„Ich habe jetzt schon keine Lust mehr!“, sagt meine Mitbewohnerin, als wir nach langem Suchen endlich den Eingang vom größten Supermarkt der Welt gefunden hatten.

„Du wolltest am Anfang auch nie ‚Alf‘ hören und nun hören wir seit zehn Jahren nichts anderes mehr zum Einschlafen. Du musst offener sein“, erkläre ich ihr gewohnt oberlehrerhaft.

Es ist Samstagnachmittag. Am zurückliegenden Donnerstag hat in Düsseldorf nach dreijähriger Bauzeit ein hochmoderner Supermarkt unter der Marke „Edeka Zurheide“ eröffnet. Hinter uns liegen drei Jahre, in denen wir, insbesondere ich als großer Freund des Konsums, der ja Antrieb unseres unumstrittenen Wohlstandes ist, maximal hohe Erwartungen an den neuen Konsumtempel aufbauen konnten. Befeuert wurden die durch eine Pressemitteilung des Einzelhändlers, in der es unter anderem heißt:

Wie ein Phönix wird die neue Dependance im März aus dem Bauschutt des alten Kaufhofes steigen, der für diesen Zweck rekultiviert wurde – in ein 12.000 Quadratmeter großes Schlemmer-Schlaraffenland.

[…]

Den Masterplan für den Supermarkt der Zukunft hat die Natur selbst erstellt. Er ist zugleich Bauplan für unseren Traum von einer besseren Welt.

Ist es mir also vorzuwerfen, dass ich unter dem Deckmantel des Konsums wirklich eine bessere Welt erwartet habe?! Wohl kaum.

Natürlich ist es ein Fehler, das neue Schlaraffenland ausgerechnet an einem Samstag kurz nach dessen Eröffnung aufzusuchen, doch nachdem der Laden tags zuvor wegen irgendeiner Brandschutznummer evakuiert werden musste, sah ich es als meine Konsumentenpflicht, durch meinen Besuch ein Zeichen zu setzen: Ja, ich vertraue der Brandschutzanlage. So sollten die Düsseldorfer sehen, dass, wenn ein Starblogger (unbekannt auch aus Funk und Fernsehen) sich unter die Leute mischt und den neuen Konsumtempel besucht, dieser absolut sicher sein muss – auch für den Pöbel.

„Was brauchen wir eigentlich?“, fragt meine Mitbewohnerin.

„An sich brauche ich nur diesen seltsamen Käse für meinen ‚Bigmac‘-Auflauf.“

„Dann lass uns zur Käsetheke und dann wieder raus. Es ist viel zu voll hier. Und zu groß.“

„Das ist nicht einfach nur groß hier, das ist der nötige Freiraum, den freidenkende Konsumenten wie ich benötigen, um nicht irgendwelche Fehlkaufentscheidungen zu treffen. Außerdem soll man hier hervorragend essengehen können. Hier irgendwo auf diesen drei Etagen muss ein Restaurant sein“, erkläre ich der Marktwirtschaftsskeptikerin.

„Dann lass uns erst was essen. Wo ist das Restaurant?“

„Weit kann es ja nicht sein. Vermutlich oben.“

Zielstrebig steuern wir die Rolltreppe an.

„Rolltreppe! Wahnsinn! In einem Supermarkt!“, sage ich.

„Hat der ‚Real‘ doch auch … Müssen wir jetzt rechts oder links?“, fragt sie.

„Ich weiß nicht. Links, wir müssen links.“

Vor uns tut sich eine Art Waschsalon auf. Genau können wir es nicht sagen. Dort steht eine Dame, die uns bestimmt mitteilt: „Hier kein Durchgang!“

„Wie?! Aber die Rolltreppe!“, ich empört, aber freundlich.

„Nix Rolltreppe. Hier ist die Betriebswäscherei. Sie haben hier nichts zu suchen!“

Meine Mitbewohnerin zerrt an meiner Jacke: „Rechts, wir mussten rechts.“

„Klare Fehlplanung des Architekten. Wir sind sicher nicht die ersten, die sich hier hin verirrt haben“, bemängele ich.

„Doch, sind Sie“, erklärt uns die Waschfrau.

Wir gehen also zurück, wählen die rechte Seite des Scheideweges und gelangen endlich auf die Rolltreppe, stellen jedoch fest, dass wir in einem relativ menschenleeren Stockwerk landen.

„Hier ist niemand, Seppo.“

„Nun, auf dem ersten Blick vielleicht nicht.“

„Und auf dem zweiten?“

„Auf dem zweiten Blick … Moment, das ist das Parkdeck. Der Supermarkt hat gar kein Obergeschoss. Wir müssen wieder runter.“

„Ich hasse große Supermärkte!“, raunzt meine Mitbewohnerin.

