In gewohnter Erregung erscheint am Samstagmorgen gegen zehn Uhr meine Nachbarin (und Dämonin) Rudine vor unserer Noch-Wohnungstür. Es ist zweifelsfrei ein Fehler meinerseits in Folge eines elanösen Überschwangs, dass ich die Tür ohne Hinzuziehen des Türspions öffne. Denn ich hatte Freunde erwartet, die uns bei der Vorbereitung der Geburstagsfeier meiner Noch-und-dann-wieder-Mitbewohnerin zur Hand gehen wollen. Wir kämpfen mit einer Stuhlknappheit …

„Oh!“, rufe ich aus, als die hochrotgesichtige Rudine meinen Horizont verdeckt.

Oh?! Ist das alles?! Du sagst ‚oh‘, wenn du mich siehst?!“

„Immerhin habe ich meine Gesichtszüge im Griff, die eigentlich im Begriff zu entgleiten waren. Was gibt’s, Rudine? Hast du jemanden umgebracht? Bist du auf meine Apothekerin Melina losgegangen?“

„Seppo, wir sind Freunde.“

„Das sind wir eigentlich nicht. Aber das willst du mir ja nie glauben!“

„Und als Freundin kann ich doch wohl erwarten, dass du mich über euer Vorhaben in Kenntnis setzt! Stattdessen erfahre ich es von Merugin!“

„Rudine, das ist jetzt terminlich einigermaßen ungünstig. Wir bereiten gerade die große Geburtstagssause für meine Mitbewohnerin vor.“

„Was?! Ihr feiert?! Auch davon habe ich nichts gewusst!“

Oh, denke ich und komme ins Schlawingern.

„Oh, lass mich kurz schlawingern und lavieren … Natürlich bist du herzlich eingeladen!“

Aus dem Schlafzimmer höre ich ein leises und vor allem verzweifeltes Stöhnen meiner Mitbewohnerin, die dann ruft:

„Wir haben leider keine Stühle mehr!“

Rudine wird noch ro- oder röter als ohnehin schon, was bei dieser derzeit herrschenden Hitze nicht gesund sein kann. Aus Gründen der Lebenserhaltung muss ich also beschwichtigen:

„Wir haben bestimmt noch einen Pinkus-Kasten, auf den du dich setzen kannst.“

„Was ist Pinkus?!“

„Das einzig wahre Bier. Es wird eine Münster-Motto-Party.“

„Du trinkst gar kein Bier, Seppo!“

„Das stimmt, aber am liebsten trinke ich kein Pinkus! Ich finde per se alles gut, was mit Münster zu tun.“

„Auch das Bahnhofsviertel?! Das ist doch völlig runtergekommen!“

„Münster hat die Zeit meiner Abwesenheit genutzt, einen komplett neuen Bahnhof zu bauen! Da wird jetzt schön alles gentrifiziert! Oh, du wunderschönes und nazifreies Münster!“

„Nazifrei?! Nazis sind überall!“

„Nicht in Münster, Rudine. Die AfD wird dort geächtet, wie sonst nirgendwo! Münster ist die letzte Bastion der Freiheit, des Widerstands, des Pluralismus, der Demokratie, der Offenheit, der Warmherzigkeit und anderer toller Dinge, die mir den Verstand vernebeln!“

„In Münster brannte auch ein Flüchtlingsheim!“

„Aber sie löschen dort schneller. Trittst du dort die Freiheit mit Füßen, hast du eine ganze Stadt gegen dich. Versuch mal in Münster als rechtsnationale Partei, einen Raum anzumieten, um da dann die freie Presse auszusperren: Widerstand in seiner fröhlichsten Form die Folge! Und auch das feiern wir heute Abend hier.“

„Womit wir wieder beim Punkt wären. Warum erfahre ich davon als letzte?!“

„Nun, Rudine, wir sind da gestaffelt vorgegangen. Dir wollten wir es im Oktober mitteilen. Es ist ja bislang nur halboffiziell. Man muss da ja sehr sensibel vorgehen.“

„Wie stellst du dir eigentlich ein Leben ohne mich vor?!“, ruft sie erbost.

„Da du fragst: Ich hielt es lange Cait für einen unerfüllbaren Traum, der plötzlich Wirklichkeit wird.“

„Lächerlich“, darauf Rudine nur.

„Was muss ich eigentlich noch tun, damit du meine Ablehnung dir gegenüber bemerkst?“

„Du lehnst mich nicht ab, Seppo! Das denkst du nur! Und vielleicht komme ich ja mit!“

„Da sei Gott vor. So übel kann es der Kosmos mit mir gar nicht meinen.“

Oder doch? Das bleibt abzuwarten.

