Eine Woche ist nun ins Westfalenland gezogen, nachdem ich in meiner Düsseldorfer Küche Abschied vom Oberbilker Slum genommen habe. Am folgenden Tag zogen meine Mitbewohnerin und ich nach Utopia Münster. Und so war es im Nachhinein mindestens fragwürdig, möglicherweise aber auch einfach dämlich, am letzten Abend noch zwei Flaschen Weißwein zu leeren, bevor am nächsten Tag um acht Uhr die Umzugshandlanger kamen.

Lieber Leser, in diesem Moment sitze ich auf meinem Bett, denn ein Sofa haben wir nicht mehr. Ebenso wenig wie jenen Küchentisch, an dem ich sooft schrieb. Wir haben uns von einigen Möbeln getrennt und rüsten nun nach und nach auf. Auch von meinem Internet-Provider habe ich mich getrennt, was jedoch nur ein Missverständnis war. Ich hatte ihm lediglich meinen Umzug mitteilen wollen, er hat das aus unerfindlichen Gründen als Kündigung verstanden und diese auch noch umstandslos akzeptiert, sodass ich jetzt bis Ende dieses Monats – wenn es denn gut läuft! – ohne Netz daseinfriste. Auch der „Surf-Stick“, den ich vor Wochen schon geordert hatte, um diese Phase zu überbrücken, ist noch nicht angekommen. Die entsprechende Bestellung sei im System hängengeblieben, sagte man mir am Telefon. Doch auf eine internetfreie Zeit war ich eingestellt, ist dieses doch mein siebter Umzug und das siebte Mal, dass ich auf den Nachzug des Netzes warten muss. Umso schöner, dass ich mich jetzt in einem fremden W-Lan eingeloggt habe, sodass ich Ihnen das Ereignis schildern kann, vor dem es mir solange graute, das jedoch die Voraussetzung für die Erfüllung unseres kleinen Traumes war: den Umzug.

Es ist sechs Uhr, als mein Wecker klingelt, und im Grunde bin ich noch betrunken, hatte ich doch bis etwa zwei Uhr noch die letzten Flaschen geleert, um den Umzugs-LKW zu schonen.

„Es ist dein Wecker!“, sagt meine Mitbewohnerin, die mich auch für tot halten könnte, da ich nicht auf meinen Wecker reagiere. Ich weiß schlicht nicht, was zu tun ist. Und erst nach Minuten realisiere ich, dass ich noch betrunken bin und dennoch nun aufstehen muss. Eine der Stadt angemessene letzte Nacht liegt hinter mir.

„Grundgütiger! Wie kann man am Abend vor einem Umzug nur trinken?!“, frage ich die Welt und schleppe mich ein letztes Mal unter die Düsseldorfer Dusche vorbei an den Kartontürmen, die wir in den vergangenen Tagen errichtet haben. Es sind 68 Kartonagen und heute kommen noch ein, zwei dazu – die letzten Reste. Die allerletzten Reste hingegen lassen wir zurück.

„Ich bin außerstande, irgendwelche Lampen von der Decke zu nehmen. Ist eh alles Halogen. Wir lassen sie hier,“ erkläre ich meiner Mitbewohnerin, „Und als ob wir in der neuen Wohnung diesen ‚Allibert‘ wieder aufhängen! Bleibt auch hier!“

Sie ist einverstanden, im Grunde sogar erleichtert. Ganz fit ist sie eben auch nicht an diesem Morgen.

Acht Uhr. Seltsam pünktlich kommen die Möbelpacker. Denn es sind ja keine Biodeutschen, sodass mit Pünktlichkeit wirklich niemand rechnen konnte. Und ehe ich mich versehe, verliere ich jegliche Kontrolle über mein materielles Leben. Vier, fünf oder sechs – ich hab caine Ahnung – Menschen stürmen die verhasste Wohnung und räumen sie in einem atemberaubenden Tempo leer. Die AfD, die neuen Nazis, würden Augen machen, sähen sie diesen Fleiß!

