kalt wird. Mein Koffer ist voller Dinge, aber ein zweites Paar Schuhe beherbergt er nicht. Aber Hauptsache, ich habe meinen „Powerball“ dabei …

Glück im Unglück: Etwas Kaffee ist noch im Becher verblieben, sodass mein finanzieller Schaden überschaubar bleibt. Was den Teppichboden angeht, sage ich mir, dass es moralisch nicht verwerflich sein kann, die entstandenen Reinigungskosten einem großen, anonymen und gesichtslosen Unternehmen zu überlassen, und ich nehme an, dass in meinem Fahrkartenpreis solche Kosten bereits eingepreist sind. Vermutlich habe ich sogar das Recht, bei jeder Fahrt einen Kaffee über den Boden zu verteilen. Außerdem: mein Schuh! Denkt denn niemand an meinen Schuh?!

So spielt das Leben. Denn was hätte ich an dieser Stelle geschrieben, wäre ich nicht so ungeschickt gewesen? Den ganzen Weg hin zum Bahnhof hatte ich darüber nachgedacht, was ich zu Papier bringe. Der „Tägliche Frische Fisch aus Aller Welt“ war ein Kandidat. Im Sinn hatte ich ein Gespräch mit einem Fisch. Doch dazu ist es nun nicht gekommen.