Muss ich ein Frauenmagnet sein! Schon wieder! Ich ziehe sie an!

Wegen der heutigen technischen Unmöglichkeit, mir einen Sitzplatz im ICE von Düsseldorf nach Berlin-Gesundbrunnen zu reservieren, placiere ich mich in das Bordbistro, was sich als ausgezeichnete Idee herausstellen sollte. Denn hier habe ich unverschämt viel Platz und muss dazu lediglich einen großen Kaffee über vier Stunden Fahrzeit strecken. Großer Kaffee: Drei Euro 50, Sitzplatz: Vier Euro 50. Reibachseppo!

Als mich diese sensationelle Idee überkam und der Bahnchef davon erfuhr, organisierte dieser eine Blaskapelle, die mich heute Morgen um sieben Uhr am Düsseldorfer Hauptbahnhof mit feierlicher Marschmusik erwartete, um meine Idee und ein wenig auch mich zu zelebrieren. Für die Kinder gab es eine Tombola und Limonade.

Es gibt übrigens eine große Lücke in der Welt des Humors: Es mangelt an Limonaden-Scherzen. Der Begriff „Limo“ ist wie gemacht für heitere zwischenmenschliche Scherze. Das ist ein viel zu selten beackertes Terrain, da muss ich mir auch an die eigene Nase fassen und mich beim Leser entschuldigen. So ich es nicht vergesse, werde ich mich schon bald ins Limonaden-Scherz-Geschäft stürzen. Limo … ich schmeiß mich weg!

„Ein Hoch auf Herrn Flotho!“, rief der Dirigent und die Musikantengruppierung legte los. Während des feierlichen Ufftataas setzte ich mich auf die gitternde Bank auf dem Bahnsteig 18, was aufgrund meiner Hosenkette immer wieder ein Vabanquespiel ist, da diese sich gerne mal in den Gitterzellen verfängt.

Es dauert nicht lange, als der erste Mitbürger des Weges kommt, der mir gegen ein überschaubares Entgelt eine so genannte „Obdachlosenzeitung“ übergeben möchte. Ich lehne ab, zugegebenermaßen sehr wortkarg, was aber auch an der frühen Uhrzeit liegt. Ich beobachte, wie er weiterzieht und den nächsten Mitmenschen behelligt, der ebenfalls ablehnt. Und so komme ich ins Grübeln. Ob es nicht ziemlich anmaßend von mir sei, ihm nicht wenigstens das Entgelt zu überlassen, ohne die Gazette in Anspruch zu nehmen. Was sind für mich schon zwei Euro und was bedeuten sie wohl ihm? Da ich pro Monat vier Mal am Bahnsteig 18 sitze, kämen so Kosten auf mich zu, die unter denen meines „Netflix“-Abos lägen – ich würde nicht Teil des Prekariats.

Doch nun kam jene Dame zu mir, die mich ebenfalls jeden Montagmorgen um einen Euro erleichtern wollte. Sie brauchte das nötige Kleingeld für eine Bahnfahrt, sagte sie. Ich weiß es strenggenommen nicht sicher, aber ich halte das für eine kleine (moralisch vertretbare) Lüge. Sie ist sicherlich in Not. Ich kann ja unmöglich davon ausgehen, dass sie eine organisierte, geschäftsmäßige Geldeintreiberin ist, was es ja wohl auch geben soll. Man hört ja so einiges, was man sich als bequemes Argument für das Nicht-Geben zurechtlegen könnte. Unabhängig davon verneinte ich auch hier ich ihr Anliegen, woraufhin sie mir freundlich einen guten Tag wünschte. Fünf Minuten später kam sie wieder. So verhält es sich jeden Montag. Mein Eindruck ist, dass sie insgesamt wenig Erfolg hatte; ich sah niemanden, der seine Patte zückte.

Ich hätte ihr den Euro geben können, dann wäre ich heute bei insgesamt drei Euro gewesen. Mal vier macht zwölf Euro im Monat, daran gehe ich sicher nicht zu Grunde. Wobei wir das verdoppeln müssen, denn auch dort, wo ich gleich ankommen werde, bittet man mich freundlich um etwas Kleingeld. Ist man moralisch verpflichtet, jedes Mal etwas zu geben? Denn so ehrlich muss ich sein, dass ich mir jedes Mal schlecht vorkomme, wenn ich nichts gebe, deutlich besser, wenn ich was gebe, was ich gelegentlich durchaus tue. Will ich mich allein durch die Frage meiner Moral von dieser freikaufen? Ich weiß die Antwort doch längst!

