(mit freundlicher Genehmigung durch die andere Atlantikseite)

Gut, also man bat mich darum, mich zu den Vorfällen zu äußern. Dass auf diese Weise natürlich mein Urlaub mit Füßen getreten und nicht respektiert wird, scheint hintanstehen zu müssen angesichts der Umstände, die uns alle überrascht haben. Wobei, mich weniger. Ich rechnete durchaus damit und eigentlich dürften wir nicht überrascht sein. Denn in diesen Zeiten ist doch alles möglich. Wenn die Nazis in den Reichstag zurückkehren können, müssen wir wohl mit allem rechnen.

An sich hatte ich auch deutlich gemacht, dass ich großen Wert darauf lege, im Urlaub nicht denken zu müssen. Und nun werde ich praktisch gezwungen, über die Sache nachzudenken, um mich dann hier zu äußern, da ‚man das von mir ja erwarten könne‘.

Eigentlich war mein Plan, heute Morgen völlig frei von Gedanken und Denken zu erwachen, doch regte mich bereits der Baumbeschnitt vor unserem Schlafzimmer geistig an. Und auf. Denn:

Alles begann damit, dass meine Mitbewohnerin und ich gestern „Die Sendung mit der Maus“ sahen, wo Christoph uns erklärte, woran man einen morschen, hohlen und damit nahezu toten Baum erkenne.

„Indem man ihn fällt!“, sagte ich messerscharf zu meiner Mitbewohnerin.

„Es geht wohl eher darum, dass man ihn nicht fällt, Seppo!“, sie darauf. Sie ist die Klügere von uns beiden. Klug genug, das zu erkennen, bin ich aber allemal. Ob sie wiederum das erkennt? Eine endlose Spirale der Klugheit, die in völligem Unwissen mündet. Aber sie mündet ja nicht, sie ist endlos. Verrückt!

Und meine Mitbewohnerin hatte natürlich das, was sie immer hat, nämlich Fug. Denn durch ein technisches Verfahren wird der Baum irgendwie von innen vermessen, um sein Befinden festzustellen, um ihn erst im Nachgang gegebenfalls zu fällen, damit nicht der nächste Pfingststurm ihn umnietet.

Sechs Jahre lang haben der Baum vor unserem Fenster und ich uns gekannt. Jener Baum war das, was ich so dringend brauche in meinem Leben, er war Konstanz. Und er war Hort zweier Tauben, die gerne auch mal auf unseren Fenstersims flogen und meiner Mitbewohnerin und mir beim intensiven Liebkosen zusahen, dieses ungefragt mitunter mit einem verschämten Gurren goutierten. Erst wenn ich wie gewohnt aufschrie, suchten sie das Weite.

Nun werden sie den Baum vergeblich suchen.

Wir hätten es ahnen können. Schon seit einer halben Woche waren die Parkplätze rings um jenen Baum gesperrt. Wir wussten, die Baumbeschneider würden kommen. Doch naiv glaubten wir, man würde nur hier und da den einen oder anderen Ast entfernen. Denn tatsächlich fielen recht häufig lose Äste vom Baum herab auf die unten nichts ahnend parkenden Autos.

Ich vertiefte meinen Geist in die Lektüre der Sonntagszeitung, nachdem ich unser Roleaux geschlossen hatte, da der Baumbeschneider auf unserer Fensterhöhe zuwerke war und ich mich dadurch in meiner heiligen Intimsphäre gestört fühlte. Schließlich wollte ich ungeachtet anderer Menschen meinen ersten Urlaubstag verbringen: Urlaub vom Ich, aber auch Urlaub vom Menschen an sich.

Und so las ich über Nordkorea und G7, mich aber dabei weigernd, darüber nachzudenken, denn das Lesen von Zeitungen bereitet zumindest inhaltlich seit einigen Jahren keinen Spaß mehr. Es ist eher eine lästige Pflicht, da ich vom nächsten Weltenbrand, den wir dieses Mal vermutlich mal nicht anzetteln, nicht überrascht sein möchte, auch wenn ich gelegentlich mit Eskapismus liebäugele.

Da die Transparenz des Fensters verdeckt, ahnte ich nicht, was draußen vor sich ging. Doch dann, als ich Stunden später vom Laufen am Rhein wieder zurückkehrte, war der Baum weg.

Er war einfach weg.

