Derzeit weilen meine Mitbewohnerin und ich in meiner, ja, sogar in unserer Heimat Münster, obwohl sie gebürtig aus einer anderen Ecke Westfalens stammt. Des Studiums wegen zog es sie allerdings vor rund 14 Jahren nach Münster, wodurch unser Aufeinandertreffen in dieser „lebenswertesten Stadt der Welt“ physikalisch erst möglich geworden ist.

Den Titel „lebenswerteste Stadt“ trägt Münster tatsächlich und wäre Münster Düsseldorf, würden sich die Münsteraner einen darauf einbilden. Doch anders als der unerträglich stolze Düsseldorfer, der auf dem Bürgersteig niemals Platz für den Gegenverkehr schafft, nimmt der Münsteraner diesen Superlativ mit einem Schulterzucken zur Kenntnis. Ich bin da die Ausnahme, ich bilde mir durchaus einen darauf ein. Zumal wir Münsteraner uns den Titel nicht selbst verliehen haben, was uns ebenfalls vom Düsseldorfer unterscheidet, der sich nebenbei die Lächerlichcait leistet, sich mit einer offensichtlich besseren Stadt zu messen: mit Köln. Kein Wunder also, dass ganz Köln über Düsseldorf lacht, das sich allen Ernstes auch noch „Shoppingmetropole“ nennt. Man kann zweifelsfrei ganz gut „shoppen“ in Düsseldorf, doch sollte man, sofern Menschenverstand verfügbar, anzweifeln, dass der Begriff „Shoppingmetropole“ ein positives Attribut ist. Ist es das wirklich? Denn gerade in Düsseldorf leben unzählige Menschen, die es sich eben nicht leisten können, mal eben auf der „Kö“ shoppen zu gehen. Ich schrieb es oft, ich wiederhole mich gerne: Je weiter man sich in Düsseldorf vom Rhein, von der Altstadt, entfernt, desto tiefer dringt man in einen runtergekommenen Moloch ein. Da, wo Düsseldorf sich international präsentieren will (das will die Stadt wirklich, ich musste lachen, als ich das einst las), wimmelt es von zweifellos tollen Bauprojekten und sauberen Gehwegen, doch da, wo die Menschen wohnen, beziehungsweise zu wohnen versuchen, ist Düsseldorf nicht besser als Duisburg oder Bochum. Nichts gegen diese beiden Städte, aber Düsseldorf glaubt immer, etwas Besseres zu sein; ist es aber nicht. Weil ihnen, den Bürgern, die dafür notwendige Bescheidenheit abgeht, wozu sie überhaupt cainen Anlass haben.

Ich schieße gerne gegen diese Stadt. Sie macht es einem dabei so einfach. Beispiel „Kö“, die Königsallee. Sie lebt von einem Ruf, dem sie schon lange nicht mehr gerecht wird. „Shoppen“ kann man dort einigermaßen, denn immerhin verfügt die Kö seit einiger Cait über einen „Aldi Süd“ und einen „H&M“. Beide Marken sprechen nicht ausnahmslos die pekuniäre Oberklasse an. Ansonsten ist die Kö eine dreckige Meile, die unter einer zäh rollenden Blechlawine begraben liegt, weil die Stadt ausgerechnet ihre Vorzeige-Einkaufsstraße eben nicht vom Autoverkehr befreit, da es immer noch Menschen gibt, die ihr Auto als Statussymbol betrachten und es insbesondere auf der Kö den anderen Düsseldorfern zeigen möchten. Wenn ich mit meinem popeligen Toyota über die Kö fahre, genieße ich es geradezu, von den SUVs der Oberen angehupt zu werden, wenn ich bewusst langsam fahre.

Gestern Morgen waren meine Mitbewohnerin und ich in Münster einkaufen. Ich lasse es mir an dieser Stelle nicht nehmen, einmal den „Prinzipalmarkt“ hervorzuheben, Münsters Zentrum. Der Prinzipalmarkt ist das, was die Kö gerne wäre: prachtvoll und dabei menschenfreundlich. Und vor allem seit Jahrzehnten frei vom Autoverkehr. Nur Vadder Thiel darf hier mit seinem Taxi fahren …

Vor einigen Jahren wurde – wie in Düsseldorf mit dem Kö-Bogen – in Münster die letzte große Baulücke geschlossen. Wo ich als Kind mit meiner Familie jahrelang geparkt hatte, wenn wir „in die Stadt“ gefahren sind, steht nun der Komplex „Stubengasse“, der Einkaufsmöglichkeiten und den öffentlichen Raum, ohne diesen zu vergewaltigen, optimal miteinander in Einklang bringt. Dass die Münsteraner das Areal „Stubengasse“ nennen und nicht irgendwie „ShoppingMall3000“, spricht für ihre Bescheidenheit, hat aber auch historische Gründe.

