Meine ersten zwei Lebensjahrzehnte war ich im Grunde eine Wurst. So jedenfalls würde ich mich retrospektiv bezeichnen und vermutlich habe ich es damals auch schon mindestens geahnt. Doch ein gesunder Selbstschutz bewahrt uns ja, sofern im Hirn biochemisch alles störungsfrei abläuft, davor, dass wir uns tatsächlich so sehen, wie wir sind, also nicht so, wie uns manch andere sehe – unser Selbstbild hat mit der Realität sehr wenig gemeinsam. Ich zum Beispiel kann unmöglich wirklich so toll sein, wie ich mich selbst finde. Wahrscheinlich bin ich noch viel toller! Eine Zehnerpotenz sollte hier angemessen sein.

Im Alter von irgendwo unter 20 Jahren ist unser Körper in der Regel per se noch relativ frisch und fit. Den sexuellen Höhepunkt erreicht der Mann mit 17, las ich mal, wonach er mit 30 schon wieder auf dem absteigenden Ast wandelt. Somit bin ich längst drüber, muss jedoch sagen, dass ich mit 17 sexuell wenig umtriebig war, sofern wir die Selbstbefriedigung einmal außen vor lassen, da sie das Bild arg verzerren würde. Bei Frauen allerdings feierte ich einen Misserfolg nach dem anderen, was ich mir – Selbstschutz! – damit erklärte, dass ich mir immer Frauen aussuchte, die in ganz anderen Ligen beischliefen; weit über meiner. Doch mit etwas Abstand betrachtet war wohl eher der Grund, dass ich eine Wurst war.

Das klingt sehr negativ. Barg aber das positive Potenzial, noch sehr viel Luft nach oben ausschöpfen zu können. Das habe ich dann auch getan …

Der Schulsport war eine Ansammlung bitterer Jahre für mich. Mir erklärte es sich nie, warum ich mit einem so unberechenbaren Gerät wie einem Ball in Interaktion treten sollte. Bälle sind wie Kleinkinder, man weiß nie, in welche Richtung sie als nächstes rollen, und meist tritt man daneben. Ich zumindest. Während meine Schulkameraden zielstrebig auf den Ball, ob beim Fuß- oder Korbball, zurannten, rannte ich ungleich zielstrebiger vom Ball davon. Dass auch diese Flucht eine enorme körperliche Anstrengung war und mir einiges an Koordinationsvermögen abverlangte, hat keiner meiner Sportlehrer erkannt. Und so war ich immer einer der schnellsten auf dem Spielfeld, auch wenn ich stets in die entgegengesetzte Richtung rannte: Keinesfalls wollte ich in die Verlegenheit kommen, einen Ball in das so genannte Tor oder den Korb katapultieren zu müssen. Rollte ein Ball auch nur in Schrittgeschwindigkeit auf mich zu, war es mir unmöglich, seine weitere Rollbahn vorherzusagen. Nur alibimäßig bewegte ich also – im Falle des Fußballs – mein rechtes oder linkes Bein nach hinten, um es dann schwungvoll wieder nach vorne zu werfen in der Hoffnung, dass der zugehörige Fuß irgendwie mit dem Ball kollidiert.

Aber es fühlt sich irgendwie scheiße an, ins Leere zu treten. Besonders Wurstige verlieren dabei noch das Gleichgewicht und fallen nach hinten hinüber. Mit derartigen Einlagen erntere ich meine ersten Ovationen.

Ich war kein Außenseiter und nicht das, was heute womöglich Opfer genannt wird. Ich hatte das wirklich große Glück, mich selbst darüber lustigmachen zu können, den anderen den Wind aus den Segeln zu nehmen, da meine Witze über mein Unvermögen immer eine Spur besser waren als die der anderen. Auf diese Weise kann man sich durchaus eine zarte Form von Respekt verschaffen.

Heute mache ich das ähnlich. Mit dem Unterschied, dass ich dem heute gegebenenfalls noch eine aggressive Komponete beifügen würde, da ich anders als früher mich keineswegs mehr als Wurst bezeichnen würde. Heute bin ich das, was ich nie zu werden erwartet hatte.

