Ein großer Raum. Lichtdurchflutet von der ostdeutschen Sonne, die sich in diesen nachösterlichen Tagen anschickt, den Frühling einzuläuten. Doch in den zurückliegenden vier Wochen habe ich allmontaglich eben diesen ausgerufen, um am Dienstagmorgen doch wieder durch Schnee zu joggen. Darum bin ich vorsichtig geworden; genieße die zarte Vitamin-D-Dosis mit Zurückhaltung, denn es gilt wie immer die Weisheit: Im April kann es noch schneien.

Raum für Gedanken, da der physische Raum, in dem ich sitze, ausschließlich von Sonnenschein durchdrungen wird, nicht aber von Geräuschen. Es herrscht absolute Stille. Und das wäre nicht weiter verwunderlich, säße nur ich in diesem sehr großen Raum. Wäre ich alleine, fehlte jeder Ansprechpartner. Würde ich gelegentlich mit mir selbst reden, da es ein enormer Genuss ist, mir zuhören zu dürfen. Mitunter lausche ich mir stundenlang, um mir danach den angemessenen Applaus zu spenden.

Doch das ist in diesem Moment unangebracht, wäre unangebracht. Da ich nicht alleine bin. Mir gegenüber sitzt jemand. Ihn kenne ich seit ziemlich genau zehn Jahren. Anders als den Dritten im Raume, von dem ich noch nicht so viel weiß. Das verhält sich auch umgekehrt so, was ich daran merke, dass er mich nicht selten zwei- bis dreimal pro Tag begrüßt. Ich finde das humorig, weiß aber natürlich, dass das dieser meiner seltsamen Unscheinbarkeit geschuldet ist. In dem Zusammenhang empfehle ich den Film „Eine Insel namens Udo“ mit Kurt Krömer in der Hauptrolle.

Nun sitzen wir hier. Jeder tippt etwas auf einem Eingabegerät herum, aber niemand spricht. Ich könnte ja den Anfang machen. Mit:

„Was für ein Wetter! Könnte Frühling werden!“

Aber dann schneit es morgen wieder. Wenn ich das ausspreche. Und außerdem bin ich unfähig zum small talk, weil dem stets eine Komik inne ist, über die ich nicht einfach hinwegsehen kann. Unmöglich kann ich über Dinge sprechen, nur um überhaupt irgendwas zu sagen. Auch das Gegenüber wüsste ja, dass nur um des Sprechens willen gesprochen würde. Doch offen ansprechen würde man genau das nicht. Ich hingegen eigentlich schon, weil ich es anders nicht ertrüge. Stille aber, die sollte man ertragen können.

Alle drei in diesem Raume denken vermutlich dasselbe. Dass es unangenehm ist. Dass die Stille sogar etwas bedrückend wirkt. Drei ausgewachsene Männer – und keiner spricht. Ich werde wirklich nicht den Anfang machen. Nicht, bevor ich mindestens dreimal von derselben Person begrüßt worden bin. Wie kann ich so unscheinbar sein?! Beim ersten Gruße gibt es stets einen Faustkontakt (!) und ich blicke meinem Gegenüber offensiv ins Gesicht. Er müsste mich also beim ersten Mal eigentlich schon gesehen haben. Habe ich ein Allerweltsgesicht, was auch immer das ist?! Mindestens mein Vollbart im Zusammenspiel mit der Vollglatze müsste doch markant genug sein, dass er mich beim zweiten Zusammentreffen wiedererkennt! Aber nein, er glaubt, mich zum ersten Mal zu sehen und – grüßt abermals.

Es stört mich nicht. Es belustigt mich. Ich erlebe das nicht zum ersten Mal. Und es hat ja Vorteile. Unter dem Radar lässt es sich besser beobachten. Man entwickelt Antennen und ein Gespür für Zwischenmenschliches, für soziales Geschehen, das nicht sofort sichtbar ist. Man sammelt diese Erfahrungen. Und sie können einem nutzen. Das ist dann oftmals für viele ein Überraschungsmoment. Und ich meine nicht unbedingt einen negativen, was aber auch der Fall sein kann. Womöglich wirke ich teilnahmslos. Bin aber das Gegenteil.

Noch immer herrscht die Stille. Sie wurde jedoch zwischenzeitlich unterbrochen, als eine vierte Person den Raum betrat. Sie durchbrach das Eis mit:

„Krass warm! Von fünf Grad auf 20!“

Tja, sie, die Person, hat das naheliegende Thema verwandelt. Ich tue mich immer schwer, das Offensichtliche auszusprechen. Es ist ja offensichtlich! Aber er hat Recht. Von fünf Grad auf 20 – Wahnsinn.

Ich piene einen Kaffee. „Pienen“ ist Münsteraner slang, Masematte genannt, eine alte Händlersprache, die Anleihen aus dem Jiddischen nimmt. Pienen meint trinken. Und so trinke ich meinen Kaffee, der der fünfte an diesem Tag ist, weil mein Kaffeekonsum keine Grenzen mehr kennt. Andere spritzen sich Drogen, ich piene eben Kaffee, das kleinere Übel. So muss man die Dinge sehen, nicht immer nur das Negative. Dazu allerdings hat der Mensch keinen Hang. Heute Morgen, als es genau so still war wie jetzt, las ich einen Artikel in der „Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung“; darüber, dass sich die großen Dinge der Menschheit durchweg positiv entwickeln, der Mensch sich aber lieber mit dem Negativen auseinandersetzt, was sicherlich in irgendeiner Form mit der Evolution begründet werden kann. Es ging da um einen schwedischen Autoren, der eine Fülle von Trends zusammengetragen hat: Hunger, Wassernot, Kindersterblichkeit, Terrorismus, Kriege, Gewaltverbrechen und so weiter. Alles entwickelt sich positiv, all diese Dinge nehmen ab. Während sie in unserer Wahrnehmung zunehmen. Die Menschheit entwickelt sich positiv. Da ist noch ein langer Weg vor ihr, aber der Trend stimmt. Doch viele Menschen befassen sich nicht damit. Sie finden lieber alles ein bisschen kacke, jammern rum und wählen dann AfD.

Die Person neben mir stößt auf. Wie unangenehm. Das bei dieser Stille! Alle lassen es unkommentiert. Ist ja auch okay, ist menschlich. Ein Magenknurren wäre jetzt toll. Sofort würde ich nicht so etwas sagen, wie

„Da hat aber jemand nicht gefrühstückt!“

Das wäre ein absolut überflüssiger, verfloskelter Spruch. Allein sein theoretisches Durchspielen macht mich schon aggressiv. Ich wünsche nahezu, dass jetzt mein Magen knurrte!

Ich werde die Stille weiter genießen. Erinnert sie mich doch an meinen treuen Begleiter, meinen Tinnitus. So gesehen kenne ich absolute Stille nur aus der Erinnerung. Denn fiepen tut’s ja irgendwie immer. Aber kein Grund zu klagen. Andere Menschen stehen im Angesicht der ewigen Stille.