Wo in Düsseldorf in den Kö-Bogen Geschäfte für die finanziell etwas Betuchteren einzogen, zogen in das Münsteraner Pendant, übrigens architektonisch deutlich gelungener, Geschäfte für jedermann ein. Und natürlich ist in Münster alles eine Nummer kleiner, doch was nützt schiere Größe, wenn man sie letztlich doch nicht bewältigen kann?!

Gestern wurde mir wieder einmal klar, wie sehr mir diese Bescheidenheit, dieses typisch Westfälische, fehlt. Nicht, dass ich selbst idealer Repräsentant dieser Eigenschaft wäre (tatsächlich bin ich es, lasse aber zu gerne die andere Seite als Show raushängen), aber ich mag dieses auf dem Teppich Gebliebene, was man in Düsseldorf nicht findet. Zehn Jahre habe ich danach gesucht und nicht gefunden. Der Kern-Düsseldorfer hält sich für etwas Besseres – und: was das Fass wirklich zum Bersten bringt: Er hält sich als Rheinländer für: lustig!!!!!!!!! Als ich das vor zehn Jahren, als ich hier aufschlug, feststellte, schämte ich mich sehr, sehr fremd. Sie glauben, als Rheinländer per se lustig zu sein! Und wenn man ihnen widerspricht, dann werden sie sehr, sehr böse und sehr, sehr beleidigt. Es genügt nicht, im Rheinland auf die Welt zu kommen, um humorvoll zu sein. Man ist es nicht qua Geburtsort. Humor ist die Folge von Tragik.

Genug des bashings. Es ist ja auch nicht fair von mir, mir ein so leichtes Opfer auszusuchen. Die Stadt liegt ja schon am Boden. Ich wollte an sich darüber schreiben, wie ich meine Mitbewohnerin gestern mehrfach beim „Shoppen“ verlor, was uns in zeitliche Schwulitäten brachte, da wir Ehrengäste auf einer abendlichen Feierlichkeit waren.

Aus sehr speziellen Gründen, die ich zu einem späteren Zeitpunkt hier noch publik machen werde, brauchte ich Sportklamotte. Ich hab keine Ahnung, wie man sie nennt, womöglich schlicht „Trainingsanzüge“. Doch ich glaube, heuer haben sie noch englischere Namen. Tracksuit? Was ist ein tracksuit?! Fitness wear?! Ich weiß es nicht. Sportanzug halt. In meinem home gym, so darf ich es wohl inzwischen aufgrund der wöchentlich wachsenden Ausstattung nennen, mache ich im Grunde immer halb nackt Sport. Was soll ich mich groß anziehen, wenn ich schwitze wie ein Berserker?! Doch angenommen, ich käme bald in die Verlegenheit, halböffentlich Sport zu treiben, dann geht das freilich nicht mehr, da brauche ich irgendeine Form der Bekleidung.

Und da auch meine Mitbewohnerin das eine oder andere Teilchen braucht – Sport-BH -, finden wir uns am recht frühen Morgen des Samstags im Münsteraner „Sport Karstadt Karstadt Sport Sports“ wieder, das nebenbei erwähnt etwa viermal so groß ist wie die Düsseldorfer Dependance. Gut, das habe ich mir ausgedacht, weil es mir so Spaß macht, die Düsseldorfer zu provozieren, weil sie sich auch jedes Mal wieder darauf einlassen. Morgen Abend werden sie mit Fackeln und Mistgabeln vor meiner Tür stehen, sofern sie sich in mein Getto wagen – die Polizei tut es nur noch mit Mannschaftswagen.

Dass wir uns nicht falsch verstehen: Man kann hier leben in Düsseldorf. Es ist aber eine genau so normale Stadt wie die meisten anderen auch. Ihrem Anspruch nach sieht sie sich aber in einer internationalen Liga.

Anfangs tingele ich meiner Mitbewohnerin noch hinterher, während sie sich in der Damenabteilung umtut, was ich schnell als langweilig empfinde:

„Findest du es auch so langweilig, mir hinterherzugehen?“, frage ich sie.

