Ich würde nicht sagen, dass ich abgehoben bin, den Bezug zur Realität verloren habe. Es gibt somit auch gar keinen Anlass, das überhaupt zu erwähnen. Ich bin auch kein Stück auf meine eigene Person fixiert, wie ich lange glaubte, bevor ich Menschen traf, die das wirklich sind. Völlig unabhängig von diesen korrekten Feststellungen kam ich vor einigen Wochen auf den naheliegenden Gedanken, dass es längst überfällig ist, Kopf einer Religionsgemeinschaft zu werden, um sicherzustellen, dass man mich nach meinem Tode nicht vergisst. Das kann nicht zu viel verlangt sein, das ist ein Menschenrecht, das ich für mich beanspruche, das aber eben auch nur für mich Geltung hat.

Inspiriert, jedoch auch inspiziert, haben mich die Zeugen Jehovas, über die ich an dieser Stelle kein Urteil fälle. Informiert man sich bei Wikipedia über diese Gemeinschaft, wird als erstes (!) ihrer Merkmale ihr Missionseifer genannt, in dessen Genuss meine Mitbewohnerin und ich vor Kurzem im Übermaß kamen – wie auch unser gesamtes Wohnviertel, da die Zeugen Jehovas dort eine Informationsoffensive gestartet hatten, derer man sich nicht entziehen konnte, geseiesdenn, man ertrug das permanente Schellen.

Vorbei die Caiten, als ältere Damen und Herren in mausgrauer Bekleidung vor der Wohnungstür standen, um mit uns „über Gott zu reden“. Mausgrau, das wissen wir seit Loriot, führt unweigerlich in den Suizid, ist also ein bisschen ein Stimmungskiller. Auch deshalb haben meine Mitbewohnerin und ich dank eines von mir entwickelten Grau-Sensors an der Tür-Außenseite nicht mehr Einlass gewährt, wenn wieder einmal die eher traurigen Gestalten – das war stets mein Eindruck, der mit der Wirklichkeit nichts zu tun haben muss – um ein Gespräch baten.

Nun haben sie aufgerüstet. Stellten wir fest am vorvergangenen Samstagvormittag um zehn Uhr, als es an unserer Wohnungstür klingelte.

„Post?“, fragte mich meine Mitbewohnerin.

„Ja, vermutlich“, gab ich zurück, guckte aber dann aus unserem Schlafzimmerfenster, von wo aus der Hauseingang einsehbar ist. Und ich sah nicht das Postwägelchen, das in unserem Bezirk das klassische Postfahrrad ersetzt, welches ich aus Münster kenne.

„Und, Post?“, fragte meine Mitbewohnerin.

„Nein. Da stehen zwei seltsam fröhliche Damen und ein Herr mit blauem Schlips. Ist es nicht denkwürdig, dass Slips und Schlips was völlig Unterschiedliches sind?!“

„Vielleicht Besuch von Fahrenscheits?“, spekulierte meine Mitbewohnerin, während sie ihren Waschbrettbauch im Spiegel bewunderte, „das Bauchprogramm wirkt!“

„Dann würden sie ja wohl kaum bei uns klingeln. Aber solche Gestalten lasse ich nicht rein. Sie wirken beschwipst. Da stimmt was nicht!“

Aus dem Haus hören wir nun weitere Wohnungsschellen und es kam mir der Verdacht, dass es womöglich Missionare waren, angeheiterte Missionare. An die Zeugen habe ich allerdings nicht gedacht, denn die wären ja mausgrau und depressiv gewesen. Ich hatte eher Angst vor einer Düsseldorfer Karnevalsgesellschaft, die womöglich Mitglieder anwerben wollte. Denn ältere beschwipste Frauen, die einigermaßen laut und mit verrauchter Stimme reden, verbinde ich mit krampfhafter Karnevalslaune.

„Da sind die aber hier an der falschen Adresse! Ein Münsteraner feiert keinen Karneval!“, rief ich laut aus und sah das Rotieren meiner Mitbewohnerins Augen.

Ich bin Karnevalshasser. Ich freue mich über jeden noch so abwegigen Anlass, Alkohol zu konsumieren, doch ich muss mir dazu keine alberne rote Nase aufsetzen und „Bützchen“ verteilen. Allein das Wort „Bützchen“ lässt mich schaudern. Bützchen beantworte ich stets mit meiner Faust.

„Für eine solche Wahrnehmung meiner Person stehe ich gerne zur Verfügung“, schwadronierte ich weiter und erfreute mich meiner aufkeimenden Aggression.

Im gesamten Haus wurde ihnen nicht geöffnet. Ich lehnte mich ein weiteres Mal aus dem Fenster und bewunderte aggressiv ihre Hartnäckigkeit.

