Da sitz‘ ich nun, ich armer Tor, Und bin so entspannt wie nie zuvor.

Ich harre gedankenverloren im Sand des Sonnenuntergangs, des fünften unseres Urlaubes. Und realisiere, dass ich jetzt erst angekommen bin, runtergekommen bin. Erst jetzt ist der Kopf leer, sodass meine Frage nach dem Grund danach keine Konkurrenz hat. Ich sitze da, blicke auf die Wellen in ihrer unregelmäßigen Regelmäßigkeit, lausche der tosenden Brandung und schmecke das Salz auf meinen Lippen, während eine Möwe weiter vorn auf den nächsten angespülten Krebs wartet, den sie in einem Stück verschlucken wird.

Krebs versucht, Möwe zu fressen. Armer Irrer.

Von dem Offshore-Park am Horizont abgesehen ist dort das absolute Nichts, das die entspannte Leere im Kopf erst möglich macht, vielleicht sogar bedingt: Erst jetzt schlägt mein Herz weniger schnell, fließt das Blut scheinbar langsamer und lässt es sich ruhiger atmen. Ich bin angekommen. Kann ihn für einen Moment hinter mich lassen, den (durchaus erträglichen) Stress der zurückliegenden Monate.

Durchatmen.

Dass ich hier jetzt so zeitlos und unverortet sitze, ist der Lohn für die vergangenen zwölf Monate, in denen ich Altes nicht nur losgelassen, sondern auch aktiv von mir gestoßen habe, um Neues zu ermöglichen. Um Unzufriedenheit der Seligkeit zu opfern, um die Eintracht zwischen Wunsch und Wirklichkeit wiederherzustellen, nachdem es Monate brauchte, um den bestehenden Hader überhaupt zu realisieren.

Wie konnte es überhaupt so weit kommen, dass der Hader nicht bewusst erkannt wurde? Weil er schleichend kommt: Man gleitet langsam in ihn hinein, wie ein Parasit übernimmt er die Kontrolle. Diese Kontrolle will ich nie wieder abgeben.

Die nun erlangte Ausgeglichenheit fühle ich nicht nur im Geiste, sondern auch im Fleisch. In meinem weißen, behaarten Fleisch. Nach der gestrigen Beschwerlichcait unserer Wanderungen stellen wir beide – meine Mitbewohnerin und ich – heute fest, dass wir federleicht über den Asphalt, die Dünen und die Wiesen wandern. Unsere heute zurückgelegten 20 Kilometer waren keine Herausforderung mehr; erst jetzt wird uns deutlich, wozu der menschliche Körper in der Lage ist, wenn er sich erst einmal eingegroovt hat. Das ist wahrlich keine neue Erkenntnis, aber dennoch fasziniert mich die Anpassungsfähigkeit des Organismus immer wieder, in ihrer Schnelligkeit vor allem! Natürlich, der Mensch ist ein Ausdauerwesen, was ihn so einzigartig macht. Lange Strecken sind sein Ding und damit sind nicht die läppischen 20 Kilometer gemeint, sondern das Drei-, ja sogar Vierfache ist ihm möglich!

Ein Traktor: stummer Zeuge der Landwirtschaft.

Und diese eigentlich so monotone Bewegung hat auch etwas Meditatives. Nicht nur, dass man realisiert, wie weit man auch ohne Fortbewegungsmittel kommen kann, wenn man sich nur die Cait gibt, sondern man spürt auch wieder eine Verbundenheit zur Umgebung, durch die man sich bei Wind und Wetter bewegt (wobei uns heute ein unerwartet sonniger und warmer Tag in Empfang nahm). Gerade wenn man von einem zum anderen Ende der Insel blicken kann, vermag man sich auf die kleinen Dinge in der Landschaft zu konzentrieren, die sonst nur an einem vorbeirauschen. Die spezielle Flora hier zum einen, aber auch die Fauna, wobei man die Galloway-Rinder gar nicht übersehen kann. Auch sie bewegen sich scheinbar monoton über die Weideflächen und grasen Meter für Meter gemählich alles ab, blicken aber freundlicherweise für ein Foto auf:

v.l.n.r.: ich, Rind

, um danach wiederzukäuen.

