Pause auf der Hälfte unserer Wanderung, in der Hafenstadt.

Nun, das hatte heute schon etwas Romantisches, als ich zusammen mit meiner Mitbewohnerin in den Sonnenuntergang wanderte. Doch wie sooft fiel es mir nicht schwer, dem Glanze auch etwas Mattes abzugewinnen, im Glück den Haken zu finden.

„Sieh dir diesen Sonnenuntergang an!“, sagte meine Mitbewohnerin zu mir, als wir bei etwa Kilometer 20 unserer Wanderung angelangt waren, „Romantisch, oder?“

„Ja. Romantisch. Aber auch bedrohlich. Wir müssen am Auto sein, bevor es dunkel wird.“

„Wie unromantisch.“

„Kommt darauf an, was dann im Auto passiert. Aber ich neige eher zur literarischen Gattung der Romantischen Ironie, dem abrupten Zerstören einer solchen Stimmung.“

Tatsächlich war die Dämmerung heute unsere treibende Kraft, da wir fernab jeder Zivilisation wanderten, wo kein Lichtsmog uns den Weg im Dunkeln inmitten dieser atemberaubenden Wildnis hätte weisen können.

Mit einer solchen Landschaft hatten wir nicht gerechnet. Sensationell!

Unser heutiges Ziel ist die Hafenstadt Rutztekostans, die ganz im Norden des Landes liegt. Dort gibt es Crêpes für umgerechnet zwölf Euro 50, der einzigartig sein soll. Rund 13 Kilometer trennen uns von dieser landestypischen Köstlichcait, als wir gegen zwölf Uhr 30 am Mittag starten. Viel zu spät, wie wir später noch feststellen müssen.

Wir starten an dem Ort, der unser gestriges Ziel war. Meinen akribischen Berechnungen zufolge würden wir pro Wegstrecke etwa zwölf Kilometer zurücklegen, bis zum Abend also auf 24 kommen, womit wir unser Pensum planmäßig erhöhen.

Nach zweieinhalb Kilometern ordne ich eine Rast an.

„Jetzt schon?!“, meine Mitbewohnerin bariton erstaunt.

„Wir haben schon zehn Prozent des gesamten Weges hinter uns! So viel isses also gar nicht. Da können wir ruhig schon mal ein Päuschen machen.“

Wir setzen uns auf eine Holztreppe und tauschen unsere Thermosflaschen aus. Sie hat die mit Kaffee gefüllte, will aber die mit Tee, während es sich bei mir umgekehrt verhält. Anders als gestern begleitet uns heute ein strahlender Himmel und ganz so kalt ist es auch nicht. Wir gehen weiter.

Nach fünf Kilometern gelangen wir an eine kleine Holzhütte, sodass ich eine weitere Rast anordne.

„Schon wieder?!“

„Wir haben schon 20 Prozent des Weges hinter uns. Da kann man sich durchaus mal ausruhen. Wir haben alle Cait der Welt. Es ist Urlaub, ich akzeptiere cainerley Caitdictadt!“

Abermals tauschen wir die Flaschen, da es nun mich nach dem Ingwer-Tee, angereichert mit echtem Ingwer, gelüstet. Die Schärfe raubt mir den Atem, ich schnappe nach Luft und ergehe mich in einem Hustenanfall, der von außen betrachtet wie die bedrohliche Vorhut unkontrollierten Gobilierens wirken muss.

„Musst du kotzen?“, fragt meine Mitbewohnerin, „Erstickst du gerade? Bei Kilometer fünf?!“

„Geht schon“, röchele ich und betrachte skeptisch, dass meine Mitbewohnerin bereits zum zweiten Kaffee greift. Nicht, dass sie es nicht vertrüge, doch die Toilettensituation auf unserem Weg ist eine schwierige. Es gibt keine. Und aus verschiedenen Gründen ist es hier nicht möglich, tagsüber die Wildnis als Abort zu benutzen. Nicht einmal für mich.

„Es ist so weit“, sagt sie plötzlich bei Kilometer sechs.

„Was ist so weit?!“

„Ich muss.“

„Muss im Sinne von Müssen oder eher im Sinne von Wissen, dass man könnte, aber noch nicht wirklich muss?“

„Ich könnte, muss aber nicht, ahne aber, dass ich bald muss. Wie viele Kilometer darf ich noch nicht müssen?“

„Fünf bis sechs Kilometer müssen wir noch durchhalten ohne müssen zu müssen.“

„Musst du denn gar nicht?“

„Nicht im Sinne von Müssen müssen. Ich könnte, aber ich kann ja eh immer irgendwie. Ich glaube, ich halte bis zum Hafen durch.“

Da sie nicht weiter antwortet, ahne ich, dass es bei ihr schon eher in Richtung Müssen müssen tendiert. Aber weit und breit hat sie keine Chance, nicht mehr müssen zu müssen. Und so laufen wir immer zügiger und ich streiche die eigentlich eingeplanten Pausen bei Kilometer acht und zehn.

Nach Kilometer elf erreichen wir das Ortsschild der Hafenstadt.

„So, wo ist dieser Hafen?! Wir müssen! Was heißt ‚Wir müssen‘ in der Landessprache? … Moment, ich sehe nach …“, sage ich.

