Reden wir über das Urinieren.

Jetzt hab ich Sie! Was für ein Einstiegssatz! Da hat sich doch meine kreative Pause wirklich mal ausgezahlt. Fängt der Typ an mit „Reden wir über das Urinieren“! Ja, steht denn die Welt auf dem Kopf?! Was für ein Teufelskerl! Und Sie hatten gedacht, ich komme hier wieder mit Sport um die Ecke, wie es das Beitragsbild durchaus andeutet! Aber nein, ich mache was mit Pipi! Wir alle machen Pipi! Muss also wahnsinnig interessant werden! Mal sehen …

Es geht hier nicht um Sport, wenn ich vorabschicken muss, dass meine Mitbewohnerin und ich mehrmals pro Woche uns aus Leibesertüchtigungsgründen im Düsseldorfer Stadtwald, dem Grafenberger Wald, aufhalten. Es ist diese Regelmäßigkeit, die bedingt, dass wir peu à peu Teil eines Figurenuniversums geworden sind, das ich mir leider nicht besser hätte ausdenken können. Und das gebe ich unumwunden als großer Freund von Figurenuniversen zu, die ihre ganz eigenen Mikrokosmen bestücken.

So ist im Grunde das halbe, aber eben nicht das ganze Umfeld, in dem ich mich hier ausweislich des seppologs bewege, ausgedacht. Freilich gibt es keinen Merugin und auch Rudine ist bloße Wahnvorstellung. Erdachte Figuren eignen sich jedoch dazu, mein ziemlich normales Leben (das ich mir genau so ein zweites Mal aussuchen würde), für die Leserschaft etwas aufzupeppen.

Doch Rudine, wohnhaft zwei Stockwerke über meinem, vereint immerhin die Eigenschaften real existierender Personen in sich, die ich jedoch unmöglich namentlich der Öffentlichkeit preisgeben kann – nicht nur zu ihrem, sondern erst recht zu meinem Schutz, zumal es die Moral verbietet, hier mir unliebsame Menschen reinzureiten, die nicht über meine demagogischen Fähigkeiten verfügen, um sich zu wehren. Kurz: Menschen, die ich nicht mag, die ich verachte, die ich sogar mit Leidenschaft hasse, kriegen hier einen auf ihre lyrische Fresse.

Gestern war es wieder so weit: Meine Mitbewohnerin und ich laufen im Sinne von Joggen zu jener Klimmzugstange, wo unsere erste Figur, die es hier vorzustellen gilt, bereits vor einem knappen Jahr ihren ersten Auftritt hatte, sodass wir uns nun kraft unserer Vorstellung um exakt diesen Caitraum zurückbewegen, um hautnah Teil dieser belanglosen Ereignisse zu werden …

Wusch-Effekt, verschwimmende Zeilen, Blende … Wir schreiben das Jahr 2017.

Ich hänge gerade an jener Stange, während meine Mitbewohnerin mein sportliches Schauspiel fotografiert, weil ich ja jede Bewegung von mir ungeachtet des nicht vorhandenen Interesses auf sämtlich verfügbaren Plattformen posten muss, was mich bereits follower selbst unter „Freunden“ gekostet hat, was mich auf sehr angenehme Weise erstaunlich kalt lässt. Urplötzlich kommt ein sehr großer Mensch mit roten Haaren zur Klimmzugvorrichtung und es ist wahr, dass ich die Haarfarbe womöglich nicht erwähnt hätte, wäre es ein Blond oder Brünett gewesen. Überhaupt werde ich in diesem Text mit Klischees arbeiten, weil politische Korrektheit kein guter Weg ist. Übrigens habe ich auch Rotanteile in meiner Körperbehaarung, von der jener vielleicht 50-Jährige aber mehr hat als ich.

Der Hexer also hängt sich für mich völlig überraschend unmittelbar neben mich an die Stange, wodurch ich mich einigermaßen bedrängt fühle, da mein „intimer Radius“ etwa 50 Meter beträgt, womit er das Normalmaß leicht überschreitet. Zudem sind diese Klimmzugstangen nicht für eine parallele Doppelbenutzung ausgerichtet; es ist schlicht zu eng.

