Seit einigen Tagen bin ich wieder ans Internet angeschlossen und somit wieder aktiver Teilehmer an der Bürgergesellschaft. Das wochenlange Warten auf den Anschluss sowie mein Aufenthalt im Ausland haben mir noch einmal vor Augen gehalten, wie rückständig Deutschland leider in einigen technischen Bereichen ist. Doch das alles ficht mich jetzt nicht mehr an, da ich nun bald schon über außerordentlich viel Geld verfügen werde.

Im Zuge meines gestrigen Surfens im Netz stieß ich auf mein allererstes E-Mail-Postfach, das ich im Jahr 2000 eingerichtet hatte. flotho@muenster.de ist die nach wie vor gültige Adresse, die ich vor vielen Jahren spambedingt aufgeben musste. Bis heute haben sich dort rund 6.000 E-Mails, alle Spam, angesammelt. Nun warf ich wieder einen Blick rein, nachdem ich über an dieser Stelle uninteressante Wege zufällig auf das Passwort gestoßen war. Und ich kann nur sagen, gottseidank habe ich ausgerechnet jetzt wieder reingesehen, denn Larry Vermeullen hat eine außerordentlich gute Nachricht für mich!

Guten Tag Flotho Sebastian,

mein Name ist Herr Larry Vermeullen, ich bin derbevollmächtigte Rechtsanwalt des verstorbenen Ingenieures,Hans-Peter Sebastian.

Hans-Peter Sebastian … hm … nein, da klingelt gar nichts bei mir. Ich nehme an, dass vielleicht Hans-Peter Flotho gemeint sein soll. Kenne ich auch nicht. Aber gut, entfernter Verwandter, wer weiß?

Bevor Herr Hans-Peter Sebastian verstarb, hater in einem Schließfach einer sich in Spanien befindenden Bank eine Summe inHöhe von: (Zehn Millionen,Zweihundertfünfundfünfzigtausend Euro) hinterlassen. Aus Sicherheitsgründenwurde der Inhalt des hinterlegten Schließfaches der Bank nicht bekanntgegeben.

In einem Schließfach befinden sich also mehr als zehn Millionen Euro. Aber über den Inhalt des Schließfaches wurde nichts bekanntgegeben. Das klingt nach einem Widerspruch, würde aber zu einem Flotho passen. Für mich also kein Grund, die Seriosität des Schreibens anzuzweifeln, zumal ich gerade überlege, ob Sebastian nicht tatsächlich mein Nachname ist.

Als Anwalt des verstorbenen wurde ich nun vonder Bank damit beauftragt, einen rechtlichen Erben und Begünstigten seinenAnspruch auf dieses Schließfach zu präsentieren, bevor dieses an die Bankübergeht. Bislang blieben meine Bemühungen jemanden zu kontaktieren, bzw. ausfindig zumachen, der mit dem Verstorbenen in einem Familiären oder VerwandtschaftlichenVerhältniss gestanden haben könnte jedoch erfolglos.

Dazu passen die seltsamen Anrufe mit der Landesvorwahl „0034“, die meine Eltern jüngst erhielten, sie aber für Abzocke hielten und daher nicht drangingen, zumal meine Eltern ohnehin erst nach postalischer Aufforderung den Hörer ihres Sprechapparates abnehmen. Dieses Telefonieverhalten könnte nun mein Glück sein!

Da Sie nun den selben Nachnamen unseres verstorbenen Mandanten tragen, möchteich Sie hiermit bitten, sich gegenüber der Bank in Ihrem Namen als die erblichberechtigte Nachfolgerin oder Verwandte des verstorbenen Herrn HansPeter Sebastian zu repräsentieren, und das benannte Schließfach bei derBank an uns überschreiben.

Naja, laut Larry hat Hans-Peter ja eher meinen Vornamen als Nachnamen, aber vielleicht spielt das erbrechtlich ja überhaupt gar keine Rolle. Immerhin ist Larry Vermeullen Anwalt, er muss es also wissen.

Als bevollmächtigter Anwalt desVerstorbenen, würde ich dann die Transaktion im Namen des Verstorbenenerfolgreich durchführen können.

Soll wohl heißen, die zehn Millionen gehen an mich. Allerdings werden sie zunächst der Kanzlei Vermeuller überschrieben, was sicher nur eine Formsache ist, bevor dann doch ich das Erbe von Hans-Peter, selig, antrete.

Falls das Geschäftsleben nicht Ihrer Moral entspricht, dann bitte ich Siemich zu Entschuldigen.

Scheiß auf die Moral! Es geht um zehn Millionen! Die lasse ich mir doch wegen störender Moralvorstellungen nicht entgehen!

Falls Sie jedoch wünschen mit mir dieses Ziel zu erringen,dann bitte ich Sie mich für weitere Details zu kontaktieren.