Mich ärgert das Staatsversagen, das (auch) dahintersteckt. Beispiel Tafeln. Wer würde behaupten, es sei schlecht, dass es sie gibt? Bedürftige erhalten kostenfrei Lebensmittel, die Supermärkte aus seltamen Gründen aussortieren, die somit nicht im Müll landen. Doch leider führen solche Initiativen dazu, dass der Staat, der diese Versorgungslücken eigentlich schließen sollte, dieses nicht mehr tut; es wäre aber seine Aufgabe. Wir leben in einem reichen Land, dessen staatlicher Oberbau die Grundversorgung eben nicht mehr gewährleisten kann – irre! Und weil er – in diesem Punkt – versagt (Der Begriff „Staatsversagen“ wird inflationär benutzt, tatsächlich versagt unser Staat nicht.), denkt sich die großzügige Zivilgesellschaft Dinge wie den Pfandring aus, damit sich „Abgehängte“ nicht mehr über die Mülleimer beugen müssen, um den Wohlstandsmüll herauszufischen, dessen Pfandhöhe manchem zu niedrig ist, um die entsprechende Flasche am Pfandautomaten einzulösen: Ich halte das für absolut widerlich und möchtegerngutmenschlich. Pfandringe sind blanker Hohn, sie sind das Auslachen der Armen durch die „wohltätigen“ Reichen. Doch sind beide Systeme – Pfandring und Tafeln – erst einmal da, sind sie eben nicht mehr ersetzbar und der Wohlfahrtsstaat fein raus.

Nun gut, ich verfehle gerade kollossal das Thema, denn eigentlich geht es doch um meinen luxuriösen Sitzplatz im Bordbistro, das übrigens etwas vollkommen anderes ist als ein „Bordrestaurant„, wobei ich den Unterschied noch nicht begriffen habe. Und natürlich möchte man meinen, dass ich künftig immer auf meine Platzreservierung verzichten (Ich sparte dann vier Euro 50, die ich am Bahnsteig ja anderen überlassen könnte …) und mich ins Bistro setzen könnte. Leider denken sehr viele Menschen so, sodass das Bistro meist überfüllt ist – heute aber hatte ich Glück.

Bis Bielefeld hatte ich einen Vierertisch für mich allein, was ich als unverschämten Luxus empfand, den ich aber durchaus verdient habe, denke ich an meine vergangene Zugfahrt zurück, bei der ich mir wie ein Pfandring vorkam. In Bielefeld nahm mein Platzüberschuss allerdings sein jähes Ende, zwei Mädels setzten sich zu mir. Die eine langhaarig und blond und die andere eher mein Fall: dunkelhaarig und nicht ganz so langes Haar. Wobei mir Haarlänge immer einigermaßen egal ist und die Farbe auch. Blicke ich aber zurück auf jene Damen, die mir meinen Kopf in Drehung versetzt haben, sehe ich bis auf eine Ausnahme ausnahmslos nur brünette Vertreterinnen. Und auch diese Dunkelhaarige gefiel mir ziemlicht gut. Sehr nettes Gesicht, irgendwie normal. Ich stehe auf normal. Ich habe das Gegenteil erlebt. Ich sehne mich geradezu nach normal. Und natürlich, ich habe mich mit der optischen Erscheinung der beiden ganz offensichtlich beschäftigt. Wer täte das nicht?!

Mir war sofort klar, wer von den beiden Mädels das Sagen hat, das Alphatier ist: Es war die Blonde. Sie gab den Ton an, dem sich die Dunkelhaarige merklich unterwarf. Die Blonde traf Aussagen, die Dunkelhaarige stimmte grundsätzlich zu und es war nicht zu übermerken, dass die Blonde auch nichts anderes erwartet hat. Widerspruch schien sie mir nicht zu dulden, was die Brünette vermutlich schon einmal lernen musste.

Die Blonde sah sehr hübsch aus, war aber nicht mein Fall. Sie war auf die Weise hübsch, die man womöglich bei „Germany’s next Topmodel“ trifft, die ich aber irgendwie als aalglatt, als belanglos empfinde. Sie war mir zu makellos, zu nullachtfünfzehn irgendwie – ich kann es schwer begreiflich machen. Und innerhalb weniger Sekunden wurde sie mir abgrundtief unsympathisch – wie auch ihre Freundin mit den an sich so mich ansprechenden Rehaugen.