Ich werde unwirsch. Meist bin ich nach außen ruhig und laufe innerlich amok, doch dieser Eingriff in meine seelische Unversehrtheit geht mir zu weit. Ich pöbele den Mann maximal unfreundlich an:

„Verzeihung?! Geht’s noch?! Ich hänge hier noch!“

Meine verbalatomare Attacke überrascht ihn etwas, dennoch weicht er nicht und verweilt im Hängen. Ich hingegen lasse mich gewohnt elegant, aber aggressiv, herunterfallen und sage noch so etwas wie:

„Ungünstiges Verhalten, mein Freund. Ich wäre ja gleich fertig gewesen!“

Ich gehe weg, während der Hexenmeister irgendetwas in seine Behaarung reinmurmelt und erste Klimmzüge ausführt, die mich kein Stück beeindrucken.

Meine Mitbewohnerin und ich entfernen uns, weil ich merke, wie mir mein mir eigener und sympathischer Jähzorn entgleitet. Unser Ziel ist die zweite Stange, etwa 300 Meter entfernt.

Wusch-Effekt, verschwimmende Zeilen, Blende …

Gestern nun, ein rundes Jahr später, treffen wir diesen Mann wieder. Und nun bereue ich, diesen Mann unfreundlichst angekackt zu haben (im übertragenen Sinne freilich), denn dieses Mal realisieren meine Mitbewohnerin und ich schnell: Er hat, salopp ausgedrückt, nur wenige Latten am Zaun. Er scheint psychisch krank zu sein.

Wieder hänge ich an der Stange, als der Zauberer sich nähert. Noch kapiere ich nicht, dass es nicht unsere erste Begegnung ist, da mein Gehirn teilweise erschreckend langsam seine Arbeit vollrichtet. Ich sage, da ich manchmal in guten Momenten Menschen durchaus von mir aus anspreche, freundlich hallo. Mehr als ein Rückhallo will ich gar nicht, doch es kommt anders, der Druide gerät ins Plaudern. Nur leider verstehe ich ihn sehr schlecht, sodass ich ihn schnell in die Schublade Holländer einordne. Jeder Holländer ist ein Niederländer, aber nicht jeder Niederländer ist ein Quadrat …

Er erzählt irgendwas von einem Kurzurlaub, drei Tage oder so. Ich höre „booking.com“ mehrfach raus. Und wie immer, wenn ich etwas nicht verstehe, aber zu faul zum Nachhaken bin, wähle ich eine möglichst neutrale Replik und sage:

„Ah, cool.“

Dann erst fällt mir auf, dass „cool“ mitnichten neutral ist. Denn was, wenn er mir erzählt hat, dass seine Frau im Kurzurlaub umgekommen sei?!

„Cool!“

Er redet jedoch weiter. Irgendwer hätte irgendwas schön gemacht. Ich höre „Brennnessel“ und erst später klärt meine Mitbewohnerin, die offenbar ein deutlich besseres Gehör als ich hat, mich auf:

„Er hat Urlaub mit seiner Frau in Renesse gemacht!“

„Ach, Renesse! Ich dachte, seine Frau sei durch Brennnesseln umgekommen!“

Während meine Mitbewohnerin sich im Handstand befindet, den sie nun meistert, und ich Dips an der nahen Bank mache, redet der Alchemist weiter. Ich höre aufmerksam weg und wundere mich über seine Bauarbeiterhandschuhe, die er vor seinem Turnen abgestriffen hat.

„Abgestreift!“

Meine ich ja.

Überhaupt wirkt seine ganze optische Erscheinung etwas fragwürdig, auch wenn meine Maxime inzwischen ist, dass jeder seinen Scheiß durchziehen sollte, solange er anderen nicht schadet, weil ich es selbst inzwischen in perfektionierter Manie so handhabe, wodurch sich meine Lebenserwartung mindestens verdoppelt haben dürfte. Doch ich verstehe diese Handschuhe nicht, zumal er sie da, wo sie sinnvoll zwecks Blasenvermeidung sind – an der Stange – nicht nutzt. Und seinen irren Blick will ich ihm sowieso nicht vorwerfen, da ich kürzlich einen Schnappschuss von mir sah, der mich schaudern machte, weil ich teilweise ziemlich grenzdebil die umliegende Akustik mit meinen Augen erfasse.