„Dass die das aber nicht mit nach Polen nehmen!“, höre ich plötzlich aus dem Hausflur. Es ist Herrn Fahrgescheits Stimme, „Mann, Mann! Sechs Jahre waren wir jetzt Nachbarn! Ich würd die auf der Autobahn aber eskortieren, mein Lieber, sonst ist Ihr Hausstand aber weg!“

Herr Fahrgescheit lacht und geht weiter. Er hat es nicht ernstgemeint, nehme ich an, und sage zu meiner Mitbewohnerin: „Wir fahren schön hinter dem LKW her …“

Ich darf hier einschieben, dass ich in Münster wieder auf das leicht irre Pärchen treffen werde, das mich seit zehn Jahren aus unerfindlichen Gründen für einen Antisemiten hält. Wer diesen Blog öfter liest, weiß, dass ich nichts mehr fürchte als die Rückkehr der Nazis, die ja schon da sind. Ich überlege mir schon seit Wochen, wie ich das militante Gutmenschentoleranzpärchen begrüßen werde, sollte ich es mal antreffen. Überlege, mit einem „Sieg heil!“ die Stimmung etwas zu lockern, um dann hinterherzuschieben: „Jetzt will ich der AfD in Münster mal über diese lästige 5-Prozent-Hürde helfen!“ Ich kann es kaum erwarten!

Möbelpacker sind schnell. Was sie sehen, das stemmen sie, das schleppen sie raus. Auch Dinge, die dafür nicht vorgesehen sind.

„Halt! Moooment, den nicht! Den Kleiderschrank verkaufen wir! Nehmen wir nicht mit!“, rufe ich dem Handlanger zu, der meine Sockenschubladen vor seiner Brust trägt. Gut, also trotz „Nett-Werk Düsseldorf“ bei Facebook und Ebay-Kleinanzeigen sind wir den Schrank de facto noch nicht losgeworden, doch im Notfall kommt er eben auch auf den für Montag angemeldeten Sperrmüll. Und das gilt auch für das Sofa:

„Stopp! Mooooment, das nicht! Das Sofa wird verkauft, kann hier bleiben!“, sage ich zu den an mir vorbeiziehenden Sofakissen, während mich die Platte unseres Küchentisches am Kopf trifft.

„Haaaaalt! Der Tisch bleibt auch hier!“, rufe ich dem Mann hinter der sich durch den Flur bewegenden Tischplatte zu.

„Bist du sicher, dass du umziehst?!“, fragt mich Herr Dado. Herr Dado ist der CEO des Umzugsunternehmens aus Neuss und duzt mich ebenso penetrant wie ich ihn sieze. Das soll mir aber erst in einigen Tagen auffallen: dass ich auf teufelkommraus Menschen in Grund und Boden sieze, die mich wiederum duzen. Das ist nicht einmal Trotz, das ist mein Verständnis von Respekt. Und es macht irgendwie auch Spaß. Meine Mitbewohnerin ist da lockerer, die duzt dann auch.

Vom Duzen abgesehen habe ich Probleme, Herrn Dado überhaupt zu verstehen. Er ist Osteuropäer. Das genaue Land habe ich schon wieder vergessen, da in unserer Wohnung gerade sämtliche osteuropäischen Nationen vertreten sind. Ein Kollege ist mir besonders sympathisch: Er klopft mit bei jeder Gelegenheit auf die Schulter und sagt:

„Heimat! Du machen alles richtig, ziehen in die Heimat zurück! Egal, wie schwierig, Hauptsache Heimat!“

Das sagt er noch unzählige Male an diesem Tag und ist damit der erste Mensch neben meiner Mitbewohnerin, der wirklich versteht, worum es mir beim Rückzug nach Münster geht. Er hat absolut Recht und fast bedaure ich ihn, da ich annehme, dass er nicht in seiner Heimat lebt oder leben kann.

Herrn Dado antworte ich überwiegend mit „Ah, okay!“. Ich versuche mich in dieser neutralen Antwort, weil ich seine Interpretation von Deutsch nicht verstehe. Meist nickt er dann und ich habe den Eindruck, meine Antwort passt irgendwie. Nur einmal, da guckt er mich fragend an:

„Okay?!“, sagt er.

„Achso, nein, nicht okay!“, korrigiere ich. Und er nickt wieder. Puh, Glück gehabt.

Nach zwei, vielleicht drei Stunden, ist unsere Düsseldorfer Wohnung leer. Sonntag, in zwei Tagen also, ist die Schüsselübergabe.

Kommen Sie hier bitte nicht durcheinander, denn gemeint ist nicht der übermorgige Sonntag, sondern der vergangene. Die Schlüsselübergabe fand also schon statt! Dazu später einmal mehr.

Kurz vor der Abfahrt gen Münster fragt mich Herr Dado etwas.

„Ah, okay!“, sage ich.

„Er will unsere Adresse in Münster wissen!“, interveniert meine Mitbewohnerin.

„Achso, natürlich. Hab ich verstanden! Emden-…“

„Nein, gibst du hier ein!“, unterbricht Herr Dado.

„Ah, okay!“, sage ich.

