Es passt an sich ganz gut, dass mir vor einigen Tagen Sportsucht unterstellt wurde – von einigermaßen uninformierter Seite. Denn diese Diagnose ist der ideale Aufhänger dieses dritten Teiles von

Wie ich wurde, was ich nie zu werden geglaubt hatte.

Nie passte der Titel besser, denn dass man ausgerechnet mir einmal Sportsucht unterstellen würde, hätte ich vor rund 20 Jahren nicht geglaubt. Jede andere Sucht hätte ich damals für viel wahrscheinlicher gehalten! So gesehen macht mich der Anwurf auch ein wenig stolz. Ich wurde zu etwas, das ich nie vorherzusehen gewagt hätte, war ich doch immer passionierter Turnbeutelvergesser und eine absolute Null. Diese 180-Grad-Wendung hat mir auch gezeigt, dass im Leben alles möglich ist und wir uns jederzeit stark verändern können. Aber nicht müssen.

Natürlich streite ich das Leiden unter einer Sportsucht ab. Diese Diagnose höre ich grundsätzlich nur von Menschen, die zwar auch ganz gerne mal Sport machen, dem aber nicht große Priorität einräumen. Das ist völlig in Ordnung. Für mich ist es auch sehr belanglos, was andere so tun, da ich der Meinung bin, dass jeder seinen Weg findet, um ein paar schöne Jahrzehnte auf Erden zu bestreiten. Das kann man mit einem Körperfettanteil von 50 Prozent tun (was aber eher ungesund ist) oder mit einem von sieben. Mir persönlich, das stelle ich immer wieder betont heraus, ist das wirklich egal. Ich maße mir kein Urteil an, dafür aber umso mehr, wenn es um meine Person geht. Wenn ich Bock auf viel Sport habe, dann lasse ich mir den nicht nehmen durch völlig unqualifizierte, halbwissende Kommentare von Menschen, die strenggenommen gar keine Ahnung habe, wie ich Sport mache. Die ihr Wissen irgendwelchen Überschriften im Netz entnehmen, wo ohnehin jede Woche ein neue Sau durchs Dorf getrieben wird. Ich beschäftige mich, weil’s Spaß macht, inzwischen auch mit Sporttheorie, verschlinge jedes Buch, ordne ein, sortiere aus und kann inzwischen selbstbewusst sagen, dass ich zwar kein Experte bin, aber doch ziemlich genau weiß, was ich da tue und wo die Grenzen sind. Und wenn ich andere sehe, wie sie ihr Krafttraining betreiben, verzichte ich auf jedes Missionieren, obwohl so gnadenlos viel falsch gemacht wird. Wer permanent irgendwelche Zerrungen hat oder ratlos realisiert, dass er keine Fortschritte macht, der sollte sich mit einem Urteil über mein Treiben doch sehr zurückhalten.

Ich bin aber auch kein Freund des medialen Fitnesswahns. Ich verachte „Prominente“ wie beispielsweise Detlef Soost, der inzwischen auf sein „D!“ verzichtet, die über zweifelhafte Sportprogramme das Erstreben eines Körperideals Geld machen. „Waschbrettbauch in vier Wochen“?! Vergesst es. Zum sixpack gelangt man nur über einen sehr niedrigen Körperfettanteil.

Doch gibt es mir nicht zu denken, dass mir Sportsucht immer wieder unterstellt wird? Ja. Insofern, als dass ich glaube, mich kurz mal rechtfertigen zu müssen, wie es der Süchtige ja gerne tut, um alles abzustreiten. Problem: Auch der Nicht-Süchtige streitet ab. Das bloße Abstreiten also kann kein Kriterium für das Vorliegen einer Sucht sein.

