Zehn Jahre lang habe ich durch ein Versehen in Düsseldorf gelebt und seit gestern steht für mich außer Frage, dass das ein großer Fehler war. Auf der anderen Seite neige ich nicht dazu, rückblickend Dinge zu bereuen, da man nachher ja immer klüger ist und mein Status quo immer auch das Resultat von falschen Abzweigungen ist. Doch gestern, als ich zusammen mit meiner Mitbewohnerin zwecks Wohnungssuche in Münster war, hatte ich ein seltsames Erweckungserlebnis, das sich das historische Präsenz verdient hat …

Gegen 16 Uhr setze ich meine mir Zugetraute im Mauritzviertel bei ihrem neuen Arbeitgeber ab. Beide haben wir Urlaub und ich damit Zeit, nach langer Zeit wieder einmal durch unsere neue alte Heimat zu joggen, wobei „laufen“ der angemessenere Begriff ist, da ich nach 17 Jahren des Laufens mich wohl kaum als ordinären Jogger bezeichnen würde.

In den Jahren meiner Abwesenheit war ich gelegentlich in Münster laufen, doch dieser Lauf startet an einem Ort, an dem ich seit mehr als zehn Jahren überhaupt nicht mehr war: am Prozessionsweg. Und womöglich werden nur passionierte Läufer jene Gefühlswert verstehen, die ich in den kommenden drei Stunden durchlaufen werde …

Obwohl durch diverse Autofahrten und Wohnungsbesichtigungen einigermaßen müde, laufe ich in hohem Tempo los, spüre sofort die Euphorie, die meinen Körper durchströmt. Der Prozessionsweg!, denke ich, Ich bin wieder zurück! Ich kann es kaum fassen, dass ich hier wieder laufe, dass mir kleine Wegmarken so seltsam vertraut erscheinen, als sei ich erst gestern hier hergelaufen. Da sind die Statuen, die den Wegesrand säumen, aber auch profane Hinweisschilder, die Erinnerungen in mir wecken. Plötzlich schiebt sich eine Frau samt Kinderwagen vor mein geistiges Auge, die ich bei einem meiner Läufe hier vor vielen Jahren gesehen habe – ein völlig sinnlose Erinnerung, die dennoch in meinem Kopf gespeichert war …

Ich erreiche den Kanal. Und hier beginnt nun wie zu erwarten mein Düsseldorf-bashing, das von diesem Tag an auf eine objektive Grundlage gestellt wird.

Anders als im Düsseldorfer Rhein kann und darf man im Kanal baden. Das Wasser ist sauberer als das des Rheins und gefährliche Strömungen gibt es nicht. Und da es 27 Grad sind, sehe ich ein mir vertrautes Bild: überall am Ufer sich sonnende Menschen, die zwischendurch ins Wasser springen. An diesen Ufern ist mehr los als am Rhein! Ich fühle mich zurückversetzt in meine späte Jugend, die mit dem 28. Lebensjahr bei mir endete.

Zeit für das erste Foto, denke ich, als ich hinter mir den Münsteraner Rheinturm entdecke. Ich muss ja nicht erwähnen, welche nostalgischen Gefühle dieser bei mir auslöst.

Noch ahne ich nicht, dass mein Gemütszustand in wenigen Minuten einer überwältigenden Nostalfreude anheimfallen wird. Dann nämlich, als ich in überwindbarer Entfernung die Schleuse Münster erblicke.

Die war früher Teil einer sehr langen Laufstrecke von mir, zumal sie etwas außerhalb Münsters liegt. Jahrelang überquerte ich jene Dauerbaustelle, um mir den Baufortschritt anzusehen. Die Kunst bei der Sanierung der Schleusenanlage bestand wohl darin, dass das Jahrhundertbauwerk bei laufendem Betrieb erneuert wie erweitert werden musste. Beeindruckend waren für mich damals die jahrzehntealten Mauerwerke der Schleusenbecken. Die ich nun nach zehn Jahren das erste Mal wieder ansteuere.

