„Bernie? Bist du auf dem Weg?“

„Hier ist nicht Bernie. Bist du Ralle?“, antworte ich mit dem fremden Handy in der Hand.

„Hier ist Ralle. Aber wo ist Bernie?!“

„Ich weiß es nicht. Aber ich habe den Eindruck, dass ich von Bernies Handy aus anrufe.“

„Was hast du mit Bernie gemacht?!“, will mein Gesprächspartner wissen.

„Nichts. Ich habe offenbar sein Handy!“, erkläre ich.

Was war geschehen?

Meine Mitbewohnerin und ich haben heute die nicht enden wollende Hitzewelle genutzt, um um den Unterbacher See in Düsseldorf zu laufen. Das sind lockere sechs Kilometer, dererwährend man vom eigentlichen See wenig sieht, wie das ja oft der Fall bei See-Wanderwegen ist. Im Grunde braucht man also gar keinen See, um einen See zu umrunden, es erfordert lediglich etwas Fantasie.

Vor einigen Jahren, es muss so 2011 gewesen sein (was ich weiß, da ich mich damals in Kurzarbeit befand), haben wir schon einmal, allerdings gehend, den See umwandert, wobei wir uns über die Frage, ob und wann man auf der rechten Spur der Autobahn überholen darf, überwarfen. Anders als meine Mitbewohnerin war ich damals der Meinung, man dürfe durchaus rechts überholen, sofern auf der linken Spur jemand betont langsam fahre. Wir gerieten dermaßen in Rage, dass wir etwa zwei Kilometer lang nicht mehr miteinander sprachen. Mit etwas Abstand würde ich behaupten, sie litt damals unter PMS. Das hier zu schreiben, erfordert übrigens viel Mut, denn dafür könnte ich Schelte kassieren, zumal meine Mitbewohnerin – Geschichte wiederholt sich eben doch! – heute unter PMS … naja, ich schweife ab … Und man darf rechts überholen!

Heute gab es sechs Kilometer lang keinen Disput, im Gegenteil, wir schweben derzeit auf Wolke sieben in fröhlicher Erwartung einer besseren Zukunft.

„Ich liege gerade auf dem Sofa und warte auf Bernie!“

„Mein Name ist aber Seppo. Ich habe dieses Handy auf einer Bank am Unterbacher See gefunden und Sie sind der letzte, der davon angerufen worden ist. Der Besitzer-“

„Bernie!“

„Ja, meinetwegen Bernie … also Bernie muss sein Handy hier liegengelassen haben.“

„Legt man sich einmal nachmittags aufs Sofa! Ja, und wo ist jetzt Bernie?“

„Ich weiß es ja nicht. Ich kenne ihn ja nicht!“

„Warum hast du dann sein Handy?!“

Ich blicke zu meiner Mitbewohnerin herüber, die mich fragend anguckt, während sie kopfüber auf einer Klimmzugstange hängt. Mit meinen Handy deute ich ihr an, dass mein Gesprächspartner nicht alle Latten am Zaun zu haben scheint.

Unsere See-Umrundung sollte abrunden eine heitere Sporteinheit an den Klimmzugstangen nahe dem Unterbacher See. Bei großer Hitze, obwohl es heute ja geht, ist es besonders anspruchsvoll, den Kopf samt Körper über eine Stange zu wuchten. Man läuft hochrot an, merkt den eigenen Herzschlag mehr als sonst und freut sich über ein starkes Herz oder hofft zumindest auf ein solches. Besonders deutlich tritt dieser Effekt auf, wenn man sich in der Schulterrolle ergeht, die nichts anderes ist als der klassische Purzelbaum, nur dass man eben nicht über den Nacken abrollt, weil das ab einem gewissen Alter die Gefahr des Genickbruches birgt. Seit rund drei Wochen probiere ich diese auch als Judorolle bekannte Übung, bei der ich mir bereits mehrere Körperteile geprellt habe. Erst seit gestern gelingt sie mir unfallfrei.

Aber darum soll es hier nicht gehen, sondern zu einem anderen Zeitpunkt …

„Bernie wollte gleich zu mir kommen.“

„Vielleicht sollte er umkehren, um sein vergessenes Handy zu holen“, schlage ich Ralle vor.

„Ja, gute Idee. Ich rufe ihn an“, sagt Bernie.

