Wir hätten auch ein Fenster zum Hof anzubieten, allerdings – und das ist ja durchaus von Vorteil – gibt es dort kaum eine Möglichkeit, in andere Wohnungen reinzusehen, wie man es aus gleichnamigem Film kennt, und an sich würde ich ungern Zeuge eines Mordes werden. Ich wäre lieber der Hund, der bei Hitchcock per Flaschenaufzug vom Balkon in den Hof transportiert wird, damit er schließlich … SPOILER …

Wenn meine Mitbewohnerin und ich jedoch aus einem unserer zahlreichen zur Straße gelegenen Panoramafenster blicken, gibt es viel mehr zu sehen. Aus zwei Gründen mache ich von diesem reality-Unterhaltungsprogramm oftmals Gebrauch. Ganz anders als sie, die kürzlich in einem ungefragten Anflug recht erfrischender Offenheit zu mir sagte:

„Dich würde ich nicht als Nachbarn haben wollen!“

„Aber als Mitbewohner bin ich in Ordnung?!“

„In der Not frisst der Teufel Mist.“

„Fliegen. Er frisst Fliegen. Du und Redewendungen …“

Pause. Ich musste nachdenken. Rekapitulieren …

„Moooment, hast du mich gerade mit Mist verglichen?!“

„Verglichen? Nein, man vergleicht, um Unterschiede festzustellen. Das sagst du doch immer! Ich habe dich gleichgesetzt!“

Sie hört mir also doch häufig zu! Denn sie hat Recht, Politiker stürzen ja immer wieder mal über Hitler-Vergleiche. Wenn ich beispielsweise Trump mit Hitler vergliche, dann sagte ich nicht, dass Trump wie Hitler sei! So aber wird es verstanden. Weil es in der allgemeinen Hysterie so verstanden werden will. Tatsächlich ist ein Vergleich kein Gleichsetzen. Und deshalb kann man sehr wohl Äpfel mit Birnen vergleichen, da es beim Vergleich um das Herausstellen von Unterschieden geht. Alles andere ist Gleichsetzen und ja, Äpfel kann man nicht mit Birnen gleichsetzen, wie auch Trump mit Hitler nicht. Plötzlich erscheint Gauland vor meinem geistigen Auge. Aber niemals würde ich den mit Trump gleichsetzen …

„Du bist unverschämt geworden, seit wir in Münster leben! Außerdem ist Mist nicht gleich Mist! Es gibt frischen Mist, es gibt Rottemist oder es gibt auch Mistgranulat. Ich empfinde mich eher als kostbares Mistgranulat!“

„Wenn ich so überlege, hätte ich dich jetzt lieber als Nachbarn …“

Der erste Grund meines oftmaligen aus dem Fenster Schauens ist die Tatsache, dass wir am zweiten Tag nach unserem Einzug die Jalousie, also die äußeren Rollladen, zerstört haben. Und wenn ich „wir“ sage, meine ich mich. Denn etwas zu schwungvoll riss ich am Zugband, sodass die Rolllade unwiderbringlich in ihrem Kasten oberhalb des Fensters verschwand, wo sie sich offenbar verhakte. Eine eigenhändige Reparatur gestaltete sich schwierig, da wir aufgrund der Gegebenheiten hier einen Sturz aus dem Fenster riskiert hätten.

„Wenn Sabrina uns Samstag besucht, bitten wir Logan, die Rolllade aus dem Kasten zu ziehen!“, schlug meine Mitbewohnerin vor, da Sabrinas Ehemann Pi mal Daumen zwei Meter dreißig groß ist, was erklärt, warum die beiden sich einen etwa drei Meter hohen Hund angeschafft haben, der aussieht wie Alf, was mitnichten eine Beleidigung ist (die sie ohnehin immer wieder hören muss), sondern ein Kompliment, sind meine Mitbewohnerin und ich trotz Tommi Pipers Erscheinen im Dschungelcamp doch große Alf-Fans.

Wie dem auch sei, wir hatten leider vergessen, Logan um diesen Akt zu bitten, worüber ich nicht ganz unglücklich bin, denn angenommen, er wäre dabei aus dem Fenster gestürzt, hätte das dem Besuch doch irgendwie einen faden Beigeschmack verliehen.

„Wie hat’s dir bei uns gefallen, Sabrina?“
„An sich ganz gut. Bis mein Ehemann aus eurem Fenster fiel.“

Inzwischen haben wir durch die unerschöpfliche handwerkliche Begabung meiner Mitbewohnerin die Rollladen-Situation reparieren können, doch bis dahin konnte ich, ja, musste ich sogar, immer aus dem Fenster sehen. Aus dem zweiten noch zu nennenden Grunde: Im Schlafzimmer trainiere ich immer meinen Handstand, was etwa 30 Minuten des Tages beansprucht. Nun stehe ich nicht 30 Minuten am Stück auf den Händen, sondern zwischendurch immer mal wieder auf den Füßen, um das nicht versehentlich zu verlernen – ich pausiere also immer ein paar Sekunden, die ich als sehr langweilig empfinde, sodass ich eben aus dem Fenster sehe – direkt in die Wohnung von Krolldoff und Refikadück. Das sind nicht ihre echten Namen, denn die kenne ich gar nicht. Aber ich kenne ihr Leben!