Wie vertraut alles ist! Links das Ufer und zu meiner rechten das nahe Tierheim. Die Anlegestellen mit ihren Stromtankstellen! Hier warst du das letzte Mal vor zehn Jahren, denke ich, und was hat sich verändert? So vieles! Ich bin nicht mehr 28, ich bin 39! Ich bin ein mittelalter Mann geworden! Damals war ich Praktikant bei „Antenne Münster“, jetzt stehe ich einigermaßen fest im Berufsleben! Damals war ich frisch mit meiner Mitbewohnerin zusammen, jetzt denken wir über weitere Schritte nach! Doch eines, eines ist bei aller Veränderung gleichgeblieben: Ich laufe. Und diese Diskrepanz ist es, die passionierte Läufer vielleicht kennen. Alles ändert sich, panta rhei, doch eines bleibt immer gleich: Ich laufe. So sehr ich ein anderer Mensch geworden bin, reicher an Erfahrungen, optisch verändert, gar gealtert, so sehr bin ich aber auch derselbe geblieben: Der Läufer. Als wäre keine Zeit ins Land gezogen, laufe ich immer noch an diesem Ufer vorbei, entlang zu den Schleusentoren. Eine ganze Lebensdekade schrumpft plötzlich in sich zusammen und wird völlig bedeutungslos. Es sind auch schlechte Dinge geschehen, wie das so ist in einem Leben, aber auch diese haben für diesen Moment völlig ihre Bedeutung eingebüßt. Was kann mir schon passieren, wenn ich immer wieder an diesen Ort zurückkehren und laufen kann?

Ich erreiche die Schleuse und weiß, dass ich euphorisiert ohne Ende bin. Da ohnehin nicht weit vom Wasser entfernt gebaut, werden meine Augen feucht. Trotz der eingetrübten Sicht stelle ich jedoch fest, dass der Schleusenumbau abgeschlossen ist.

Zum ersten Mal denke ich hier, dass das Verlassen dieser Stadt grobe Fahrlässigkeit gewesen sein muss. Von diesem Gedanken geschwängert entscheide ich, jetzt die ganz große Runde durch Münster zu laufen, da ich merke, wie mich die Euphorie trägt. Ich laufe – wie damals! – den Schleusenweg entlang, um schließlich auf den „Ring“ zu gelangen. Einige verschlungene Wege weiter lande ich in einer Ecke, die mich schon damals sehr fasziniert hat, die wie eine kleine Oase inmitten Münsters liegt. Nachdem ich einen unscheinbaren Eisenbahntunnel unterquert habe, stehe ich plötzlich vor dem „Kling Klang“:

Ich weiß, wie unfassbar kitschig und pathetisch das nun alles klingt, aber es bietet sich mir ein Bild, zu dem ein Düsseldorf nicht in der Lage ist. Da spielen Menschen Tischtennis auf der Straße, während andere vor den Cafés sitzen und mich drei Radfahrerinnen fast über den Haufen fahren, weil ich völlig eingenommen von dieser Idylle auf der Straße verharre.

Ich sammle mich und laufe weiter, erreiche die Warendorfer Straße und jetzt auch den Stadtkern, angekündigt durch den Turm der Lambertikirche. Mein Herz schlägt spürbar höher. Ich passiere das alte Autohaus „Kiffe“ und bewundere den Bau der Stadtbibliothek, die hier noch Stadtbücherei heißen darf. Als Kind war ich bei der Eröffnung dieses ästhetischen Baus. Den „Primark“ ignorierend erreiche ich endlich den Prinzipalmarkt. Und hier zeigt Münster sich von seiner besten Seite. Ich schrieb es schon oft, aber wer einmal auf dem Prinzipalmarkt war, der wird die Düsseldorfer „Kö“ für einen Recylinghof halten.

