Einigerbekanntermaßen bin ich ein Gegner des Fliegens. Flugfreunde hingegen schwärmen mitunter davon, wie schnell es sich mit Flugzeugen reisen lässt. Diese Annahme beruht auf einer schweren Einbildung. Gut, ich gestehe zu, dass meine Mitbewohnerin und ich lediglich 80 Minuten von der Insel zum Festland flogen, aber letztlich von Wohnungs- zu Wohnungstür rund 13 Stunden Reisezeit benötigten. Mit einem Fernbus wären wir etwa elf Stunden unterwegs gewesen.

Bis zum heutigen Tag war ich bekennender Gegner von Bahn-Hassern. Nach zwei Jahren, die ich zwischen Düsseldorf/Münster und Berlin gependelt bin, wechsle ich jetzt aber die Seiten und gebe offen zu, dass ich falsch lag und das Bahn-bashing seine absolute Berechtigung hat. Ich war im Irrtum, Sie hatten Recht. Ich gebe diesen historischen Fehler, meine Fehleinschätzung, nicht gerne zu, aber es ist notwendig. Nach mehr als 150 Bahnfahrten kann ich nur zu einem Fazit kommen: Dieses Bahn-Unternehmen ist kaputt. Ich habe es beispielsweise noch nicht ein einziges Mal erlebt, dass das Umsteigen innerhalb einer Fahrt funktionierte; stets war mein Anschluss nicht erreichbar. Auch eine Umstiegszeit von 20 Minuten genügt nicht. Wer aus Münster kommend morgen in Hamm umsteigen muss, der sollte spätestens heute Nachmittag sich auf den Weg machen, um noch eine geringe Chance zu haben, den Anschluss zu erreichen.

Von jenen 150 Fahrten haben, sofern es hochkommt, zehn einigermaßen geklappt. Übrigens entstehen auch diese Zeilen im ICE nach Berlin. Und auch dieser ICE hat bereits eine Stunde Verspätung – und ich fahre jetzt erst los! Es ist keine selektive Wahrnehmung, es ist bittere Realität und auch die Bahn selbst hat es ja jüngst offen zugegeben. Es ist ja auch nicht ihre Schuld, es ist die der politischen Weichenstellungen in den Neunzigerjahren, als man beschloss, die Anzahl der Weichen zu verringern. Die Folgen spüren wir heute.

Doch reisen wir zunächst einige Tage zurück nach Edinburgh, wo meine Mitbewohnerin und ich uns gegen acht Uhr am Morgen auf den Weg zum Flughafen machen, wo wir noch ein heiteres Frühstück einnehmen wollen.

Ein typisch englisches und der Leser darf darüber spekulieren, wer von uns beiden sich für das seltsame Ei auf Haggis entschieden hat, während ich ja nur das esse, was der Junge (auch ich) kennt.

Das Frühstück ist entspannt, denn noch wissen wir nicht, dass er Flug sich um eine Stunde verschieben wird. Nach hinten. Und noch wissen wir nicht, dass ich auf der Bahnfahrt von Köln nach Münster den Verstand verlieren werde.

„Ich versuche ein letztes Mal, so etwas wie einen Kaffee zu bekommen!“, sage ich meiner Mitbewohnerin. Ich bin nervös, habe Schweißausbrüche und vergesse oft, wo ich bin, da ich auf Koffeinentzug bin. In Edinburgh servieren sie keinen Kaffee, sie servieren lediglich hellbraunes Wasser, vielleicht nicht enteisent?, das sie „coffee“ nennen. Ich sah hier Menschen, die diese Plörre allen Ernstes noch mit Milch verdünnten!

Und auch dieser „Kaffee“ ist lediglich Wasser, das ich deshalb auch nicht mehr austrinke. Richten wir unseren Fokus daher auf meine Mitbewohnerin, die bis zum Abflug an der Zwei-Liter-Wasserflasche „Saskia“ vom hiesigen „Lidl“ herumnuckelt, da sie – ganz Lipperin – nichts wegwirft und diese zwei Liter unbedingt noch vor der Sicherheitskontrolle vernichten will. Noch weiß sie nicht, dass wir Passagiere eines Fluges sein werden, auf dem man der Turbulenzen wegen nicht die Toilette aufsuchen darf.

„Wenn unser Koffer gleich zwei Kilo schwerer ist als erlaubt, ist das ein Problem. Aber dass du nach dieser Flasche zwei Kilo mehr wiegst, kostet keinen Aufpreis, oder?“, frage ich spitzfindig.

„Ich gehe ja vorher sicher noch mal zur Toilette!“

Das wird sie allerdings mangels Drucks nicht tun. Sie nimmt alles mit in den Flieger. Ein Fehler!

Es ist erst mein sechster Flug. Der Kapitän teilt uns mit, dass der Grund der Verspätung das schlechte Wetter sei, das schon auf dem Hinflug ein Problem gewesen sei. Aus zweierlei Gründen bin ich nun nervöser als eh schon. Das schlechte Wetter beunruhigt mich zum einen und zum anderen:

„Moooment, dieses Flugzeug ist eben erst hier hin geflogen?!“, frage ich meine Mitbewohnerin.