In unserer Zeit ist es ja en vogue, aus allem eine psychische Erkrankung zu machen. Dazu muss man gar nicht Fachmann der Psychologie sein, denn „man liest ja so vieles“, sodass ein Studium überflüssig ist. Dass Ferndiagnosen sich für richtige Psychologen verbieten, spielt da auch keine Rolle mehr. Ein hinkender Vergleich: Kein seriöser Psychologe ist bereit, dem amerikanischen Präsidenten öffentlich beispielsweise Narzissmus zu diagnostizieren, auch wenn wir alle daran kaum einen Zweifel hegen. Auch mir wurde übrigens schon Narzissmus nahegelegt, aber der Blick auf die Kriterien, die einer solchen Diagnose zugrunde liegen müssen, darf mich beruhigen. Und so ist es auch bei der Sportsucht, die übrigens keine anerkannte psychische Störung ist. Welche Kriterien braucht es? Ich bediene mich bei Wikipedia.

Dort heißt es, Ausdauersport sei zentraler Lebensinhalt. Abgesehen davon, dass ich die meiste Zeit des Sports auf Kraft- und eben nicht Ausdauertraining verwende, ist nicht Sport mein zentraler Lebensinhalt, sondern ich und das Zusammenleben mit meiner Mitbewohnerin. Aber ja, danach kommt mit ausgesprochen hoher Priorität der Sport. Und ließe man den Sport weg, müsste es ja zu Entzugserscheinungen kommen. Und die gibt es – nicht aber bei mir. Wikipedia nennt Magenschmerzen, Nervosität, Schuldgefühle und Depressionen.

Die kann ich getrost alle abhaken, gebe aber zu, dass ein Nicht-Erreichen meines Wochenpensums zumindest ein schlechtes Gewissen zur Folge hat. Nein, hätte, denn ich erfülle das Pensum ja stets. Für die Kenner unter den Lesern: Ich trainiere in aller Regel mit einem Zweiersplit, das ich auf fünf bis sechs Tage pro Woche verteile. Dazu kommt ein Mobility-Training, das nichts anderes als Yoga ist, aber männlicher klingt, sowie zwei, drei Kallisthenie-Einheiten, da ich den planche beherrschen will. Überdies laufe ich fünf Mal in der Woche. Das ist alles durchaus nicht wenig, aber es widerspricht eben auch nicht den sportlichen Empfehlungen: Kein Muskel wird an zwei aufeinander folgenden Tagen trainiert, sodass ich das gefürchtete Übertraining vermeide. Es ist nämlich ein Mythos, dass man nicht zwei Tage am Stück Sport machen dürfe, ein Mythos, der einem Halbwissen entspringt. Man kann sogar täglich Sport machen – die korrekte Gestaltung des Trainingsplanes macht’s möglich. Beispiele im Netz gibt es zuhauf und irgendwann hat man raus, welche Pläne richtig, welche Bullshit sind, bevor man dann in der Lage ist, sich einen ganz persönlichen zu gestalten, da vorgefertigte ohnehin nur Orientierung sein können.

Ein schlechtes Gewissen hat ja auch derjenige, der sich im Januar in einem Fitnessstudio anmeldet, aber schon im Februar nicht mehr hingeht. Ist er deshalb sportsüchtig?! Ich beobachte bei mir eher eine enorme Disziplin, wenn ich das mal so offen sagen darf. Ich erlaube mir keinerlei Ausreden oder -nahmen: Habe ich einmal die Entscheidung für mich getroffen, Sport zu treiben, dann wird das auch durchgezogen, da die Entscheidung andernfalls ja sofort hinfällig und Selbstbetrug wäre. Wenn ich mir das Ziel setze, auf den Händen gehen zu können, dann weiß ich, dass ich das nur erreiche, wenn ich maximal oft dafür sinnvoll trainiere. In dem Moment, in dem ich Trainingseinheiten ausfallen ließe, wüsste ich, dass ich mein Ziel nicht erreiche – ich würde mir also über kurz oder lang in den Arsch beißen. Um genau das zu verhindern – das Beißen in den Arsch wäre übrigens auch eine tolle Yoga-Übung -, muss ich also von Beginn an alles geben. Dass ich diese Disziplin, die manch einer mit Sucht verwechselt, an den Tag lege, ist für mich selbst übrigens die größte Überraschung. Und das funktioniert nicht etwa, weil ich einem Zwang unterliege, sondern weil es mir Spaß macht. Und zwar jeden Tag. Ich hadere nicht mit dem inneren Schweinehund, um mich dann zum Sport zu überwinden, sondern ich tue das aus einem ganz simplen, aber starkem Motiv heraus: Weil es mir extremen Spaß macht. Ich betreibe die ganze Nummer relativ unverkrampft. Ich habe währenddessen Spaß. Es ist anmaßend, wenn Außenstehende diesen Spaß in Sucht umdeuten.