Oder Arbeitskollegin, ganz klar wurde mir das nicht, bis die beiden in Hannover ausstiegen. Doch sie haben es in der Kürze der Zeit geschafft, ein Klischee zu bestätigen: Frauen lästern. Frauen lästern gnadenlos. Und leider völlig durchschaubar. Diese beiden haben innerhalb weniger Minuten über acht Personen hergezogen, aber oftmals vorab ein „Er/sie ist ja sooo ganz nett“ geschoben, um dann zu begründen, warum er oder sie eine Unmöglichkeit an Mensch ist. Ich saß hier teilweise fassungslos neben den beiden und hörte gebannt zu, als ich zumindest dem Anschein nach die neue „Men’s Fitness“ mit Gerard Butler auf der Titelseite las. Die Blonde legte stets vor, die Brünette bestätigte. Ein einziges Mal versuchte sie, Partei für das dritte Opfer zu ergreifen, ließ sich aber schnell von der Blonden vom Gegenteil überzeugen.

Erschreckend fand ich das stetige Kleinbeigeben der Brünetten, die möglicherweise verkannt hat, was das Problem am Lästern ist. Diese beiden haben sich durch Abgrenzung von ihren Opfern zu einer Allianz zusammengetan, innerhalb derer sie sich sicher fühlen. Die Brünette mag gedacht haben, sie sei bei der Blonden nun besonders beliebt, habe diese auf ihrer Seite. Ich interpretiere hier freilich nur, denn wirklich wissen kann ich nichts. Abere man darf ja mal sinnieren. Doch nun das Problem:

Wann immer mir gegenüber jemand über eine dritte Person lästert, gehe ich umgehend davon aus, dass derjenige gegenüber der dritten oder einer vierten Person natürlich auch über mich lästert. Da ist also immer Vorsicht geboten! Aus diesem Grunde vermeide ich selbst das Lästern, was mir natüüüüüürlich nicht immer gelingt, schon gar nicht gegenüber mir sehr nahen Menschen, denen ich voll vertraue; bei denen lege ich dann aber umso mehr los. Deren gibt es zwei, die eine ist meine Mitbewohnerin. Doch nie habe ich es erlebt, dass zwei Männer untereinander so gnadenlos über andere herziehen wie ich es bei vielen Frauen manchmal sehen darf. Es fielen da eben Begriffe und Vergleiche, die mich aus semantischer Sicht staunen machten, jedoch inhaltlich unter aller Kanone waren. Und so wie die Blonde sich über eine Dritte belustigte, so wird sie es in anderer Konstellation auch über die Brünette tun. Oder aber Blondie verkennt den Boomerang-Effekt: Im besten Fall ist sie bekannt für ihre Art und selbst größtes Opfer von Lästereien, die hier allerdings eher in Beschimpfungen ausarteten. Und ganz nebenbei wunderte mich, dass ihnen völlig egal war, dass das ganze Bistro zuhören könnte. Einigermaßen schamlos, allein das ließ mich tief blicken.

Oha, hier kommt gerade jemand vorbei, den ich kenne. Wie klein ist bitte die Welt? Es ist Herr Schontermann. Kurios. Verfolgt er mich?! Ich verstecke mich hinter meiner Zeitung. Er will seit einigen Wochen irgendwas von mir, aber ich habe keine Ahnung, was. Ich weiß nicht einmal, wer er eigentlich ist.

„Herr Flotho!“

Verdammt. „Ah, hallo, Herr Schontermann! So klein ist die Welt.“

„Ich habe nun weißgott keine Zeit, Herr Flotho. Ich muss meinen Zug bekommen“, sagt er und hastet in den nächsten Waggon. Was ist hier los?!

Aus der ersten Klasse, direkt neben dem Bordbistro, höre ich Marschmusik. Lenkt mich doch sehr vom Denken ab. Ich muss hier schließen, nicht ohne darauf hinzuweisen, dass mir bewusst ist, dass dieser Text keine neuen gesellschaftspolitischen Erkenntnisse enthält, und darauf, dass Frauen tolle Vertreterinnen ihres Geschlechtes sind.