Im Frühjahr 2002, da war ich 22 oder 23, habe ich festgestellt, dass ich körperlich zu einer Art Teig geworden bin. So eine Art Weißbrot. Außen weich und innen … auch. Ich überlegte damals, wie sich dieser Zustand wohl innerhalb der kommenden Jahrzehnte entwicklen würde, und sah ein wassergetränktes Brötchen vor meinen Augen, das bestenfalls noch für die Zubereitung eines Hackbratens Nutzen stiftet. Offenbar entwickelte ich, warum auch immer!, ein Idealbild von mir, das mit dem Realbild absolut nichts zu tun hatte. Initialzündung war ein Zug, dem ich am Bahngleis in Göttingen hinterherhechten musste. Den Waggon tatsächlich noch erreicht, war ich dem Tode unangenehm nahe: Ich realisierte, dass ich zu schwach bin, um auch nur wenige Meter einem Regionalexpress hinterherzurennen. Einem solchen, der stand. Und da wurde mir bewusst, dass ich mit 40 ein absoluter Lappen zu werden drohte. Ein Teiglappen. Eine Calzone. Außen Teig, innen Organe. Ich gehöre nicht zu denen, die den Körper als Tempel bezeichnen würden, da nur ein Tempel ein Tempel ist, und es ist viel zu hochtrabend klingt. Ein Körper ist erst einmal einfach nur eine Bedingung. Doch sehe ich es absolut inakzeptal, den eigenen Körper verkommen zu lassen. Die Dinge, die ich beeinflussen kann, will ich auch beeinflussen. Ich könnte es mir nicht verzeihen, mit 40 oder 50 – mein Gott, ich bin ja bald schon 40! – mit einem Bierbauch den ganzen Tag nur zu sitzen. Diese Zivilisationskrankheit akzeptiere ich keinesfalls. Mein hehres Ziel ist es, mit 80 noch mobil zu sein; wohl wissend, dass es genug Dinge gibt, die einem bei aller Anstrengung einen Strich durch die Rechung machen können. Ein Sturz beim Laufen genügt ja schon. Oder eben eine bedrohliche Krankheit. Nicht alles hat man in seiner Hand. Demut ist ein empfehlenswerter Begleiter der Zielstrebigkeit.

Ich nahm eine Sportart in Angriff, die fast jeder beherrschen könnte: das Laufen. Ich freue mich, dass ich mich heute, 16 Jahre später, noch an meinen allerersten Lauf um den Münsterraner Steinersee erinnern kann: Nach einem Kilometer brach ich zusammen und ging den Restweg nach Hause. Doch wie das beim Laufen so ist, kann man sich es schnell draufschaffen: Etwa 20 Zusammenrüche später bewältigte ich den kompletten See, bevor ich ihn letztlich neunfach umrundete. Ich denke gerne daran zurück, feierte ich damals doch einen Erfolg nach dem anderen. Vielleicht gibt es cainen anderen Sport, bei dem man so schnell Fortschritte spüren kann. Bei dem man so schnell merkt, dass man besser wird, leistungsfähiger, ausdauernder!

Ich hatte allerdings gehofft, ich würde dabei auch ein paar Kilos abnehmen. Doch entgegen landläufiger Meinung ist Laufen kein Sport, bei dem man besonders an Gewicht verliert. Man verbrennt auch nicht besonders viele Kalorien dabei, auch wenn man – wieder ein Mythos, der Gegenteiliges sagt – vom ersten Schritt an auch Fett verbrennt. Nur eben nicht sehr viel. (Um es kurzzumachen: Muskeln verbrennen Fett. Wo keine Muskeln, da keine Fettverbrennung. Je mehr Muskeln, desto höher der Grundumsatz. Wer seine Muskeln trainiert, verbrennt sogar Fett im Ruhezustand. Dazu später mehr, im zweiten Teil.)