Wikipedia schreibt weiter, der Süchtige steigere seine Belastung immer weiter. Tue ich das? Ja, natürlich! Denn was zur Hölle brächte es mir insbesondere beim Krafttraining, die Gewichte nicht permanent zu erhöhen?! Das Gegenteil brächte im Kraftsport einfach mal gar nichts, da es ja genau darum geht: dem Muskel Anreize zu setzen. Denn sonst wächst er nicht: Monotones Krafttraining kann sogar Muskelabbau zur Folge haben.

Beim Laufen allerdings erhöhe ich das Pensum nicht. Weder schwebt mir ein Marathon, noch ein Ultramarathon vor, ich begnüge mich damit, gelegentlich einen halben zu laufen.

Der Sportsüchtige ignoriere körperliche Warnsignale in Folge von Überlastung. Das ist mir sicherlich anfangs mal passiert, als ich die Signale noch nicht zu deuten wusste. Mit der Cait wurde ich da hellhöriger. Ein Muskelkater beispielsweise ist kein schlechtes Zeichen. Im Gegenteil. Heute geht man davon aus, dass nicht etwa eine Übersäuerung seine Ursache ist, sondern kleinste Risse in den Muskelfasern, die – grob beschrieben – mit Proteinen aufgefüllt werden. Es ist die notwendige Bedingung für Muskelwachstum. Der Kater ist somit kein Zeichen für Übertraining. Er ist generell nichts Schlechtes! Sollte ein Muskelstrang allerdings durchreißen, weiß man: Es war ein bisschen zuviel des Trainings. Das allerdings merkt man sofort und teilt es dem Umfeld auch laut schreiend mit.

Habe ich rund 20 Stunden nach einer Sporteinheit keinen Muskelkater, heißt das für mich, dass ich nicht unbedingt genug getan habe. Bin ich aber chronisch müde, dann ist klar, ich habe mir zu viel zugemutet. Solche Tage gibt es freilich auch, aber anders als der Sportsüchtige ziehe ich die Konsequenz daraus und lege einen Ruhetag ein, den ich übrigens auch mit bestem Gewissen genießen kann.

Schlaflosigkeit kann ebenfalls ein Signal der Sportsucht sein. Ich schlafe derzeit besser als jemals zuvor, was die Folge eines gut durchdachten Trainingsplanes ist. Vielleicht kennt der Leser diese Art Müdigkeit, die sich „richtig“ anfühlt, nicht wie eine totale, geräderte Erschöpfung, sondern wie das angenehme Gefühl der körperlichen Entspannung. Diese Müdigkeit kann ich genießen und bekämpfe sie mit mindestens acht Stunden Schlaf in der Nacht. Denn das habe ich auch lernen müssen: Viel Kraftsport erfordert sehr viel Schlaf, da der Muskel nicht im Training, sondern in den Ruhephasen wächst. Schlafe ich mal nur fünf Stunden, was vorkommt, ist der darauf folgende Sport deutlich mühseliger.

Dr. Wikipedia weiß, dass der Sportsüchtige auch bei Verletzungen weiter trainiert. Da weiß ich gerade gar nicht, wie das gehen sollte. Mit einer ausgekugelten Schulter beispielsweise nehme ich gerne Abstand von der Schulterpresse. Mit einem gebrochenen Bein verkneife ich mir den Halbmarathon. Aber klar gibt es Wehwechen, die ich ignoriere. Mann oder Memme?! Das sagt aber jemand, der von Verletzungen bislang verschont geblieben ist.