„Du sollst die Adresse direkt in sein Handy eingeben!“, informiert mich meine Mitbewohnerin. Herr Dado reicht mir sein Handy, während ich nicht verstehe, warum nicht er selbst die Adresse eingibt. Und noch weniger verstehe ich es, als ich die kyrillisch (vom Orkan Kyrill stammenden) anmutenden Buchstaben auf seinem Display sehe.

„Nun“, sage ich, „das ist ja recht kyrillisch. Ich tue mich von jeher schwer mit Kyrillisch.“

Herr Dado lächelt mich an: „Ah, okay.“

Ich wende mich meiner Mitbewohnerin zu: „Tu doch was, wir sind hier in einer Sackgasse.“

„Mache nur Spaß!“, sagt dann Herr Dado, der offenbar nur Spaß macht.

„Ah, okay!“

Nun, ich kürze ab: Die Fahrt nach Münster dauert nur 75 Minuten, da ich rase. Unbedingt will ich vor dem LKW samt Hausstand und Herrn Dado in Münster ankommen, der übrigens eine halbe Stunde vor uns abfuhr.

„Dies ist ein historischer Augenblick“, murmele ich während der Fahrt immer wieder vor mich hin, um dann meiner Mitbewohnerin den Ursprung dieses Zitats zu erklären, die das aber nicht hören mag.

Noch an jenem Abend war unsere neue Wohnung mehr oder weniger eingerichtet, die meisten der 68 Kartonagen ausgepackt. Nur zwei Tage haben wir gebraucht, um zu merken, warum der Kühlschrank nicht funktioniert: weil der Stecker nicht drinsteckte. Die Frage „Steckt denn der Stecker?“ hat manchmal ihre Berechtigung. Und auch unsere Spüle der innerhalb von nur vier Stunden wieder aufgebauten Küche funktioniert nun einwandfrei, nachdem der Klempner heute Morgen die letzten Handgriffe tat.

Am Tag nach dem Umzug machten meine Mitbewohnerin und ich uns auf in das Café, in dem wir vor etwa eineinhalb Jahren saßen und uns überlegten, ob es nicht möglich wäre, wieder zurück nach Münster zu ziehen. Damals schien das noch utopisch zu sein. Anfang dieses Jahres wurde es konkret. Und nun ist es geschehen. Das Kapitel Düsseldorf, das ich jetzt nach einer Woche Münster fraglos als Fehler bezeichne, ist abgeschlossen. Was ich allein in den zurückliegenden Tagen in dieser Stadt sehen und erleben konnte, stellt mich vor die Frage, welcher Teufel mich geritten hatte, Münster überhaupt einmal den Rücken zu kehren. Wohin ich blicke, sehe ich historische Gebäude, während sich in Düsseldorf die Bausünden die Klinke in die Hand geben. Wo ich auch hinsehe, erblicke ich Menschen, deren Mund kein gerader Strich, sondern eine zu den Winkeln nach oben gebogene Linie zeichnet. Und was mir dramatisch auffällt: Hier sind so unfassbar viele junge Menschen! Hier herrscht eine ganz andere Dynamik, wenn man sich durch die Stadt bewegt. Im direkten Vergleich mit Münster ist Düsseldorf eine tote Stadt. Ich habe mich hier direkt wieder zuhause gefühlt und zunehmend den Eindruck, dass auch ich zehn Jahre lang zumindest in einem Koma lag.

Meine Mitbewohnerin und ich sind sehr stolz darauf, dass wir diesen Schritt vollzogen haben. Von der ersten Sekunde an war uns klar, dass es der richtige war.

Dies ist ein historischer Augenblick.


Kleines Update: Natürlich höre ich hier und dort, dass mein Düsseldorf-Bashing zu weit gehe. Andere ertragen wiederum die Lobhudeleien auf die sensationelle Stadt Münster nicht. Das ist mir natürlich bewusst, aber auch erfrischend egal. Abgesehen davon, dass man mir bei keinem sozialen Medium folgen muss und jederzeit entfolgen kann, geht es hier um ganz subjektive Eindrücke und Empfindungen. Dass die natürlich nicht jeder nachvollziehen kann, liegt in der Natur der Sache und so ahne ich, dass ich in Düsseldorf, diesem Moloch, verbrannte Erde hinterlasse. Aber nochmal: Hier geht es doch um nichts Weltbewegendes. Wer Düsseldorf schön findet, dem lasse ich seine (unverständliche) Freude. Es soll ja auch Menschen geben, die Münster nicht gut finden. Obwohl das nur irrgeleitete Spinner sein können. Also, alles nicht so ernstnehmen. Aber so sind sie eben, die Düsseldorfer, verstehen keinen Spaß …