Mit einem ganz ähnlichen Blick signalisiere ich meiner Mitbewohnerin, dass wir uns zur anderen Stange bewegen sollten. Sie tut das Gleiche mir gegenüber, sodass wir uns mit einem „Viel Spaß noch!“ verabschieden. Und wie reagiert der Holländer? Er jault plötzlich laut auf wie ein Wolf.

„Entweder er ist krank oder hat einen faszinierenden Humor! Ob er uns verarscht? Ich bin fast neidisch auf seine Showeinlage!“, sage ich im Wegjoggen zu meiner Mitbewohnerin.

„Nein, nein, der scheint krank zu sein.“

Und erst da dämmert mir:

„Moooment, erinnerst du dich an den Typen, der sich damals neben mich an die Stange hängte, als ich so aus der Haut fuhr?!“

„Jaaaa! Das war er!“

Jetzt, wo ich das geschrieben habe, empfinde ich das als vollkommen langweilig. Es tut mir leid. Manchmal schreibt Sabrina USA mir etwas und endet mit:

„Das langweilt mich selbst.“

Ganze Geschichten bricht sie deshalb ab. Ich bin da anders, ich ziehe durch – wider besseres Wissen. Aber Sie hatten mehr erwartet. Und vor allem fragen Sie sich, wo nun der Urin bleibt. Zurecht. Es tut mir leid. Ich muss ihn verschieben. Ich habe versehentlich über die falsche Person geschrieben. Denn es gibt eine andere, die wir inzwischen jeden Sonntag im Wald treffen. Es ist, so viel verrate ich schon mal, ein Russe oder ein Pole. Ein Pusse. Das weiß ich nicht mit Sicherheit, aber das sagt mir mein Schubladendenken. Und dieser Russlandpole ist uns auch deshalb aufgefallen, weil er jedes Mal an den Baum unmittelbar neben der Klimmzugstange …

Und dann ist da noch die Asiatin, die meine Mitbewohnerin und ich – ein Insider – die „Asiatarin“ nennen.

Am Donnerstag, ohne meine Mitbewohnerin, traf ich zudem Julian, Nikolai und drei weitere Kinder an jener Stange. Offenbar habe ich mir nicht alle Namen merken können. Sie besuchen die erste bis dritte Klasse und bestanden darauf, dass ich nur neun Klimmzüge geschafft hätte, während ich mir absolut sicher war, dass es zehn waren. Das machte ich Julian auch sehr deutlich, doch er bekam Schützenhilfe von seiner kleinen Schwester, die gerade hangelte. Ich stellte fest, dass ich mit meinen bald 40 Jahren mich auf einem Spielplatz befand und Spaß mit fremden Kindern hatte. Das beunruhigte auch ihre Eltern, die dann dazustießen, aber schnell merkten, dass es cainen Grund zur Sorge gab. Und außerdem sind Kinder ein dankbares Publikum. Ich sollte mir eigene anschaffen, zumal alle dafür notwendigen Produktionsmittel vorhanden sind …

Und so kann ich es heute schon, am Montag, nicht erwarten, wieder zur Klimmzugstange zu laufen, wo man immer wieder auf die gleichen Menschen trifft. Wo sich die Asiatarin dehnt, da sie nichts anderes dort zu tun scheint, wo der Polenrusse an den Baum …, wo der Atomphysiker mit den roten Haaren von „booking.com“ schwärmt und wo ich irgendwie Teil eines seltsamen Mikrokosmos geworden bin. Man kennt sich plötzlich. Irgendwie faszinierend. Und daher soll es im nächsten Artikel um eine weiterer Figur gehen, die ich mir nicht einmal ausdenken muss.