Doch im Wesentlichen ging und geht es mir beim Laufen um etwas anderes: um das Setzen von Zielen. Um das Gefühl der Freiheit währenddessen. Um die Endorphine. Denn Laufen macht glücklich. Es kann noch so scheiße laufen in meinem Leben – während eines Laufes sehe ich die Dinge positiv.

Laufen kann sehr emotional werden. Erst vor drei Wochen durchlief ich nach fast zehn Jahren wieder eine Gegend, die ich mit meinen ersten Läufen in Düsseldorf verbinde. Plötzlich wurde mir bewusst, dass ich laufe und laufe und laufe, zehn Jahre älter dabei geworden bin, in denen sich vieles verändert hat. Und doch laufe ich und laufe ich. Dieses Laufen wurde mir plötzlich als Konstante in meinem Leben bewusst. Alles kann sich verändern, doch letztlich kann man es mir nicht nehmen, zeitlos weiterzulaufen, als wäre nichts gewesen. Ich behaupte, nur Läufer können nachvollziehen, was ich meine.

Laufen macht freilich durchaus fit. Der Körper wird lockerer; auch im Alltag bewegt man sich anders, was dem besseren Koordinationsvermögen zu verdanken ist. Auch das ist ein schwerwiegender Grund weiterzulaufen.

Und dann kam die Genugtuung. Mit 25 hatte ich bereits den Ruf des Typen, der angeblich fünf Mal pro Woche läuft. Geglaubt hat mir das kaum einer und auch heute nehmen mir das die wenigsten ab. Anders als früher stört mich das nicht mehr, denn auch das kommt mit dem Laufen: ein unerträgliches Selbstbewusstsein. Denn wen von beiden soll ich ernstnehmen: den Schwamm, der mich belächelt, oder den, der auf der Münsteraner Promenade seinen ersten Halbmarathon lief?!

Die, die im Sportunterricht noch völlig zurecht über mich lachten, wurden mit den Jahren immer dicker (was nüchtern betrachtet völlig okay und für mich unerheblich ist), während ich weiter- und weiter lief. Wer zuletzt lacht …

Mit Bällen habe ich es heute nach wie vor nicht. Anders als früher jedoch zelebriere ich mein Versagen gegenüber diesen menschengemachten Geschossen jedoch geradezu. Und im Nachhinein wünschte ich, ich hätte als Pennäler einfach mal zum Lehrer gesagt:

„Mit Verlaub, diesen Scheiß mache ich nicht. Können die anderen machen.“

Aber leider war Sport versetzungsrelevant und neben meiner vollkommen berechtigten Fünf in Kunst wäre mir eine weitere Fünf in Sport gefährlich gekommen. Ein Widerstandskämpfer war ich also nicht und ich beugte mich dem Druck des Regimes, das mich immer mit einem Ausreichend bei Laune hielt. (In der Oberstufe bekam ich mal eine Zwei plus im Sport, weil der Lehrer – Herr Rath – mich verwechselt hatte.)

Bis heute sind mehrere Tausend Läufe zusammengekommen. Derzeit genieße ich meinen 17. Lauffrühling und seit einigen Jahren das auch zusammen mit meiner Mitbewohnerin. Auch in Bezug auf eine zweite Sportart sind wir beide zu dem geworden, was eigentlich unerträglich ist: ein hochmotiviertes Sportpärchen, für das der Sport absolute Priorität genießt. Ich wäre eigentlich der erste, der sich über ein solches Pärchen lustigmachen würde. Um jene zweite Sportart wird es im zweiten Teil gehen.

An sich reiße ich mich schwer zusammen, nicht jeden Tag über mein Sporttreiben zu schreiben, da ich natürlich weiß, wie das wirkt. Doch auf der anderen Seite ist der Sport neben meiner Mitbewohnerin, nein, nach meiner Mitbewohnerin, zum Wichtigsten in meinem Leben geworden. Darum findet es auch hier immer wieder seinen Platz – wie auch meine Mitbewohnerin.

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