Beide legen wir auf. Meine Mitbewohnerin:

„Und, kommt er zurück?“

„Ja, der Typ ruft den Besitzer jetzt an.“

Meine Mitbewohnerin stutzt: „Wie soll das gehen? Wir haben doch sein Handy?“

„Achja. Typisch ich. Ein ganz klassischer Seppo. Aber Ralle scheint mir genau so doof zu sein.“

Wie erwartet klingelt nun das Handy, das ich kurz vorher gefunden hatte. „Ralle“ steht auf dem Display geschrieben, ich melde mich entsprechend:

„Hallo, Ralle. Das war keine gute Idee mit dem Anrufen.“

„Bernie?! Hier ist Ralle. Jemand hat am Unterbacher See dein Handy gefunden!“

„Nein, nein, nein, hier ist Seppo, nicht Bernie. Ich bin der, der das Handy gefunden hat. Bernie kann gar nicht rangehen.“

„Wieso nicht?“

„WEIL ICH SEIN HANDY HABE!“

„Gib mir mal Bernie.“

„DAS GEHT NICHT! ICH WEISS NICHT, WO DIESER BERNIE IST! ER HAT SEIN HANDY VERLOREN, ICH HABE ES GEFUNDEN!“

Meine Mitbewohnerin, die noch immer über der Stange baumelt, wird ungeduldig.

„Ich will nach Hause“, flüstert sie mir zu.

Ich übernehme nun das Zepter oder ergreife es überhaupt und schlage Ralle vor:

„Kommen Sie doch jetzt zum Unterbacher See und holen das Handy Ihres Kumpels ab. Wir stehen an so einem Spielplatz am Eingang zum Südstrand.“

„Okay, das scheint das Einfachste zu sein. Gib mir eine Viertelstunde!“

Wir legen wieder beide auf, wobei ich natürlich nur von mir sicher behaupten kann, aufgelegt zu haben. Ralle traue ich zu, dass er nicht aufgelegt hat, was bei der modernen Telefonie allerdings cain Problem mehr ist, da es ja genügt, wenn nur einer der Gesprächspartner auflegt.

Ich teile meiner Mitbewohnerin mit, dass Ralle in 15 Minuten kommen würde, um das Telefon von Bernie abzuholen. Aber ich ahne bereits:

„Wenn Menschen sagen, sie wäre in 15 Minuten da, kann man locker eine halbe Stunde daraus machen. Würde ich eine Viertelstunde ankündigen, wäre ich nach zehn Minuten da.“

„Ja, Seppo, du bist der einzig pünktliche Mensch auf der Welt!“

„Bin ich auch.“

Nach 30 Minuten rufe ich wieder Ralle an:

„Ohne Druck machen zu wollen, aber meine Mitbewohnerin macht Druck: Wir stehen jetzt auf der kleinen Brücke hinter den Parkplätzen.“

„Bernie?!“

„Nein, hier ist Ralle. Quatsch, Seppo!“

„Ich bin gleich da.“

„Okay.“

Dann höre ich ein Rascheln, später ein Rufen. Ralle ist offenbar nicht mehr allein.

Ralle: „Wir kommen, sind auf den Parkplätzen! Hab meinen Bernie getroffen!“

Wir legen auf. Ich zu meiner Mitbewohnerin:

„Bernie ist offenbar Ralles Bernie. Ich glaube, die sind schwul. Sie kommen jetzt.“

Und in der Tat kommen zwei Männer uns entgegen, dereneiner ein Handy in der Hand hat und der andere aufgewühlt wirkt und offensichtlich dritte Zähne trägt, die zu groß für seine Mundhöhle sind. Die beiden scheinen uns nun auch identifiziert zu haben, denn Bernie streckt bereits sehnsüchtig die Hand nach seinem Handy aus!

Ich: „Hallo! Das allerdings ist mein Handy, hier ist Ihres!“

Fast hätte er sich meines gegriffen! Er ist erleichtert und ausgesprochen dankbar. Ich glaube, Tränen in seinen Augen sehen zu können.

„Ihr seid super! Danke!“, sagt er.

„Gut, dass es nicht gesperrt war!“, meine Mitbewohnerin. Denn nur so konnten wir überhaupt den zuletzt gewählten Kontakt anrufen.

Man herzt und drückt sich und geht seines Weges. Und ich überlege, was man alles anrichten könnte, indem man wahllos den „letzten Kontakt“ von fremden Handys anruft. In diesem Fall war es die genau richtige Entscheidung. Aber man stelle sich vor, man würde auf die Weise in Liebesaffären reingrätschen. Mein letzter Kontakt bin meist ich selbst, weil ich mich natürlich selbst anrufe, wenn ich mal mein Handy verlegt habe.

Wieder zuhause fragt meine Mitbewohnerin mich:

„Bloggst du jetzt darüber?“

„Ach scheiße. Ja. Muss wohl. Geht ja wieder los! Ärgerlich. Aber allein der Name ‚Ralle‘ ist es wert!“