Meine Mitbewohnerin hat Angst um mein Leben. Zunächst einmal finde ich das erfreulich, denn ein

„Mir egal, ob du stirbst oder nicht“

aus ihrem Munde wäre ja fast schon ein Trennungsgrund, würde in unserer Beziehung zumindest Fragen aufwerfen.

Seit wir vor drei Wochen nach Münster gezogen sind – vielleicht haben Sie es mitbekommen, denn ich hänge es ja nicht an die große Glocke -, sieht sie meine Vitalwerte jedoch in akuter Gefahr, da ich in den zehn Jahren, die ich versehentlich nicht in Münster gelebt habe, eine Sache komplett verdrängt habe: den Radfahrer in Münster. Und dass es viele davon geben muss, legt die Statistik nahe: Es gibt 500.000 Fahrräder in Münster. Und 300.000 Einwohner. Sie bemerken die Differenz? Sie ist es, die es in Münster ganz offiziell erlaubt, dass sich jeder Münsteraner zu jeder Zeit ein Fahrrad seiner Wahl nehmen kann. Laufe ich an einem schicken Hollandrad vorbei, darf ich es mitnehmen. Vielleicht ist es ja sogar eines von denen, das mir vor einigen Jahren genommen wurde.

Als ich 2008 nach Düsseldorf zog, habe ich nach rund einer Woche das Radfahren drangegeben und mein Fahrrad in den Rhein geworfen. Zwar nennt sich Düsseldorf allen Ernstes „Fahrradfreundliche Stadt“, doch bewerten dort Radelnde die Situation etwas anders; ich denke da besonders an jene, die mit ihrem Vorder- oder Hinterrad in die Gleise der Straßenbahnen geraten sind, um dann von beispielsweise der guten, alten 709 überrollt oder mindestens angerollt zu werden.

Freilich kann man radfahren in Düsseldorf. Aber nicht, wenn man vorher 25 Jahre lang in Münster gefahren ist und sich an die orangefarbenen Wege gewöhnt hat, die exklusiv dem Radfahrer zur Verfügung stehen. Die gibt es in Düsseldorf nicht. Wer etwas anderes behauptet, bezieht sich lediglich auf die wenigen vorhandenen Meter, die relativ unvermittelt einfach irgendwo aufhören oder fließend in die Autostraßen übergeben. Um es deutlich zu sagen: Düsseldorf ist keinesfalls fahrradfreundlich. Dort muss der Radfahrer Rücksicht auf andere nehmen, in Münster nehmen hingegen alle Rücksicht auf den Radfahrer. (Darum wird man als Radfahrer in Münster nervös, wenn man auf Autos trifft, deren Kennzeichen kein „MS“ aufweist.)

Ich bin kein Radfahrer. Ich weise darauf hin, damit hier nicht das Missverständnis aufkommt, ich verföchte nun das Radfahren. Es ist mir einigermaßen egal. Doch in Münster bietet sich nun auch für mich wieder die Draisine als Hauptverkehrsmittel an, da in den vergangenen zehn Jahren offenbar mächtig in Fahrradstraßen investiert worden ist. In Straßen, in denen der Radfahrer fahren darf, wie er möchte, und sich der Autofahrer darauf einzustellen hat. Wenn also ein Radfahrer auf einer Fahrradstraße beschließt, in der Straßenmitte zwischen den Fahrbahnen eine Pirouette zu drehen und danach dort zu zelten, hat der Autofahrer ihn zu umfahren und eben nicht umzufahren. Da ich das Autofahren in Innenstädten tatsächlich für anachronistisch und gescheitert halte, finde ich diese Fahrradstraßen grundsätzlich gut und der Münsteraner Autofahrer weiß durchaus mit Radfahrern zu rechnen.

Wer wie ich in Münster seinen Führerschein gemacht hat, der fährt grundsätzlich anders als beispielsweise ein Düsseldorfer oder Berliner: Beide können gut hupen, haben vom Schulterblick aber noch nie etwas gehört. Verzichtet man hingegen in Münster beim Abbiegen auf jenen Blick, kann man sicher sein, gleich mehrere beleezte Studenten mit in die Kurve zu reißen, was ja möglicherweise ohnehin ihrer Route entspricht, aber Leib und Leben gefährdet.