„Ja, klar.“

„Ach? Ich stellte mir das immer hochspannend vor!“

„Trennen wir uns doch. Und treffen uns an den Umkleiden?“

„Beim fitting? Ja, da hinten bei den rechten Umkleiden?“

„Ja.“

Keine unwichtige Ergänzung, es gab Umkleiden, fitting rooms, kotz, auf beiden Seiten.

Wie es so meine Einkaufsart ist, habe ich relativ schnell mehrere Teile unter anderemin S, M und L aufgeladen und suche die Umkleiden auf. Nun bin ich in dem als Rondell angelegten Geschäft allerdings sooft im Kreis gelaufen, dass ich nicht mehr weiß, welches Rechts ich denn selbst gemeint hatte. Verweile kurz bei der women’s running wear, kotz, lege meinen Berg Kleidung ab und setze eine „Whatsapp“-Nachricht ab:

„Wo bist Du?“

Natürlich warte ich vergebens auf die Antwort meiner Mitbewohnerin und rufe sie so direkt an. Sie geht dran!

„Ich bin in der rechten Umkleide!“

„Wo ist denn rechts? Links?“

„Wie, wo ist rechts?! Eben nicht links!“

„Ich komme“, sage und lüge ich und lege auf. Setze meinen weg fort zu den Umkleiden und hoffe, bei dieser 50/50-Chance einfach richtig zu liegen.

Ich hasse das Anprobieren von Klamotten. Umkleiden sind meist irgendwie stickig und ich komme schnell durcheinander: Welche Hose ist nun zu groß, welche will ich mitnehmen?! Ich bilde mehrere Stapel: Links kommen die infrage kommenden Klamotten hin, rechts die absolut unpassenden. Doch auch hier irgendwann die Frage: Was war jetzt links, was war rechts?! Also besser nochmal die abgelegte Hose ein zweites Mal anprobieren. Der Spiegel in der Kabine ist natürlich viel zu klein, also gehe ich raus, wo größere hängen.

Großer Gott, denke ich, ich sehe ja aus wie ein Vollasieh, als ich mich da so sehe. Ich trage nie Sportanzüge. Warum zur Hölle sieht das bei anderen so wahnsinnig sportlich aus und bei mir irgendwie nicht? Und was eigentlich sind das für Größenangaben, die ich erst seit einiger Zeit sehe? Da ist M nicht einfach nur M, sondern „M/MD“. Wofür steht das D?! Ich brauche eine zweite Meinung und rufe.

„Hallo?“

Das „Hallo“ ergänze ich um den Namen meiner Mitbewohnerin, was schon befremdlich ist, da ich sie nie bei ihrem Namen nenne. Nur in der Öffentlichkeit. Und da keine Antwort kommt, ahne ich, dass einer von uns beiden bei den falschen Umkleiden ist und ich weiß natürlich, dass ich es bin, der falsch ist.

Und während ich vor der Umkleide mich im großen Spiegel spiegele, sehe ich im Spiegelbild, wie eine schöne Frau in meiner Umkleidekabine verschwindet.

„Moooment!“, rufe ich, „besetzt!“

Sie: „Sorry, dachte, das ganze Zeug hätte einfach jemand liegengelassen. Sind aber mehr als fünf Teile!“

Sie schmunzelt. In der Umkleide hängt der klassische Hinweis „Bitte nur fünf Teile“. Habe ich nie verstanden. Ich habe rund 20 Teile mitgebracht.

„Der passt wohl nicht“, ergänzt sie, als sie mich in dem Sportanzug der aufstrebenden Marke „Under Armour“ mustert.

„Nicht?“, frage ich fast dankbar für die Meinungsäußerung, „Ja, zu groß. Naja, ist ja auch MD. Vielleicht brauche ich S.“

Ich schlage ihr vor, die Kabine zu räumen und ihr zu überlassen, da ich eh in der falschen bin. Nehme also mein Zeugs und schlendere im viel zu großen Jogginganzug durch den Laden. Schuhe in den Händen, während meine Füße in der viel zu langen Hose verschwinden und ich auf Höhe der Ski-Mützen ins Schlawingern gerate.

Eine Verkäuferin kommt auf mich zu.

„Probleme?“, fragt sie.