Ich stehe auf dem Pflasterstein, für das Münster bekannt ist. Mitten auf der Straße, denn hier fahren freilich keine Autos. Hier protzt man nicht wie in Düsseldorf mit Edelkarren. Hier gelten andere Dinge. Dinge, die jetzt unwetterartig auf mich hereinprasseln:

Wie aus dem Nichts heraus fallen mir zwei Dinge auf. Zum einen lächeln die Menschen hier. Sie lächeln! In jedem Gesicht sehe ich Lebendigkeit und eine gewisse Daseinsfreude! Erst jetzt wird mir bewusst, wie viel offener diese Stadt ist! Diese Stadt … atmet! Mir fehlen die Begriffe, bessere als „Lebendigkeit“ und „Offenheit“ kann ich nicht liefern – und doch sind sie zu schwach um das zu beschreiben, was ich sehe. Welch Kontrast zu Düsseldorf! Dort laufen die Menschen geradeaus, machen keinen Platz und blicken grimmig drein. Klar, ich verallgemeinere, aber das Bild, das sich mir hier bietet, das ist definitiv und objektiv ein anderes! Ich spüre geradezu die Offenheit dieser Stadt, die auch ihr Stadtbild offenbart. Diese Stadt ist für den Bürger gestaltet und nicht für Investoren und Touristen.

Und noch etwas fällt mir ins Auge: Ich sehe überwiegend junge Menschen! Natürlich, Münster ist Studentenstadt und die Institute im gesamten Stadtgebiet verteilt und nicht als Trabant am Stadtrand wie in Düsseldorf. Es wimmelt hier von radelnden Studenten! Jetzt erst realisiere ich, dass ich, womöglich auch dem demografischen Wandel geschuldet, in Düsseldorf überwiegend ältere Menschen sehe! Das ist per se nicht schlecht, aber eine gesunde Mischung ist besser! In mir steigt eine ungeahnte Fröhlichkeit auf und mir kommt der Gedanke, dass mein künftiger Gemütstzustand ein ganz anderer sein wird, wenn wir in drei Wochen hier hinziehen. Kann es sein, dass Düsseldorf mich schleichend zum Negativen verändert hat? Steht mir ein neues Aufblühen bevor?

Münster steht hier und da im Ruf, spießig zu sein, die Menschen würden zum Lachen in den Keller gehen. Alles, was ich hier sehe, widerspricht dem auf unmissverständliche Weise! Wie künstlich mir jetzt die „rheinische Fröhlichkeit“ erscheint, mit der ich blondierte Damen in ihren 50ern verbinde, die ein Alt beziehungsweise Kölsch in ihrer Hand tragen und mit rauer Stimme irgendwas von „Bützchen“ grölen. Was ich hier in Münster sehe, ist nicht aufgesetzt und versucht noch weniger, einem Image gerechtzuwerden. Das hier, das ist echt. Das hier, das scheint eine Selbstversändlichkeit zu sein.

Als ich in Münster zur Schule ging, hatte die Stadt rund 250.000 Einwohner. Ohne Eingemeindungen steht sie nun bei 310.000 Einwohnern und ist die am schnellsten wachsende Stadt Deutschlands. Und auch wenn ich fürchte, dass es bei der nächsten Bundestagswahl nicht mehr der Fall sein wird: Zuletzt war Münster der einzige Wahlkreis in diesem eigentlich so tollen Land, in dem die neuen Nazis an der Fünfprozenthürde gescheitert sind. Ich erinnere mich, als im vergangenen Jahr jene Nazis einen Saal in der Innenstadt anmieten wollten, vermutlich zwecks einer Propagandaveranstaltung. Kaum wurde das bekannt, hatten die Braunen eine ganze Stadt gegen sich, die aufgestanden ist!

Und so dachte ich auch gestern, was für ein ungeheurer Jammer es wäre, würden wir uns von den Nazis diese sagenhafte und kostbare Offenheit, diese Freiheit, diese Vielfalt, zerstören lassen. Diese Stadt ist einzigartig und ich lege jedem zwei Dinge nahe:

Erstens, besuchen Sie Münster umgehend.

Und zweitens: Meine Mitbewohnerin und ich hatten diesen Traum, wieder zurück nach Münster zu gehen. Seine Verwirklichung schien aberwitzig und unrealistisch zu sein. Doch dann haben wir diverse Dinge in Bewegung gesetzt und dieses und jenes geopfert. Und seit diesem Lauf weiß ich, dass das alles kein Fehler war, dass man solchen und anderen Träumen Dinge unterordnen muss, um das Lebensglück selbst anzupacken. Es lohnt sich!