Ich bin dabei, ich erringe mit! Habe ich mir gedacht und Larry Vermeullen angerufen. Das Gespräch wurde in einer Mischung aus Englisch, Spanisch und Deutsch geführt – alle Sprachen sind von der Justiz anerkannt, sodass alles Hand und Fuß hat. Ich gebe es hier in Deutsch wieder.

Der Anruf. Ich höre ein Amt. Wann immer ich jemanden anrufe, sage ich laut, sobald es so weit ist: „Ich höre ein Amt.“ In der Regel wird das von eventuell Zuhörenden für lustig befunden. Und ich mag es, wenn Leute über mich lachen.

„Guten Tag! Mein Name ist Flotho Sebastian. Spreche ich mit Larry Vermeullen?“

„Ja, Larry am Apparat. Sebastian? Nie gehört.“

„Ich beziehe mich auf Ihre E-Mail vom fünften September dieses Jahres. Es geht um meinen Verstorbenen … äh … Verwandten Hans-Peter Sebastian, dem Ingenieur. Ich kannte ihn gut. Ein Jammer das. Also sein Tod.“

„Ah! Flotho! Sie sind es! Aber natürlich! Herzliches Beileid, mein Guter! Tja, die Wege des Herrn-„

„Richtig. Nun gut, so schade es ist, das Schließfach muss geleert werden, es wird ja sonst nur unnötig blockiert. Wie ist vorzugehen? Also ich will nicht gierig erscheinen. Aber die Politik des billigen Geldes duldet keinen Aufschub.“

„Also, Herr Sebastian. Zunächst brauche ich Ihre Kontodaten sowie eine Vollmacht.“

„Vollmacht für was?“

„Nun, reine Formalität. Vollmacht über Ihr Konto. Sie wissen ja, europäischer Geldtransfer … alles nicht so einfach … ohne Vollmacht. Ist eine Formsache. Angesichts von zehn Millionen Euro sicherlich nicht das große Problem!“

Weitere Einzelheiten will ich dem Leser ersparen und dass die Nummer läuft, habe ich schnell festgestellt, als ich sah, dass ich ein leichtes Minus auf meinem Konto verzeichne. In drei Schritten wurden je 20.000 Euro abgebucht. Auf ein Konto in Nassau. Etwas nervös rief ich die Kanzlei Vermeullen abermals an.

„Herr Sebastian, das ist nur ein kleiner Formfehler. Statt zehn Millionen hat die Buchhaltung versehentlich nur 60.000 Euro abgebucht! Das korrigieren wir sofort!“

„Abgebucht?! Mooment, ging es nicht eher um ein Draufbuchen? … Hallo?! … Hallo?!“

Gegen Nachmittag waren weitere 180.000 Euro abgebucht. Also rufe ich bei der Sparkasse Münster an.

„Hallo, mein Name ist Flotho Sebastian, nein!, Sebastian Flotho. Ich bin Kunde bei Ihnen und meine Kontonummer lautet …“

Die nenne ich der freundlichen Dame, die plötzlich nicht mehr freundlich ist: „Herr Flotho, wir sollten einen Termin für ein persönliches Gespräch finden. Vielleicht noch heute?“

„Geht es um die 180.000 Euro?“

„Sie haben Ihren Dispo um zwei Milliarden Euro überzogen. Sie schulden der Sparkasse Münster also fast zwei Milliarden Euro. Plus Zins, das macht … Moment … 2,3 Milliarden Euro. Außerdem sperren wir Ihr Konto. Bei Ihnen besteht ein Ungleichgewicht zwischen Einnahmen und Ausgaben.“

„Folgende Situation: Könnten wir diese Abbuchen rückgängig machen?“

„Theoretisch schon, aber ich sehe gerade, dass Sie einen Vormund haben. Einen … Augenblick … einen Herrn Larry Vermeullen.“

„Ja, das ist korrekt, aber doch nur reine Formsache, dachte ich.“

„Das ist Formsache, ja, aber damit eben auch rechtskräftig.“

Nun glaubte ich, damit fein raus zu sein, da ich ja nicht mehr mein eigener Herr war. Doch Larry teilte mir abermals per E-Mail mit, dass sich das mit der Vormundschaft, die ich offenbar unterschrieben hatte, nun wieder erledigt habe. Er wünschte mir noch viel Glück mit den negativen zwei Milliarden Euro.

Nachdem inzwischen eine Armee von Gerichtsvollziehern bei mir war und beispielsweise meine Panzer-Sammlung gepfändet hat, schreibe ich diese Zeilen aus Paramaribo in Suriname. Als meine Nichte mich kürzlich per Whatsapp (über das Handy meiner Eltern) fragte, wo ich sei und ich wahrheitsgemäß antwortete, schrieb sie:

„Du wolltest doch Münster nie wieder verlassen!“

Sie hatte Recht. Keine vier Wochen ist es her, als sie wie auch mein Neffe sich freuten, dass meine Mitbewohnerin und ich wieder nach Münster gekommen sind und ich ihnen erzählte: Wir werden diese Stadt auch nie wieder verlassen. Kinder sind erstaunlich, sie merken sich alles.