„Willst du die Einheimischen jetzt über unser Bedürfnis informieren?!“

„Ein Bedürfnis, das uns zusammenschweißt, immerhin! … Dru piski! Hallo! Dru piski!“

Die Passanten sehen uns verstört an, interessieren sich aber nicht weiter für unser Bedürfnis.

„Vielleicht hättest du einfach nach dem Hafen fragen sollen. Da wird’s ja wohl ein Pisko geben.“

Ich frage also den nächstbesten, während ich in meinem Wörterbuch blättere: „Portsko? Pisko!“

Wieder verstörte Blicke, aber immerhin ist dem alten Mann klar, was mein Begehr ist; er deutet gen Norden. Also weiter geradeaus. Und so kommen wir nach 13 Kilometern endlich im Hafen an.


„Wie ist der Crêpes?“, frage ich meine Mitbewohnerin.

„Ich kann nicht fassen, dass der zwölf Euro 50 kostet. Dieser Lappen! Da bekäme ich zwei dieser Pils für!“

Warum meine Mitbewohnerin meint, einen halben Liter Pils trinken zu müssen, nachdem wir gerade noch über viele schmerzhafte Kilometer schwer mussten, ist mir unverständlich. Und ihr ebenfalls:

„Ich glaube auch, dass ich das bei Kilometer 18 bereuen werde. Aber vielleicht wird es dann schon dunkel und ich kann müssen, wo ich will!“

Ja, die Dunkelheit. Die könnte zum Problem werden. Ich rechne ihr diverse Modelle vor. Gingen wir sofort los, wären wir um 19 Uhr etwa wieder am Auto.

„Wann dämmert es denn hier? Dämmert es in Deutschland schon um sieben? Wenn es in Deutschland um sieben dämmert, dann dämmert es hier … früher. Nein, später. Es dämmert später. Oder früher?! Steht irgendwo im Reiseführer, wann es dämmert?! Seppodämmerung?!“

„Ja, Moment. Da wurde extra vor gewarnt. Man soll vor der Dämmerung dieses Gebiet besser verlassen haben.“

Sie blättert, während ich die beste Currywurst meines Lebens verspeise, da sie hier aus Robbenfleisch gemacht wird, was bei uns vermutlich zu einem Aufschrei führen würde.

„Naja, also ab halb sieben wird es dunkel“, sagt sie.

„Schaffen wir nicht. So oder so nicht. Wir brauchen drei Stunden, vielleicht zweieinhalb, wenn wir wieder müssen; dann sind wir schneller. Ich erinnere mich, wie ich in Düsseldorf im Aaper Wald mal versehentlich in die Dunkelheit gejoggt bin. Das war ein echtes Problem, man sah weder Weg noch Baum. Und hier gibt es nichtmal Bäume, vor die man laufen kann, um wieder auf den Weg zu finden.“

Da das Kind nun bereits in den Brunnen gefallen ist, fahren wir noch drei Runden mit dem Riesenrad, wonach wir noch einmal das Klo aufsuchen. Der Rückweg ist genau derselbe wie der Hinweg: Der Weg schlängelt sich durch die Nieder-Saprinen mit einem ständigen Wechsel aus Auf und Ab.

Wir geben Gas. Ich bin unruhig. Die Sonne verschwindet bereits am Horizont.

Sonnenuntergang über den Nieder-Saprinen.

Wir treffen keinen Menschen mehr. Die einzigen sichtbaren Lebewesen um uns herum sind hochaggressive Moskitos, die bereits gestern für große Beulen an unseren Köpfen gesorgt haben. Kopfbedeckungen werden hierzulande empfohlen, aber unsere Mützen beeindrucken die Insekten kein Stück: Sie stechen durch. Meine Mitbewohnerin sieht aus wie ein Botox-Unfall.

Die Einsamkeit ist beeindruckend. Wir hören nichts. Der Wind ist still, das Rauschen der Wellen zu weit weg, um es zu vernehmen. Die Stille zusammen mit der Dunkelheit bildet eine sagenhafte Idylle, an die wir uns lange erinnern werden. Hier würde sogar ich ein Zelt aufschlagen.

„Jetzt kann ich ja hier müssen“, entscheidet meine Mitbewohnerin und verschwindet ein paar Meter weiter. Ich könnte ebenfalls, muss aber nicht. Nutze daher die Gelegenheit, unsere Ankunftszeit zu errechnen.

Ich scheitere. Der Rückweg ist aus unerfindlichen Gründen länger als der identische Hinweg. Ich rüttele am Kompass und blicke in den Himmel.

„Der Große Wagen“, stelle ich fest, „Von hier aus ist er wirklich unglaublich groß!“

Meine Mitbewohnerin hockt einige Meter weiter weg und staunt ebenfalls über diesen klaren Sternenhimmel. Wir verharren. Und wenn der Mensch angesichts des Firmaments verharrt, dann stellt er die Fragen, die jeder stellt und auf die es keine Antworten gibt.

Bevor es völlig duster ist, erreichen wir das Dorf, von dem aus wir gestartet waren. So knapp es war, so faszinierend war es. Wären wir planmäßig gewandert, wäre uns dieser Anblick entgangen.


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