„Ich klaue nicht“, sage ich sofort, „Ich wechsele nur die Umkleide. Es gab da ein Missverständnis zwischen mir und meiner-“

„Ich bringe dich gerne“, bietet sie an, wodurch ich mir wie ein kleiner Junge im viel zu großen Trainingsanzug vorkomme. Im Scherz frage ich:

„Sehe ich so hilfebedürftig aus?“

Sie lacht: „Ja.“

Während wir also zu den richtigen Umkleiden gehen, weist sie mich auf folgendes hin:

„An sich sehen wir es ja gerne, wenn die Kunden maximal nur fünf Teile mitnehmen.“

„Äh, ich habe mich verzählt. Ich dachte, MD zählt zusammen mit M als ein Teil“, lüge ich in der Hoffnung, dass sie meinem Charme verfällt, was freilich funktioniert, so selbstbewusst darf ich an dieser Stelle sein. So nett ich sie finde, will ich sie aber loswerden, da ich fürchte, Mutterinstinkte bei ihr geweckt zu haben, was meinem Rollenverständnis widerspricht.

Angekommen schlägt sie vor, dass ich weiter anprobiere und sie notwendigenfalls weitere Größenausführen ranholt.

„Wir haben gerade bis zu 70 Prozent auf alles!“, freut sie sich, was mir entgegenkommt, da „Adidas“ immer sehr teuer, aber eben meine Standardmarke ist. Ich bin nun wirklich niemand, der „Alex“ tragen würde. Ich bin Markenfetischist.

Und so addiere ich in der Kabine die auf mich zukommenden Kosten, checke zwischenzeitlich online meinen Kontostand, um dann nachzusehen, ob das von mir Ausgesuchte auch wirklich reduziert ist.

„Ah, im sale!“, rufe ich laut.

„Ja, wir haben sale„, bestätigt mich draußen die Verkäuferin. Ich verdrehe meine Augen ob dieses unseligen Aussdrucks und stelle fest, dass mir eine Hosen-Jacken-Kombination aus Adidas und Under Armour am günstigsten käme. Ich trage also demnächst öffentlich eine Melange aus der Kleidung zweier beinharter Konkurrenten und denke daran, dass ich ja nun auch in Trumps Handelskrieg einsteigen möchte, sodass ich das amerikanische Produkt an sich gar nicht kaufen dürfte.

Während ich also so hadere, höre ich hinter dem Kabinenvorhang:

„Ich übernehme!“

Ah, das ist meine Mitbewohnerin, die weiß, wie sehr ich es hasse, von Verkäuferinnen oder Verkäufern belästigt zu werden. Sie will mich befreien!

Und weil sie auf Knopfdruck, sagen wir mal, seeeehr unfreundlich werden kann, gelingt ihr dieses auch umgehend.

Sie öffnet den Vorhang und guckt mitleidig drein: „Bisschen groß, was?“

„Ja, ich komme hier ja zu nichts. Was ist eigentlich MD?!“

„Du brauchst S.“

„Rrrrichtig. Habe auch S dabei, finde es nur nicht.“

„Du hast den halben Laden dabei!“

„Ja, ist einfacher. Muss ich nicht zwischendurch quer durch den Laden rennen. Gut, also genau das habe ich eben getan. Weil du an der falschen Umkleide bist!“

„Nein, dieses hier sind die rechten, du warst links!“

„Mitbewohnerin, ich bin an sich kurz vor dem Zusammenbruch. Ich überlege, rauszugehen und noch einmal von vorne anzufangen.“

Während ich verzweifele, kommt nun die Kundin der falschen, rechten Umkleide zu uns. In ihren Händen trägt sie meine Jeanshose.

„Hey, sag mal, ist das hier deine Hose?“

„Warum hat die deine Hose?!“, fragt nicht ganz zu Unrecht meine Mitbewohnerin.

„Nun, die Frage ist berechtigt. Es gab da eben Probleme mit der Wahl der Umkleide.“

„Er hat sie wohl vergessen“, sagt die Kundin.

„Es sind mir heute eindeutig zu viele Frauen um mich herum“, stelle ich fest.

„Soll ich gehen?“, fragt meine Mitbewohnerin.

„Nein, nein, es ist nur etwas ungewohnt.“

Ich nehme meine Hose, bedanke mich, ziehe meine Privatklamotte wieder an und verlasse den Umkleidebereich.

„Es hat nicht sein sollen“, bilanziere ich.

Um es abzukürzen: Am Ende des Tages bin ich wider Erwarten erfolgreich und auch meine Mitbewohnerin hat drei Sport-BHs erstehen können, die hinten keinen Verschluss haben, was wohl das große Plus ist.

Später schreibt mir eine Freundin bei Facebook, dass es gute Gründe gibt, dem stationären Handel den Rücken zu kehren; sie bestelle nur online. Ich kann sie ein bisschen verstehen.