„Verdammt, brauchen wir für das Objekt eigentlich einen Wohnberechtigungsschein?“, frage ich meine Mitbewohnerin auf den letzten Drücker.

„Ich weiß es nicht. Ich komme bei diesen vielen Wohnungsanzeigen durcheinander.“

Wir sehen online nach, doch die Anzeige der Wohnung ist bereits verschwunden, denn an diesem Montag, den ich mir extra freinahm, ist ja auch der Besichtigungstermin, für den wir uns gerade auf den Weg nach Münster machen wollen.

„Nicht mein Tag“, flucht meine mir Zugetraute. Und ich sage besser nichts, denn egal, was ich sagte, es würde alles nur schlimmer machen. Eine halbe Stunde liegt es zurück, als sie mir via Facebook mitteilte, dass ihr Fahrrad einen Platten habe, sie somit die Bahn und damit womöglich zu spät nach Hause kommen würde.

Zehn Jahre lang, die ich in Düsseldorf nun lebte, bin ich nicht ein einziges Mal mit dem Fahrrad gefahren. Ich verachte Fahrräder, da Fahrräder entweder einen Platten haben, ihr Dynamo versagt oder gestohlen sind. Fahrradfahren ist keine Technologie, auf die der Mensch stolz sein kann. Und nun kehre ich als verlorener Sohn zurück in die richtige Stadt, die auch noch Hauptstadt der Fahrräder ist, und werde bald wieder auf einem alten, klapprigen Hollandfahrrad sitzen, das ich aus dem Dortmund-Ems-Kanal gefischt haben werde!

Wenig später erreichte mich eine weitere Nachricht von meiner mir Zugetrauten:

„Mich hat schon wieder eine Wespe gestochen!“

Die Arme. Also nicht in die Arme, sondern die arme Frau. Wobei, doch, auch, in die Arme. Ellbogen-Gegend …

In knapp fünf Wochen ziehen meine mir Zugetraute und ich nach Münster, meine Heimatstadt. Nach wie vor ist der Gedanke daran surreal, nach wie vor kann ich es kaum glauben, dass uns dieser Schritt gelingen wird. Ich kann nicht fassen, dass ich schon bald keinen Grund mehr habe, Düsseldorf jemals wiederzusehen, von etwaigen Gipfeltreffen abgesehen. Ich mache den Schnitt meines Lebens!

Von allen Seiten werde ich darauf hingewiesen, dass es derzeit unmöglich ist, seine Wohnung zu wechseln. Der Grund ist ein Paradoxon, nämlich der, dass zu viele andere Menschen ihre Wohnungen wechseln. Und ich entgegne mit einer einfachen Rechnung:

Bei diesen Massenbesichtigungen, derer uns heute in der Manfred-von-Richthofen-Straße eine bevorsteht, besteht ein Drittel der Bewerber aus offensichtlichen Asiehs und Idioten und ein weiteres Drittel aus Menschen, die beim Anblick des „Objekts“ das Weite suchen, sodass letztlich nur noch ein Drittel verbleibt. Nur mit dem konkurriert man, sodass mich die Bewerbermassen nicht beeindrucken.

Vor ein, zwei Jahren suchten meine mir Zugetraute und ich eine neue Wohnung in Düsseldorf, da wir damals der Meinung waren, dass es aus beruflichen Gründen unmöglich wird, die Stadt zu wechseln. Es gab drei Wohnungen, die wir sofort bekommen hätten, hätten wir uns nicht irgendwann dazu entschieden, gleich ganz die Stadt zu wechseln – nach Berlin oder eben Münster.

Dass wir kurzvorknapp noch keine neue Wohnung haben, lässt mich kalt. Aus einem sehr simplen Grund: Wir haben bereits eine, die jedoch nicht vollumfänglich unseren Ansprüchen genügt. Nicht etwa, weil wir besonders hohe Ansprüche hätten. Denn hinter uns liegen sechs Jahre in einer Wohung, in der wir regelmäßig Stromschläge kassieren, sobald wir ein elektronisches Gerät berühren. Hinter uns liegen Elektriker, die sich geweigert haben, dort tätig zu werden, da der Zustand der Verkabelung sich auf Vorkriegsnivau befinde, obwohl das Haus vor dem Krieg noch nicht einmal geplant war. Hinter uns liegt eine Gastherme, die regelmäßig explodiert. Die Telefonnummer des Gas-Notdienstes der Düsseldorfer Stadtwerke (grün) kenne ich auswendig.

Meine mir Zugetraute und ich haben nur ein Ziel: nach Münster zu kommen. Münster hat für mich eine Bedeutung, die über bloße Heimat weit hinaus geht. Münster ist strukturiert wie ich. Und wenn ich schon cainen Menschen treffe, der das ist, dann wenigstens eine ganze Stadt …

„Es ist kein Wohnberechtigungsschein erforderlich“, erfahre ich beim Telefonieren mit der Wohnungsgesellschaft. Sofort springen wir in unseren Toyota Yaris und bahnen uns den Weg zur A52 gen Münster, die noch frei von Berufsverkehr ist.

„Wie oft bin ich diese Strecke in den letzten zehn Jahren gefahren?!“, sage ich zu meiner Mitbewohnerin, die das gar nicht hört.