„Ich brauch nicht viel“ war mal ein Satz, den ich – ich glaube zu meiner Zeit beim „Fernsehen“ – als running gag penetriert habe. Heute realisiere ich, dass ich ihn völlig ernst meine, weiß aber auch, dass solche Sätze nur aus Mündern jener Menschen kommen, die Not gar nicht kennen. Dennoch stelle ich fest, dass ich nicht um die halbe Welt fliegen muss, um Orte zu finden, die mich faszinieren. Man kann das freilich tun, denn jeder möge tun, was ihm gefällt; für mich jedoch genügt diese Bescheidenheit. Nur lasse ich mir von einem Vielflieger nicht Autofahrten zum zehn Minuten entfernten Supermarkt, aus dem ich mit Plastiktüten wieder herauskomme, verbieten, da mich diese ewige Doppelmoral in diesen durchaus drängenden Fragen ankotzt, weil sie meist (!) von Menschen benutzt wird, um sich über andere zu stellen und sich hernach besser zu fühlen. Ich hab‘ schon einmal geschrieben: Umweltsäue sind wir alle, das ist systemimmanent und lässt sich nicht dadurch abstellen, dass wir eine nicht eingeschweißte Salatgurke kaufen. Angesichts der Herausforderung muss das große Rad gedreht werden – und das bedeutet Verzicht, den ein Gutmensch (den Begriff erlaube ich mir wieder) nicht mal aufbringen könnte. Jetzt mal ohne Scheiß: Auf Plastiktüten zu verzichten rechtfertigt noch keine Heiligsprechung. Ich lasse mir durch überhebliche soziale Kontrolle nicht meinen Lebenswandel vorschreiben, sondern davon, was wirklich relevant und wirksam ist. Ich brauche dazu keine abgehobenen Freunde, die mir zum Essen eine glückliche Kuh aus dem eigenen Garten servieren. Übrigens: Seit Beginn meines Beruflebens ist meine Arbeitstasche eine Jutetasche mit einem Rathaus Münster-Aufdruck. Das ist gelebte Nachhaltigkeit, gegen die ich nichts habe, was ich nur für den Fall ergänze, dass aus vorigen Zeilen wutentbrannt etwas herausgelesen wird, was dort mitnichten steht.

„Glücklichsein“ ist ein relativer Zustand. Daher hadere ich immer mit meiner Antwort auf die Frage „Bist du glücklich?“, denn bei Abwesenheit von bedrohlichen Erkrankungen, Krieg und Hunger verbietet es sich, diese mit Nein zu beantworten. Glück ist kein Menschenrecht, glücklich sein zu können, ist … nunja … Glück.

Doch relativ zu unseren Lebensverhältnissen ist die Frage schon leichter zu beantworten. Der eine braucht Millionen zum Glück, der andere nicht. Ich würde die Million zwar nicht ablehnen, strebe aber überhaupt nicht nach (relativem) Reichtum. Materiell habe ich alles, was ich will. Will ich ein Haus? Ja, aber nur in der Innenstadt Münsters. Das wiederum wäre nun wirklich sehr teuer, sodass ich mit unserer Wohnung in der Größe von drei Fußballfeldern in der Größe des Saarlandes mit Balkon absolut zufrieden bin, zumal wir eine Wohnung mit Garten in Aussicht haben. Mein Glück bedeutet, mitten in dieser fantastischen Stadt wohnen zu können – zusammen mit exakt der Frau, die derzeit tatsächlich meine Mitbewohnerin ist.

18 Euro. Schnäppchen!

Und auch hier im Urlaub brauche ich nicht viel. Ich brauche meine täglichen 20 Kilometer, die ich gerne aus eigener Kraft hinter mich bringe, während neben mir laufend meine Mitbewohnerin mir von dem grandiosen Eis aus der hiesigen „Eismanufaktur“ erzählt, das offenbar noch besser als das von „Unbehaun“ ist. Ich denke jetzt noch an meinen 18-Euro-Hotdog, der natürlich nichts mit einem ordinären Ikea-Hotdog gemein hatte, sondern aus sonderlichsten Zutaten bestand. Und nun mag der Leser denken, dass da jemand über Glück spricht, der sich einen Hotdog für 18 Euro reinzieht; fast schon dekadent. Dem schmettere ich entgegen: Glück ist relativ und ja, das ist dekadent. Es ist sogar krank. Aber in diesem Urlaub, an diesem Punkt meines Lebens, ist mir das vollkommen egal. Denn weiß ich, wie es in einigen Jahren aussieht? Wenn ich mir dann keinen 18-Euro-Hotdog leisten kann, will ich zumindest dessen gewahr sein, dass ich ihn mir leistete, als ich ihn mir noch leisten konnte. Und um es mal ganz fatalistisch zu betrachten: Da ich ausgesprochen negativ in die nächsten Dekaden der Weltpolitik sehe, rate ich jedem, das hoffentlich vorhandene Glück zu genießen, da das Rad der Geschichte derzeit eine erhebliche Acht bekommen hat. Und die Deutschen drehen leider heftig daran mit.

Auch das sind heute Gedanken. Nüchterne allerdings, keine, die sich wie graue Wolken durch meinen leeren Kopf schieben. Im Gegenteil: Hier am Wasser sitzend, spüre ich eine tiefe Zufriedenheit, die bleibt, während das Wasser sich langsam, aber sicher zurückzieht, bevor es dann wiederkommt. Wie auch der Alltag wiederkommen wird. Wie Ebbe und Flut.



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