„Dieses ist ja erstmal nur ein Parkdeck.“

„Wenn wir wenigstens den Käse schon hätten.“

Wir nehmen die Rolltreppe wieder runter. Meine Mitbewohnerin steht hinter mir und ich merke, mir entgleitet der heitere Samstagsausflug.

„Ich gebe zu, hier läuft viel Düsseldorfer Oberschichtengeschmeiß rum“, sage ich ihr. Drehe mich um und erschrecke. Denn es ist nicht meine Mitbewohnerin, die da steht, sondern eine Dame, die mindestens das Label „Oberschicht“ auf sich bezogen hat.

„Sie können ja zu ‚Netto‘ gehen!“, sagt sie, was ich im Nachhinein ziemlich genial finde, denke ich an die Werbung, in der das Kind ruft: „DANN GEH DOCH ZU ‚NETTO‘!“

Unten angekommen erwartet mich meine Mitbewohnerin. Ich frage:

„Wie ist das möglich?!“

„Ich hab den Aufzug genommen.“

„Nun gut, ich nehme an, das Restaurant ist im Kellergeschoss. Sollten wir beim Käse vorbeikommen, nehmen wir den direkt mit.“

Es ist brechend voll. Wir passieren eine riesige „Lindt“-Abteilung gleich neben der „Haribo“-Abteilung. Ich nehme an, dass es hier jedes erdenkliche Produkt jeder erdenklichen Marke gibt. Es sieht alles schön aus, gar keine Frage, aber ich greife dennoch nicht zur Lindt-Schokolade.

„Haribo ist scheiße“, sagt meine Mitbewohnerin beiläufig.

„Ach, ich mochte seine frühen Werke.“

Wir gehen weiter und stehen nach zehn Minuten im Lindt-Pavillon.

„Sie haben sogar zwei Lindt-Abteilungen!“, staune ich.

„Seppo! Das ist dieselbe. Wir sind im Kreis gelaufen.“

Es ist wirklich brechend voll. Darum bekommt auch niemand mit, wie ich mit unserem Einkaufskorb, der nach wie vor leer ist, im „Ferrero“-Regal hängenbleibe und eine Charge „Rocher“ aus diesem räume, die auf dem Boden landet.

„Weitergehen“, zische ich meiner Mitbewohnerin zu, „Das haben die eingepreist. Und es hat niemand gesehen. Selbst schuld, wenn die so viele Kunden auf einmal reinlassen.“

Nur wenige Sekunden später werden wir Zeuge, wie eine ältere Dame sich über einen Wurst-Aufsteller beugt, dabei irgendwie stolpert und gesichtüber in den Schinken kracht.

„Weitergehen“, zische ich meiner Mitbewohnerin zu, „Nicht, dass wir noch helfen müssen. Die Frau ist weißgott alt genug, sich um sich selbst zu kümmern. Selbst schuld, so gierig, wie sie sich an den Schinken rangemacht hat.“

„Das kenne ich ganz gut von dir“, zwinkert meine Mitbewohnerin mir zu.

Wir kommen an der monumentalen Champagner-Bar vorbei und nun geschieht etwas wirklich seltsames. Wir treffen meine Eltern. Die folgende Geschichte stimmt, sie ist nicht ausgedacht.

Meine Eltern wohnen an sich in Münster. Gelegentlich besuchen sie uns, so wie wir auch sie besuchen. Dass wir sie aber nun hier treffen, ist durchaus ungewöhnlich.

„Mama? Papa?“, frage ich bass erstaunt.

„Sebastian!“

„Was macht ihr hier?!“

„Wir kaufen ein. Wir wollten uns den Laden mal ansehen. Waren eben ein bisschen am Rhein.“

„Da sagt ihr nicht Bescheid?“, frage ich, „Jetzt seid ihr aber unangenehm überrascht!“

„Das ist fast so, als würde man seinen Sohn im Puff treffen“, scherzt mein Vater.

„Nein, im Ernst! Wir wohnen keinen Kilometer von hier entfernt!“, sage ich.

„Wir haben dich angerufen, Sebastian. Mehrfach“, erklärt meine Mutter.