„Guck mal“, sagt sie, „Wie dick der Stich wird! Warum wurdest du in 39 Jahren nicht ein einziges Mal gestochen und ich in diesem Sommer permanent?!“

„Es ist dein Parfum. Ich kann verstehen, dass sie zustechen.“

Wider Erwarten kommen wir pünktlich um 15 Uhr 53 in Münster in der Manfred-von-Richthofen-Straße an. Nicht weit von hier, nein, praktisch nebenan, ist die neue Arbeitsstelle meiner mir Zugetrauten. Ebenfalls in der Nähe die alte meines Vaters. Allerdings wurde das zugehörige, markante Gebäude vor einigen Monaten dem Erdboden gleichgemacht und an anderer Stelle neu errichtet. Was ich sagen will: Mit dieser Gegend verbinde ich früheste Kindheitserinnerungen. Nicht selten habe ich als Kind zusammen mit meiner Mutter meinen Vater „vom Büro“ abgeholt. Mitunter haben wir in einer Bäckerei gewartet, die es ebenfalls nicht mehr gibt. Später, als ich aus unserem Vorort Hiltrup in die Münsteraner Innenstadt gezogen war, war die Manfred-von-Richthofen-Straße Teil einer meiner Laufstrecken.

Wir steigen aus dem Auto und ich bin geflasht:

„Wahnsinn, hier wieder zu stehen. Es ist so vieles neu! Die OfD abgerissen, da hinten die neue Seniorenresidenz, aber dennoch alles so vertraut. Ich kann’s einfach nicht glauben, dass schon in fünf Wochen das hier alles wieder normal sein wird! Ich könnte auf der Stelle mit dir schlafen, wobei das terminlich nicht drin, mindestens ungünstig ist.“

Vor der Tür des „Objekts“ steht lediglich ein anderes Pärchen, das zur Besichtigung gekommen ist.

„Die Schwuchtel ist keine Konkurrzenz“, sage ich zu meiner Mitbewohnerin, „Was für ein Hippie!“

Sofort ist mir klar, dass es nur noch von der Wohnung abhängt, ob wir sie bekommen. Das ist mit Sicherheit auch Herrn Gardemaß bewusst, dem Makler, der nun die Bühne betritt. Artig nennen alle Bewerber ihren Namen, sodass er sie auf seiner Liste abhaken kann.

Die heterosexuelle Schwuppe, deren sexuelle Ausrichtung mir vollkommen egal ist, weil auch ich reihenweise mit Männern schlafe, erkundigt sich, wer denn über die Bewerbungen entscheide, ob denn das Herr Gardemaß selbst machen würde. Der antwortet:

„Ich nicht. Das machen die Kollegen in Bonn.“

Aha, denke ich mir, der Hippie wollte nur wissen, ob sich Einschleimen bei Herrn Gardemaß lohnt. Tut es nicht. So oder so nicht. Ich denke da zurück an eine Wohnungssuche vor etwa zwölf Jahren, als ein Mitbewerber sich gnadenlos beim Makler eingeschleimt hatte, während ich eher unscheibar danebenstand, wie es viel zu oft der Fall ist. Dennoch bekam letztlich ich den Zuschlag für jene Wohnung in der guten, alten Südstraße … Nebenbei: Selten erlebe ich, dass Schleimen zu Erfolg führt. Es ist Souveranität, die diesen garantiert.

Wir betreten die Wohnung und es ist der erste Satz Herrn Gardemaß‘, der mir die Entscheidung sehr einfach macht:

„Nun, die Räume können Sie ganz kreativ selbst gestalten!“

Ich sehe die Räume und weiß, was er meint: Die Räume haben keinen Bodenbelag. Wir müssten auf eigene Kosten Teppich oder Laminat verlegen.

„Mehr muss ich nicht wissen, wir fahren nach Hause“, sage ich zur neben mir stehenden mir Zugetrauten.

„Was?!“, fragt sie.

Beziehungsweise er. Die Hippieschwuppe.

„Oh, ich dachte du wärst meine … ach, egal.“

Sage ich und suche meine mir Zugetraute, die ich mit Herrn Gardemaß in einem Derivat von Badezimmer wiederfinde.

Herr Gardemaß zu meiner mir Zugetrauten: „Da ist kein Problem, Frau Flotho!“

Frau Flotho sehe ich dabei unter dem Waschbecken nesteln. Sie hat nach nur zwei Minuten es geschafft, das Bad unter Wasser zu setzen.

„Ich wollte an sich nur den Wasserdruck testen!“, rechtfertigt sie sich.

Ich schmunzele und bin stolz auf sie. Hat die Ruine also solche entlarvt. Ich gehe auf Herrn Gardemaß zu und sage:

„Wir würden dann schon mal gehen …“

„Ach, kein Interesse?“

„Nicht im engeren Sinne. Also nicht im Sinne von Interesse. Alles doch etwas unfertig. Boden wäre schön gewesen. Zum drauf Gehen.“

„Na, gut! Dann danke fürs Kommen!“

Man tauscht Hände aus und verlässt das „Objekt“.

„Wir sind kaum da und du überschwemmst das Badezimmer! Ich liebe dich!“, sage ich zu meiner mir Zugetrauten.

„Der Wasserdruck war aber echt okay!“