Eskapismus: Ein fast Vierzigjähriger liegt im Bett und hört ein dreißig Jahre altes „Winnetou“-Hörspiel von „Europa“. Dabei trinkt er „Fanta“. Manchmal ist der Abstand zwischen Mann und Junge erschreckend kurz … Limooooo!

„Schon morgen früh werde ich eine Unterhose suchen!“, schrieb ich Freundin Sabrina garniert mit einem kleinen Video, das neben unseren Toilettendeckel den mit Kartonagen zugestellten Flur zeigt. Meine Mitbewohnerin und ich ziehen in drei Tagen um. Wir verlassen den Moloch, kehren der Kloake den Rücken und stürzen uns in unser Goldenes Caitalter. Die Erwartungen sind unermesslich hoch an Münster, an unser dortiges neues Leben, das wir planen. Planen müssen, da es nun auch beruflich Veränderungen geben wird. Dieses Mal, dieses eine Mal, wird nichts dem Zufall überlassen, höchstens dem Schicksal, allerdings nur teilweise. Denn Anfang dieses Jahres habe ich das „Anpacker“-Jahr ausgerufen und nun wird es eben wirklich ernst. Am Ende des Prozesses will ich mindestens einen Hund besitzen … Darum auch Wohnung mit Garten.

Und tatsächlich suchte ich eben eine Unterhose.

Rund 80 Kartons hat uns unser Umzugsunternehmen gestellt. Dass diese nicht ausreichen werden, ist mir spätestens seit gestern klar, als ich damit begann, das Wohnzimmer zu verpacken. Der Leser muss wissen, dass das Wohnzimmer im Wesentlichen mit meinem Zeugs zugestellt war, während das „Arbeitszimmer“ eher das meiner Mitbewohnerin war. Dort fand ihre Kunst statt, im Wohnzimmer die meine. Wie auch gerade dieser Text.

Bevor ich gestern überhaupt anfangen konnte, mein Wohnzimmer zu verstauen, musste ich meine Postablage ordnen, was ich – wie ich dann sah – ganze zwei Jahre lang nicht mehr getan hatte. Ich habe ein ausgeklügeltes Aktenordner-System, das nach einem komplizierten Verfahren aufgeschlüsselt ist. Nur um selbst dieses Archiv verstehen zu können, habe ich überhaupt studiert. Ich bin zwar großer Freund von Aufräumen, Ordnen und Systematisieren, aber leider hasse ich Lochen mit anschließendem Wegheften, sodass ich im Jahre 2009 eine Postablage in mein System integrierte mit der festen Absicht, diese regelmäßig zu leeren, was freilich nicht oft passiert ist.

Das rächte sich nun, da ich eine Stunde lang Dokumente sortieren musste, bevor ich überhaupt mit dem Verpacken anfangen konnte. Da waren rund 20 noch ungeöffnete Lohnabrechnungen, Inspektionsbescheinigungen von „Toyota“ und sogar noch der Briefverkehr mit der Arbeitsagentur, der gestern wieder leichtes Unwohlsein in mir auslöste, doch Erbrechen war keine Option. Ah, der Organspendeausweis! Ich habe etwa vier Stück davon, da ich ja auch vier Organe feilbiete. Nur das Herz nicht, denn mein Herz gehört nur einer (Puh …) . Außerdem ist es ein leicht vergrößertes Sportlerherz und wer bin ich, das möglicherweise einer fetten Sofakartoffel zu überlassen?! Ich darf übrigens jetzt so reden. Ich stehe vor ganz neuen Freiheiten …

Sabrina und ich waren uns einig, dass man einen Umzug zunächst sehr organisiert angeht. Das tat ich auch. Regalweise befüllte ich die Kartons mit rund 20 Kilogramm und beschriftete sehr ordentlich:

„Wohnzimmer, großes Regal, vierte Etage, DVDs“
„Wohnzimmer, großes Regal, dritte Etage, Geschichtsbücher“
„Wohnzimmer, großes Regal, zweite Etage, Sportbücher I“
„Wohnzimmer, TV-Schrank, erste Schublade, Kabelgedöns“
„Wohnzimmer, TV-Schrank, mittlere Schublade, Anleitungen“

„Die Sopranos“ teilen sich mit dem „Paten“ und den „Good Fellas“ einen Karton, was thematisch ganz gut passt. Die große „Loriot-Box“ hingegen sticht da etwas heraus, kann sich aber sicherlich mit der „John Cleese-Box“ anfreunden und sich mit ihr gegen die Mafia durchsetzen.