Ich möchte gerne einige Kommentare des Lesers vorwegnehmen: Nein, ich liege nicht auf ein Kissen gestützt auf der Fensterbank, um die Leute zu beobachten. Vielmehr – denn so etwas ist ein Geben und Nehmen – stehe ich halbnackt im Raume und spanne, wobei ich beim Beschreiben dieses Tatbestandes gerade bemerke, wie das wirken muss. Aber ich habe ja nun jedes Recht, halb- oder ganz nackt in meinem Schlafzimmer zu stehen. Zumal: Krolldoff tut das auch!

Verdammt, auch das merke ich erst jetzt. Zwei nackte Männer stehen sich praktisch gegenüber und gucken sich an. Dieser Eindruck, werter Leser, ist falsch! Ich sollte es also genauer beschreiben. Es sei denn, es erregt den einen oder anderen ein wenig …

Nun. Ganz sachlich: Krollfdoff scheint Student zu sein. Ich glaube, seine Freundin ist auch Student. (Genderkacke am Arsch). In Münster ist erst einmal jeder unter 30 Student. Damit liegt man nie falsch. Zumal sie oft am Rechner sitzen und dort irgendetwas tun. Seminararbeiten schreiben, schätze ich. Recherchieren. Was man so tut am Rechner, wenn man Student ist. Er zockt auch gelegentlich. Was viele ja nicht wissen, ich bin unfehlbarer E-Sports-Experte. E-Sports ist mein Leben. Und wenn da jemand mit headset vor seinem Rechner sitzt und gelegentlich vor- oder zurückzuckt, dann onaniert er entweder oder zockt eben.

Refikadück, also seine (vermeintliche) Freundin, steht meist im Nebenraum, welcher die Küche ist. Ihr Kühlschrank ist immer leer. Denn was soll ich sagen, wenn sie ihn öffnen, können wir aus unserer Wohnung heraus exakt seinen Inhalt bestimmen. Als wachsamer Bürger, der sich schon einmal auf ein autoriäteres AfD-Regime einstimmt, ist es natürlich meine Pflicht, den Kühlschrank-Inhalt seiner Nachbarn zu kennen.

Und aufzupassen. Und so entging mir am Wochenende nicht, wie sich Krolldoff erhängt hat.

Der Leser denkt nun, diese Dinge seien alle ausgedacht. Ich weiß das natürlich. Ich meine, was wäre ich für ein seltsamer Kauz, wäre ich wirklich so, wie hier gerne beschrieben! Es verhält sich wie sooft, wenn Menschen versuchen, humorig über sich selbst zu schreiben: Tatsachen – immerhin! – werden aufgebauscht und leicht modifiziert. In Wahrheit ist mein Leben für Außenstehende sicherlich langweilig und belanglos. Soll ich meine Leserschaft aber etwa damit behelligen? Natürlich nicht. Ich lege aber großen Wert darauf, dass die Dinge tatsächlich real, lediglich etwas gepimpt sind. Wer sich bei Instagram darstellt, weiß, was ich meine. Auch hier im seppolog wird mit Filtern gearbeitet. Doch alles beruht auf Tatsachen!

Es war Samstagabend. Wir gingen zu Bett. Ich wollte die Rollladen herunterlassen, als ich Krolldoffs Beine vor seinem Fenster baumeln sah. Woran ich seine Beine erkannte? Nun, wir sehen uns oft nackt – zum einen und zum anderen ging er seit einigen Tagen an Krücken. Bestimmt Sport-Student, denn meine Mitbewohnerin und ich leben zufällig neben den unzähligen Sportstätten der hiesigen Sporthochschule, die alles hat, nur cainen Froböse. Vermutlich hat er sich bei irgendetwas irgendetwas gebrochen oder verstaucht. Sobald mein Fernrohr angekommen ist, kann ich da etwas Licht ins Dunkel bringen, woraus sie schließen können, dass Krolldoff noch lebt. Verdammt, wieder einmal habe ich den Spannungsbogen ruiniert. Jedenfalls standen jene Krücken neben ihm.

„Du wirst es nicht glauben“, informierte ich meine Mitbewohnerin, „Aber der Typ von gegenüber baumelt von der Decke. Kein Witz.“

Sie lag bereits im Bett und ihr müdes Gesicht verriet mir, dass sie keine Kraft hatte, überhaupt zu versuchen, mir zu glauben.

„Komm einfach ins Bett, Seppo.“

„Im Ernst. Ich sehe seine Beine, nicht aber seinen Kopf. Und die Beine baumeln. Muss man jetzt irgendwie die Polizei rufen? Oder mal anklingeln?“

„Um diese Uhrzeit?! Und wie soll er die Tür öffnen, wenn er sich gerade erhängt hat?!“

„Jetzt verstehe ich erst den leeren Kühlschrank. Warum sollte er noch einkaufen, wenn er seinem Leben doch ein Ende setzen wollte! Mein Gott, ich bin ein wahrer Knatterton! Kombiniere: Er hängt!“

Und dann sah ich seinen Kopf. Und schlagartig wurde mir bewusst, dass Krolldoff und ich etwas gemeinsam haben: Wir beide machen Klimmzüge.

Epilog

Gestern Morgen sahen Krolldoff und Refikadück aus dem Fenster. Wie auch meine Mitbewohnerin und ich. Und dann trafen sich vier Blicke.

„Sollen wir winken?“, fragte meine Mitbewohnerin.

„Klar!“

Wir winkten. Und sie winkten zurück. Das ist auch eine Art, Menschen kennenzulernen.

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