Ich befestige die Tür wieder im Schloss, gehe zu meinem Rechner und klicke auf „drucken …“, „aktuelle Seite“, „3 Exemplare“ und „drucken“. Warte kurz, nehme das belaserte Papier aus dem Drucker und gehe damit zu meiner Mitbewohnerin:

„Hier, unterschreiben. Du hier, ich da. Dreimal.“

Und wieder stelle ich fest, dass sich jede meiner drei Unterschriften von den jeweils anderen unterscheidet.

„Ich schaffe es seit 30 Jahren nicht, dass mein Name in verschriftlichter Form das gleiche Antlitz auszustrahlen vermag. Im Grunde kann man jedes von mir unterschriebene Dokument anfechten.“

„Dieses hier nicht“, sagt meine Mitbewohnerin in bestimmten Ton, „das hier ist unser Freifahrtsschein direkt ins Paradies!“

Als sie das sagt, steigt in mir wieder dieses Gefühl auf, dass ich seit einigen Tagen mit mir herumschleppe: Ein Gemisch aus Unglaube, Freude, Euphorie und wieder Unglaube. Ein Gefühl, dass mich derzeit immun macht gegen schlechte Nachrichten.

„Man möchte heulen vor Glück“, sage ich.

„Dass du immer gleich heulen musst!“, sagt sie nicht ganz zu Unrecht.

Wir fallen uns in die Arme des jeweils anderen. Unsere Herzen klopfen schneller als sonst, meines zumindest. Vor meinem geistigen Auge sehe ich Orte, die ich seit zehn Jahren nicht mehr gesehen habe. Orte, die wieder zur Normalität werden. Ja, die das nicht nur werden können, sie werden es.

„Weißt du noch, als das alles anfing? Wann war das, letzten Sommer?“, frage ich, während ich mir einen Wein einschenke. Um halb elf am Vormittag. Denn das alles muss im Grunde rund um die Uhr gefeiert werden.

„Früher sogar. Im Mai. Als eine fixe und völlig unrealistische Idee.“

„Als ein seltsam trauriger Traum. Ich erinnere mich. Hin- und hergerissen zwischen Wunsch und bitterer Realität. Bloße Gedankenspiele, die einen besoffen machten.“

Es stimmt, was man sagt und nicht unbedingt gerne hören mag: Man ist weitestgehend der Schmied des eigenen Glückes, auch wenn man zu einem nicht unerheblichen Teil fremdbestimmt durchs Leben wabert. Doch die ganzen großen Rahmenbedingungen, die kann man manches Mal beeinflussen. Man muss es sogar. Und, liebe Freunde, wenn ein Phlegmatiker wie ich das sagt, dann stimmt es.

Ich erinnere mich noch gut, wie ich Anfang dieses schicksalhaften Jahres vom Anpacken schrieb. Ich bekam viele Reaktionen auf jenen Text; viele Leser fühlten sich inspiriert, motiviert gar. Das wiederum hatte mich abermals bestärkt und so packten wir es erst recht an, um dann auf Widerstände zu stoßen, mit denen ich nicht gerechnet hatte.

Und so stehe ich vor einem nun in die Wege geleiteten Kraftakt, wie ich ihn pathetisch nennen möchte, weil bei mir solche Dinge immer ins Pathetische abgleiten. Denn so sehr ich mich von negativen Ereignissen runterziehen lasse, so sehr lösen gute Dinge bei mir eine überzogene Euphorie aus, die ich mir aber gönne, denn schlimm ist sonst ja oft genug.

Der nächste Schritt ist dann die Kommune, S. …

„Ich schicke das dann gleich ab“, sagt meine Mitbewohnerin, „zur Sicherheit alle drei Exemplare. Mit unterschiedlichen Postunternehmen. Und einem Reiter zu Pferde.“

„Gut. Das ist ein Plan. Sind Reiter nicht immer zu Pferde?! Sei es drum, ich werde mich derweil betrinken. Ich hab immer gedacht, dazu braucht man gar keinen Grund. Aber mit Grund, mit gutem obendrein!, ist’s ja noch viel besser!“

Das war Samstag. Es wurde noch einmal sehr spannend zwischendurch. Unangenehm spannend. Jetzt ist Dienstag. Und beim Schreiben dieses Textes klopft mein Herz wieder schneller.

Tatsächlich wollte ich an dieser Stelle eine längere Pause einlegen. Doch plötzlich entwickelten sich die Dinge schneller als erwartet. Willkommen zurück!

Achja, Sonntagabend: Rudine schreibt mir bei Facebook:

„gute nachricht, seppo, ich ziehe bald um!“

Ich kollabiere vor meinem Rechner, falle  kopflings auf die Tasten und bilde das Wort:

„jkhsdfghjralkjgfhaghlkffghrkfhklhkls“.