„Du solltest dich schnellstmöglich wieder auf die Radfahrer einstellen!“, sagt meine Mitbewohnerin mir derzeit jedes Mal, wenn ich mich fußgehend durch die Stadt bewege und dabei immer wieder von Radlern angefahren werde. Die ersten Tage waren besonders schlimm:

Wir verlassen unsere neue Wohnung. Weil ich mich in einem Münsterrausch befinde, der bis zum heutigen Tag anhält, blicke ich dabei stets nach oben und sage Dinge, wie

„Dies ist ein historischer Augenblick!“
„Wir haben es echt geschafft!“
„Wahnsinn! Wir sind in Münster!“
„Krass, man verlässt die Wohnung und steht in Münster!“
„Ich kann’s noch immer nicht glauben, wie schön diese Stadt ist!“

… und sehe nicht den von rechts kommenden Radfahrer, der zwar bremst, das aber auf meinem Schienbein und damit zu spät.

Seit wir in Münster wohnen, vergeht kein Tag, an dem wir nicht ausgehen. Ich möchte fast sagen, dass ich ein komplett neuer Mensch bin. Doch dieser neue Mensch ist gefährdet. Beispiel Prinzipalmarkt: Selbstredend ist er eine autofreie Zone, was für die Düsseldorfer Kö, einem billigen Prinzipalmarkt-Abklatsch, undenkbar ist. Also verbringe ich keine Minute zuviel auf dem Bürgersteig und peile die Mitte der Flaniermeile in Münster an, wobei ich in den letzten drei Wochen exakt sieben Mal angefahren worden bin – von Radfahrern.

„Seppoooo! Nicht schon wieder!“, muss ich mir dann anhören und meine Mitbewohnerin hat ja Recht. Ich verstehe die Latenzen meiner Anpassungsphase ja auch nicht. Wenn ich 70 oder älter wäre, kein Ding, aber mit 38 oder 39 Jahren?!

Wenn ich jetzt tatsächlich mein Leben lasse, weil ich wieder einmal achtlos durch Münster promeniere, würde sich manch einer die Hände reiben, der meine Angeberei mit Münster in den zurückliegenden Monaten ertragen musste. Ausgerechnet Seppo mit seinem Düsseldorf-bashing wird von einem Radfahrer in Münsteraner totgefahren! Er hatte doch so viele Gelegenheiten, vor eine Straßenbahn zu geraten oder im Rhein zu ertrinken. Letzteres stimmt tatsächlich: Durch ein unglückliche Verkettung von Verhaltensweisen meinerseits bin ich vor zweieinhalb Jahren mal ungünstig in den Rhein gefallen und musste gerettet werden. Und wer hat mich gerettet? Meine Mitbewohnerin! Es waren zwar noch einige andere anwesend, doch die waren damit beschäftigt, sich in einem herzhaften Auslachen zu verlieren. Fast habe ich Verständnis dafür. Fast. War aber auch wahrlich nicht mein Tag.

Heute Nacht werde ich wieder Münsters Boden betreten, wenn ich am Hauptbahnhof ankomme. Und vermutlich werde ich übermüdet sein und abermals nicht darauf achten, was da von rechts und links kommt, wenn ich den Bahnhof verlasse. Meine Mitbewohnerin hat mir deshalb eine Glocke mitgegeben, die ich mir nun immer umhängen soll, wenn ich die Wohnung verlasse. Ich fühle mich nun wie ein Rind, aber immerhin wie ein sicheres Rind.

Morgen fliege ich nach Schottland. Das mag schön sein, jedoch gehe ich davon aus abzustürzen. Das wäre ein Abtritt nach Maß. Von wegen vom Fahrrad überollt! Wobei ich vielleicht heute noch Opfer eines ICE-Unglücks werden könnte. Oder ich sterbe gleich auf dem Klo, wo es mich nun hinzieht. Beten Sie für mich.