„Die stehen immer noch da! Und sie sind immer noch fröhlich! Obwohl keiner aufmacht! Wie rasten die erst aus, wenn jemand öffnet?!“

Später dieses Tages fuhren wir in den Düsseldorfer Stadtwald, meinen Zweitwohnsitz. Und während wir so unser heißgehasstes Viertel Oberbilk durchfuhren, sahen wir ungelogen an etwa jeder vierten Haustür in den Straßen je drei fröhliche Menschen stehen, die Männer mit blauer Krawatte auf weißem Hemd, die Damen in luftigen Kleidern. Erst später sollte ich in der Lokalzeitung, der „Rheinischen Post“, lesen, dass tatsächlich die Zeugen Jehovas in Düsseldorf an jenem Tag eine Offensive gestartet hatten. Offenbar ist die neue Kleiderordnung Teil dieser wie auch die neue Ansprache der zu Missionierenden: Sie wollen nun nicht mehr über Gott reden, sondern:

„Wir möchten mit Ihnen über Ihre Lebenssituation reden!“

Doch es hatte etwas Unheimliches. Wie damals, als die Körperfresser kamen.

„Sie sind überall“, flüsterte ich meiner Mitbewohnerin zu, als würden sie einen hören können, „die blauen Krawatten machen mich nervös. Sie sind so dermaßen unheimlich sympathisch, diese Menschen, dass sie mit Sicherheit großen Erfolg haben werden.“

„Sofern man sie reinlässt.“

Doch das werden wir nicht erfahren, obwohl es durchaus der Fall ist, dass die Zeugen Jehovas sehr erfolgreich missionieren. Vielleicht ist es auch die einzige Möglichkeit, sie wieder aus dem Wohnzimmer entfernen zu können …

 

„Sag mal“, sagte ich später mal, „ich hab doch diese Fliege.“

„Du meinst die tote Fliege in deinem ‚Entdeckerglas‘, das seit Jahren bei uns im Auto steht?!“

Dieses Tier gibt es wirklich. Wir nennen es Fotzek …

„Nein, also ja, die auch. Ich meine die Schleife. Den Querbinder! Die Fliege eben! Die könnte ich mir doch umbinden und dann missionieren gehen.“

„Für was?!“

„Für die Seppologen! Ich gründe Seppologie, eine Religion! Gegen einen kleinen Obolus könnte jeder Mitglied werden und mir huldigen.“

„Und was gibst du im Gegenzug?“

„Wie, geben?! Wie, Gegenzug?!“

„Na, was hätten die Leute davon?“

„Sie dürften mir huldigen!“

„Wer soll denn dafür Geld bezahlen?!“

„Unverschämt. Ich bin sicher, da gibt es eine Zielgruppe.“

„Ausgeschlossen.“

„Gut, dann würde ich eben irgendwas versprechen. Den Einzug ins Paradies oder so. Seppotopia! Ja! Das ist es! Es muss nur gut klingen, dann machen einige mit. Ich meine, selbst die AfD hat ja trotz ihres wahnhaften Gedankengutes regen Zulauf. Der Zeitpunkt, auf die Dummheit der Menschen zu setzen, sie auszunutzen für eigene Zwecke wie Macht um jeden Preis, war nie günstiger! Derzeit haben die Menschen das Nachdenken aufgegeben und folgen jedem Idioten, wenn der nur laut genug schreit und mit Vogelschiss hantiert!“

„Du brauchst dann noch einen Sündenbock.“

„Kellerasseln! Die mag doch wirklich niemand.“

„Oder Nazis?“

„Zwischen Kellerasseln und Nazis tut sich nicht viel.“

„Kellerasseln gelten aber als nützliche Abfallentsorger.“

„Ich hätte jetzt noch die eine Assel gesehen, die einen Nazi auf ihrem Rücken in einer Kläranlage versenkt. Aber gut, dann kein Sündenbock. Meine Person als solche muss die Menschen einfach überzeugen. Und ich brauche ein Symbol! Eine Ikone!“

Schnell setzte ich mich an meinen Rechner und entwarf mit „MS Paint“, einem unterschätzten Grafikprogramm, das „Photoshop“ in nichts unterlegen ist, das Symbol der Seppologen, welches diesem Text vorangestellt ist und meine Vierfaltigkeit ausdrückt.

Doch das ist erst der Anfang meiner neuen, sehr fröhlichen Religionsgemeinschaft! Noch bin ich einziges Mitglied und deren Gott in einem, doch meinen Berechnungen zufolge werden wir schon Ende dieses Jahres etwa zwei Millionen Menschen sein, die dann in das noch zu findende Paradies einziehen.

Sollten auch Sie Seppologe und Teil von Seppotopia werden wollen, hinterlegen Sie bitte Ihren Namen, Ihre Anschrift sowie Ihre Bankverbindung (für das Lastschriftverfahren) in den Kommentaren. Im Sinne der neuen Datenschutzgrundverordnung muss ich Sie darauf hinweisen, dass ich alle diese Daten nach Gutdünken missbrauchen werde.


In einer früheren Version dieses Textes war von „Seppokraten“ beziehungsweise „Seppokratie“ an Stelle von „Seppologen“ und „Seppologie“ die Rede. Die Leserkommentare haben mich überzeugt, dass die Endung „-kratie“ hier unpassend ist.