„Nein, ausgeschlossen. Ich habe keinen Anruf von euch auf meinem Handy.“

Und dann dämmert es mir. Seit etwa Januar ruft regelmäßig eine 0157-Nummer auf meinem Handy an. Weil aus meinem Telefon eigentlich nie gute Nachrichten kommen, gehe ich bei mir unbekannten Rufnummern nicht dran. Das halte ich bei dieser 0157er seit Januar konsequent durch. Wenn’s was Wichtiges wäre, würde derjenige mich schon auf andere Weise erreichen. Kann also nichts Dringendes sein.

„Sagt mal, hat einer von euch eine neue Nummer? 0-1-5-7 am Anfang?“, frage ich.

„Ja, ich“, sagt meine Mutter, „Weißt du doch!“

„Weiß ich nicht! Habt ihr mir nie mitgeteilt!“

„Und ich wunderte mich schon, dass ich dich immer nur von Papas Handy aus erreiche!“, erklärt meine Mutter, die mit „Papa“ natürlich nicht ihren, sondern meinen meint.

„Und dann sagst du nicht mal was?! Seit wann hast du eine neue Nummer?“

„Och, schon ein, zwei Jahre.“

Dazu muss der Leser wissen, dass ich meist meines Vaters Handy oder eben den Festnetzanschluss anwähle, wenn ich meine Eltern erreichen will. So richtig klar war mir eh nie, dass sie zwei Handys haben.

„Bisschen groß der Laden“, sagt mein Vater, „Aber man soll hier gut essen können!“

„Ja, wir suchen gerade Käse und das Restaurant“, mischt sich meine Mitbewohnerin ein.

„Wir wollten jetzt mal ins Obergeschoss gucken“, schlägt mein Vater vor.

„Da kommen wir gerade her. Da kann man ganz gut parken. Wir verorten das Restaurant im Keller“, werfe ich ein, „Seid ihr schon am Käse vorbeigekommen?“

„Nein, aber sie haben hier zwei Lindt-Abteilungen. Wir haben für Ostern Hasen gekauft. Ihr könntet eure eigentlich direkt mitnehmen“, so mein Vater.

„Siehst du, es sind doch zwei Lindt-Abteilungen!“, triumphiere ich.

„Unsinn“, meine Mutter, „Wir sind im Kreis gelaufen. Von wegen, Männer und Orientierung.“

„Habt ihr die Frau gesehen, die in den Schinken gestürzt ist?“, frage ich belustigt.

„Ich stand daneben. Das war deine Mutter“, erklärt trocken mein Vater.

Betreten gucken wir alle auf den Boden, bis meine Mitbewohnerin das Eis bricht:

„Auf zum Atom!“

„Was?“, fragt der Familienzweig Flotho im Chor.

„Nach unten, zum Restaurant!“, erklärt meine Mitbewohnerin, die meine Eltern übrigens sehr mag.

Zusammen drängen wir uns zur Rolltreppe, dieses Mal zu der, die nach unten führt. Wir finden uns in einer grotesk großen Drogerie-Abteilung wieder.

„Braucht jemand Zahnpasta?“, fragt mein Vater.

Derweil nimmt meine Mitbewohnerin die Dinge in ihre Hand und fragt einen Handlanger nach dem Restaurant. Der Handlanger deutet auf das andere Ende der Ebene und wir gehen vorbei an meterlangen Weinlandschaften, bis wir vor einer Menükarte stehen. Neugierig studieren wir die Preise und beschließen, dass wir uns zuhause etwas bestellen.

„70 Euro für ein Steak, ich glaube, es hackt bei euch Düsseldorfern!“, schimpft mein Vater.

„Ich distanziere mich von Düsseldorf!“, erkläre ich, „Würde mich nicht wundern, wenn ich bald wieder in Münster wohne …“

Desillusioniert gehen wir zurück zur Rolltreppe.

„Nicht mal meinen beschissenen Käse haben die“, mosere ich.

„70 Euro …“, mein Vater.

„Und du bist jedes Mal nicht drangegangen, wenn ich dich angerufen habe?!“, meine Mutter.

„Ich hatte befürchtet, es wäre mein alter Boss, Herr Koenig“, rechtfertige ich mich.

„Hieß der nicht Kais-“

„Da!“, ruft meine Mitbewohnerin, „Da sind die Kassen!“

Möglichst unumständlich schieben wir uns an den future-Kassen vorbei. Mehrfach erklärt mein Vater den Kunden und Mitarbeitern: „Wir haben nichts gekauft. Wir wollen nur raus. 70 Euro!“

Meine Mutter guckt peinlich berührt in eine andere Richtung, ein Verhalten, das ich immer öfter auch bei meiner Mitbewohnerin beobachte. Also frage ich sie:

„Bin ich dir manchmal peinlich?!“

„Hm? Ach, was, nein.“