Und nur wegen der Sendung mit der Maus und Christoph in seinem grünen Pullover ahnte ich den Grund. Jener Baum, mein womöglich bester Freund hier in dieser Straße, war möglicherweise schon lange tot. Und so stand ich dort vor dem Nichts, vor der Leere im Raum, wo vorher keiner war, und stellte fest, dass mich die Abwesenheit, die wohl unabänderliche Abwesenheit dieses Baumes, dessen Art mir nicht einmal bekannt war!, tatsächlich einen Stich versetzte.

Ich betrat das Haus, brachte die Treppenstufen routiniert hinter mich und gewährte mir Einlass in meine Wohnung. Ging zum Schlafzimmerfenster, öffnete das Roleaux und kniff die Augen zusammen, da nie zuvor so viel Licht durch dieses Fenster gefallen war. Statt sattgrünem Grün sah ich nun luftige Leere, gefüllt nur mit Antimaterie, die man mir aber erst noch nachweisen muss und die mich auch gar nicht weiter interessierte, da ich ja das Denken eingestellt hatte.

Ich ging ins Wohnzimmer, schaltete den Rechner ein und schrieb via Facebook meiner Mitbewohnerin:

sie haben den baum sehr radikal beschnitten. er ist weg.

Sie darauf:

Ach Guck. Auch nicht so schlecht. Vielleicht war der auch hohl von innen

Wie eben jener aus der Sendung mit der Maus, die Alexander Gerst übrigens durchs All begleitet. Der nebenbei spricht Russisch, damit er die Bordinstrumente der Sojus-Rakete versteht. Haben wir auch gelernt bei der Sendung mit der Maus. Denn was für eine üble Überraschung wäre es, er wäre gerade gestartet, um dann beim Verlassen der Erdumlaufbahn festzustellen, dass er nicht weiß, welchen Knopf er drücken muss, da die alle mit so einer seltsamen Schrift beschriftet sind?!

Alexander Gerst und ich haben nun eine unverhoffte Gemeinsamkeit. Wenn wir aus dem Fenster blicken, er aus einem der ISS, ich aus unserem Schlafzimmerfenster, sehen wir beide:

Leere.

Und wir tragen in etwa die gleiche Frisur. Das ist dann aber auch schon alles. Und bei ihm wäre ein Baum vor dem Fenster keine gute Nachricht. Ein Baum vor dem Fenster der ISS würde auf einen Absturz hinweisen, was niemand wollen kann.

Ich habe nun schon viel zu viel gedacht. Und ich weigere mich, nun auch noch über die erschreckenden Vorfälle dieses Montages nachzudenken. Hat nicht jeder Mensch das Recht, für einen gewissen Caitraum sich mal nicht um die Dinge des Seins zu kümmern? Muss ich zu allem eine Meinung haben?

Am Nachmittag ging es um Schnecken. Hintergrund ist ein Schneckenvorfall, in den meine Mitbewohnerin gestern verwickelt war. Versehentlich stützte sie sich bei einer sportlichen Betätigung auf oder in eine Schnecke. Das Schneckenhaus erwies sich als mangelhaft in der Tragfähigkeit und zerbarst unter meiner Mitbewohnerin. Ohnehin war es eine Nacktschnecke. Und obwohl ich nicht denken wollte, kam in mir die Frage auf, warum manche Männer bei Frauen von „Schnecken“ sprechen. Ich finde es schon schlimm, wenn man Frauen als „Mäuschen“ betitelt. Aber Schnecke?!

Ich überlege trotz eingestellten Denkens gerade, meine Mitbewohnerin heute Abend mit „Hallo, Schnecke!“ zu begrüßen. Es wurde bereits auf der anderen Seite des Atlantiks vor diesem Test gewarnt:

sie wird dich in grund und boden schlagen!

Ich solle doch besser über Kakerlaken nachdenken und vielleicht auch schreiben. Mit denen haben meine Mitbewohnerin und ich zum Glück keine Probleme, da sie uns fernbleiben. Doch ich darf verraten, dass auf jener anderen Atlantikseite noch vor wenigen Stunden ein Stiefel mitten in einem Raum oberhalb einer vermutlich zerquetschten Kakerlake stand. Doch war die Kakerlake wirklich zerquetscht? Wie konnte man das wissen, stand doch der Stiefel darauf? Schrödingers Kakerlake. Es ist wie mit Beschlüssen von Donald Trump. Man weiß nie, ob sie Bestand haben, da sich unter Trump jederzeit jeder Zustand umkehren kann. Trumps Hirn ist Schrödingers Kakerlake.

Und ich weigere mich, aktiv zu denken. Bis Freitag wird kein Wort gedacht. Absolute Stille in meinem Kopf. Die Leere vor der ISS, vor meinem Fenster: auch in meinem Kopf.