„Ja, sicher! Von Köln.“

„Und es fliegt jetzt wieder zurück?!“

„Ja, so ist es Brauch.“

„Wie können die denn sicher sein, dass auf dem Hinflug nicht irgend etwas kaputtgegangen ist? Sich eine Schraube oder sowas gelöst hat?! Ja, wie oft fliegt denn so ein Flugzeug am Tag?! Ich dachte, ich sitze hier in einem frisch gewarteten Teil!“

„Seppo, das hat alles seine Richtigkeit! Aber ich muss aufs Klo. Das viele Wasser! Wenn wir gleich Flughöhe erreicht haben, gehe ich sofort!“

Anders als bisher nehme ich den Start einigermaßen gelassen hin und lese in „Cicero“, einem sehr konservativem Magazin, das mich in meiner liberalen Einstellung bestätigt. Dem Liberalismus fehle es an Visionen, heißt es da, und ich denke, nein, ihr Trottel, der Liberalismus ist die Vision! Wer auf gut geschriebene Texte steht, ist bei Cicero richtig aufgehoben, es ist vielleicht die am Markt erfolgreiche Version des 1991 eingestellten „TransAtlantik“ unter Enzensberger. Ich bin stolzer Besitzer der Erstausgabe!

Wie dem auch sei, ich bin angemessen abgelenkt von dem technischen Irrsinn des Fliegens, das noch lange nicht ausgereift ist, bis wir fallen.

„Großer Gott, was war das?!“

„Turbulenzen. Luftloch“, erklärt seelenruhig meine Mitbewohnerin. Sie ist immer sehr ruhig im Flugzeug, weil sie mich beruhigen will. Ich aber durchschaue das und frage mich, wie echt, wie gerechtfertigt ihre Ruhe ist und ob sie nicht innerlich gerade auch einer Panik anheimfällt.

Die Seiten der Cicero werden nass. Angstbedingt sondere ich Schweiß aus. Im Nachhinein alles lustig, doch in diesem Moment habe ich tatsächlich nackte Angst. Und die finde ich absolut rational. Denn was ist unter mir? Ein bisschen Stahl, die Koffer und dann lange nichts. Und nun kommt mir auch der Gedanke, dass ich mit der Bahn regelmäßig liegenbleibe wegen Triebwerkschadens. Und warum sollte nun nicht mal das Triebwerk eines Flugzeuges ausfallen, wenn ich es bei der Bahn doch jede zweite Fahrt erlebe?!

Gerade will ich das meiner Mitbewohnerin mitteilen, als auch sie panisch zu mir blickt. Aha, denke ich, jetzt gibt es wirklich Grund zur Sorge. Das Flugzeug ruckelt, ich höre ein lautes Knatschen.

„Es zerbricht. Ich haaaaaab’s doch gesagt!“

„Nein, das ist normal. Aber ich kann nicht aufs Klo!“

„Entschuldigung, wir zerschellen gleich irgendwo und du sorgst dich um deine Blase?!“

„Wir zerschellen nicht! Meine Blase platzt!“

„Blasen platzen nicht. Nur bei Aufprällen … So gesehen könntest du doch Recht haben.“

Ich greife zum Handy und überlege, wie das nun mit dem letzten Anruf läuft. Man liest ja immer wieder, dass die gerade Abstürzenden noch jemanden anrufen. Soll ich meine Mutter anrufen? Was sagt man dann? ‚Wir stürzen gerade ab?‘ Meine Mutter würde hysterisch werden, kein Wort mehr rauskriegen – ein sinnvolles Telefonat wäre wohl kaum möglich. Aber in Zeiten der Lebensgefahr rufen auch die gestandensten Männer nach ihrer Mutter. Auf der anderen Seite ist es nicht einfach, meine Eltern überhaupt ans Telefon zu kriegen. Sie wissen in der Regel nicht, wo es gerade liegt und diskutieren dann darüber, wer es sucht, wer drangeht. Mein Vater will meist nie. Und letztlich geht keiner ran. Stunden später kommt dann meist ein Rückruf meiner Mutter:

„Sebastian, hast du angerufen?“

Diese Zeit habe ich jetzt nicht, da ich gleich abstürze. Also Sabrina. Sabrina, in den USA lebend, wäre wohl die, die ich anriefe.

„Wieviel Uhr ist es jetzt in Sabrinatown?“, frage ich meine Mitbewohnerin.

„Wo?!“

„In Charlotte!“

„Ich weiß nicht, sechs Stunden zurück halt.“

„Dann schläft sie noch. Wecke ich sie, um ihr zu sagen, dass ich gerade vom Himmel falle?! Sie würde mir nicht glauben. Es für einen billigen Scherz halten. Und selbst wenn, was sollte sie groß sagen? ‚Wird schon, Seppo‘. Wird ja eben nicht! Und dann stell dir vor, der Absturz zöge sich hin. Dann müsste sie 20 Minuten mit mir telefonieren und mein Absturzgejammer ertragen. Worüber spricht man so lange? Übers Wetter? ‚Ja, hier scheint die Sonne, Seppo.‘ – ‚Hier stürmt es, Sabrina. Darum ja der Absturz!‘ – ‚Was?! Ich verstehe dich so schlecht!‘ – ‚Weil die anderen Passagiere so schreien!'“

„Ich muss aufs Kloooooooo!“

Mir bereitet die Schieflage des Flugobjektes Sorgen. Wer eigentlich garantiert, dass so ein Flugzeug mal nicht plötzlich ins Schlawingern gerät und keinen Halt mehr findet?!

Ich blicke auf die Uhr, die Zeit vergeht nicht, obwohl sie ja bei dieser Geschwindigkeit schneller vergehen müsste.

„Einstein log!“, rufe ich. Eine Stewardess schnallt sich ab und kommt zu mir:

„Brauchen Sie Hilfe?“, fragt sie.

Meine Mitbewohnerin stellt sich schlafend. Sie schämt sich für mich. Das also ist der Moment, in dem ein fremder Mensch mich fragt, ob ich Hilfe brauche. So weit also ist es schon gekommen.

Freuen wir uns auf den zweiten Teil dieser heiteren Schilderung!