Mein Plan war und ist es noch, am Umzugstag diese Kartons wieder Regal für Regal, Schrank für Schrank, Schublade für Schublade systematisch auszräumen. Und gerade weil es mein siebter Umzug ist, hätte ich wissen müssen, dass daraus natürlich nichts wird. Neben meinem bereits umgezogenen Archiv des Magazins „Der Spiegel“ (Wir erinnern uns, 20 Jahrgänge!), archiviere ich noch weitere, hochwertige Magazine, da ich gerne fachlese. Und gute Fachmagazine, die gerne mal zwölf Euro und mehr kosten, die wirft man nicht weg, die sammelt man. Und die werden dann zum Problem, wenn man umzieht. Aber eben auch nur dann und da muss man halt durch. Hingegen gar kein Problem: die DVDs! Auch nicht die Bücher! Es waren die Magazine das Problem, sind diese ungewöhnlich schwer. Alleine „Geo Epoche“ musste ich auf drei Kartons verteilen. Die sind dann jeweils 20 Kilo schwer, aber eben nicht voll! Also Kleinscheiß mit reinwerfen. Und an dem Punkt war das System bereits an seinem Ende. Nun befinden sich in „Wohnzimmer-Kartons“ Dinge aus dem Flur. Für einen Ordnung liebenden Mensch eine Zumutung! Und dann erst sah ich meine Atlantensammlung! Die stand nicht etwa im Regal, nein, jeder Atlant „hing“ an der Wand. Der schwerste, der von „Kosmos“ (und einer der detailreichsten der Welt), wiegt allein schon 7,4 Kilogramm. Er teilt sich mit dem zweitbesten der Welt einen Karton, mit dem „Times Comprehensive Atlas of the World“, der es immerhin auf 5,8 Kilo bringt. Oben drauf: Diverse Kissen und Deko-Scheiß aus der Küche, den ich im Vorbeigehen mitnahm. Klassischer Mitnahmeeffekt. Ich weiß jetzt schon, dass wir am Wochenende die Dose mit den Gummibändern suchen werden, da diese sich eben in einem Atlanten-Karton befindet und nicht in einem Küchenkarton!

Mit jedem Karton nahm der Spaß am Packen spürbar ab. Irgendwann ging es mir nur noch darum, den ganz Plunder irgendwie zu verstauen. Es wird sich schon alles wiederfinden, dachte und log ich mir vor.

Pause. Ich erledigte diverse Telefonanrufe, die mir schwer im Magen lagen, und joggte ein allerletztes Mal durch Düsseldorf. Ich war auf eine gewisse Wehmut eingestellt, weil ich ja sonst auch keine Gelegenheit für Melancholie und/oder Nostalgie verstreichen lasse, doch beides blieb dieses Mal aus. Ich erinnere mich noch sehr gut an meinen letzten Lauf durch Münster im Mai 2008, kurz bevor ich durch eine Unachtsamkeit nach Düsseldorf zog. Damals war ich nicht nur wehmütig, sondern wirklich wenig erfreut über den Weggang aus Münster. Damals brach ich den Lauf im Grunde nach 20 Minuten ab. Gestern jedoch konnte ich den Lauf über die Düsseldorfer Rheinbrücken genießen:

Wieder zuhause machte ich mich ans Schlafzimmer, wo es im Wesentlichen um Kleidung ging. Da wir die kommenden zwei Monate keinen Kleiderschrank besitzen werden, musste hier sehr sorgsam gepackt werden. Letztlich benötigt mein kompletter Klamottenbestand zehn randvolle Umzugskartons, die bis zum Januar mein Schrank sein werden, was komplizierte Gründe hat. Ich darf andeuten: Wir ziehen zweimal um. Dieses ist nur der erste von zwei Umzügen in diesem Jahr. Details will ich Ihnen nicht zumuten. Nun … dass am Ende meine „kurzen“ Hosen zusammen mit den „Longsleeves“ in einer Kiste liegen, ist für mich ein persönliches Drama, das sich aus packtechnischen Gründen ergeben hatte. Ich war im Grunde schon fertig, als ich eine Schublade aufzog, die ich bereits geleert wähnte, in der sich jedoch noch meine „kurzen“ Hosen befanden. Nun mag man einwenden, dass ich diese im Winter wohl kaum bräuchte und es relativ egal wäre, wo diese sich befünden. Dem ist leider nicht so, ich trage sie aus ebenfalls komplizierten Gründen auch winters.

Erschrocken war ich über die Anzahl meiner „Oberhemden“. Ich traf auf einige Exemplare, die ich zum ersten Mal sah. An ihren Kauf konnte ich mich nicht erinnern und freue mich daher umso mehr, sie bald einweihen zu können. Was Hemden angeht, verfüge ich über einen erlesenen Geschmack. Dachte ich und blickte dabei in den Flur. Grundgütiger! Meine Käppi-Sammlung!

Im Flur hing meine Käppisammlung. Es sind weit über hundert, die sich in rund 20 Jahren des Käppitragens angehäuft haben. „Er wirft aber auch nichts weg“, werden Sie nun denken, doch Sie liegen falsch. Ich werfe die richtigen Dinge weg. Und dazu gehört sicherlich nicht das erste von mir jemals getragene Käppi! Der Marke „Levi’s“ übrigens. Ich habe noch zu jedem Käppi den Kassenbon! In meinem Ordnersystem!

Nachdem ich heute Morgen meinen Sport absolviert hatte, bestieg ich die Dusche. Und wie man das so macht, der eine vor-, der andere nachher, suchte ich mir danach frische Wäsche. Und es kam, wie ich es erwartet hatte, ich fand nicht den beschissenen Karton mit der Aufschrift „Schlafzimmer, Kleiderschrank, Plinten“. „Plinten“ sind Unterhosen. Ich lerne gerade wieder Münsteraner Masematte … Im Flur stehen etwa 30 Kartons. Unter diesen muss ich jetzt meine Unterhosen finden. Ja, Sie haben Recht: Ich schreibe gerade nackt. Mein Hoden klebt auf meinem Schreibtischstuhl. Wenn Sie mich das nächste Mal also besuchen, meiden Sie diesen Stuhl!

Ein Wort noch zum Beitragsbild: Die Umzugskartons geben keinen Aufschluss über das von uns gewählte Umzugsunternehmen, wie man meinen könnte. Es wirft jedoch die Frage auf, warum unser Unternehmen Kartons anderer Unternehmen vermietet! Und die von „Praktiker“, das sind unsere eigenen. Sie sind mein Kleiderschrank!