Der Sportsüchtige stelle seine sozialen Kontakte den Sport hintan, vernachlässige also Freunde und Familie. In diesem Punkt spielt mir in die Hände, dass ich mein soziales Umfeld schon immer eher übersichtlich gestaltet habe, weil das ganz einfach meiner Persönlichkeit entspricht und ich nicht ändere, weil ich schlicht cain Interesse daran habe. Auch dafür habe ich mich schon häufig rechtfertigen müssen, da offenbar vom vernetzten Menschen erwartet wird, dass er jedem und allem wahnsinnig offensiv aufgeschlossen sein muss. Ich bin das nicht. Nicht, weil ich das mal so entschieden hätte, sondern weil offenbar biochemische Vorgänge in mir genau das zur Folge haben. Und es gefällt mir, ich will es gar nicht anders und bin in der Tat ausgesprochen glücklich damit.

Am zurückliegenden Wochenende war ich Stargast auf der Kommunion meiner Neffe und meines Nichten. Der Verdreher war nicht mal Absicht. Klingt irgendwie richtig. Nun gut, meine Mitbewohnerin und ich fuhren am Samstag nach Münster, jedoch erst am späten Nachtmittag. Warum? Weil wir beide unbedingt noch Sport machen wollten. Wir gehen also Kompromisse ein, um mehrere Dinge zu ermöglichen. Das kann man so machen, aber man muss es eben nicht. Man kann auch bei Regen auf den Lauf verzichten. Oder bei Schnee. Oder wenn es zu heiß wird. Wenn es stürmt. Wenn es zu kalt ist. Oder wenn man verkatert ist. Dann aber wird man irgendwann feststellen, dass man im Grunde gar nicht mehr läuft. Das alles sind Ausreden, die keine sein können. Man kann bei jedem Wetter laufen. Fängt man erst einmal mit Ausreden und Ausnahmen an, öffnet man die Büchse des Damokles‘ unter Pandoras Schwert. (Die beiden haben jüngst getauscht.)

Würde ich vom einen auf den anderen Tag den Sport aus meinem Leben streichen, würde mein Tag plötzlich um drei bis fünf Stunden – es gibt lange und kurze Einheiten! – länger. Ich wüsste gar nicht, was ich mit der Zeit anfangen sollte. Und natürlich hat sich mein Denken inzwischen da hinentwickelt, dass ich vor allem das Gefühl hätte, meinem Körper dem sicheren Verfall hinzugeben. Wir können natürlich darüber klagen, dass beispielsweise sitzende Tätigkeiten unseren Rücken ruinieren – oder eben was dagegen tun. Man muss es aber nicht. Wir werden auch ohne Sport ziemlich alt. Ich will eben nur das Beste rausholen.

Ich kann noch heute mit dem ICE verunglücken. Ich kann vor ein Auto laufen. Ich trage vielleicht schon Tumoren in mir. Vielleicht platzt mir noch heute das Hirn. Trotz dieser Unwägbarkeiten will ich die wenigen anderen Faktoren in meiner Hand halten: Mein Ziel ist es schlicht, zunehmend fit zu werden, mir Kraft draufzuschaffen und ausdauernder zu werden. Es sind Kleinigkeiten, aber sehr viele, bei denen ich die Ergebnisse im Alltag bemerke. Das ist eben mein Ding. Es hätte auch was anderes werden können, vielleicht das Entdecken neuer Sterne am Firmament oder das Sammeln von Pilzen. Ich hätte die Liebe zum Geigespielen entdecken können oder die Passion zum Origami. Es wurde aber eben dieser Sport. Und aus Erfahrung weiß ich nun, dass ich nicht ausschließen sollte, dass ich mit 60 vielleicht doch noch das Malen für mich entdecke. Und dann gibt’s ’nen Malblog.


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Aus persönlichen Gründen muss ich mich für einige Monate im seppolog etwas weniger umfangreich fassen. Nennen wir es einfach „Sommerpause“! Im Sommer wird ohnehin weniger geklickt, so gesehen tut es uns allen keinen Abbruch! Genießen Sie die Sonne. Die allerdings in dieser Woche ebenfalls in die Sommerpause geht.