Abgesehen von meiner winkenden Mitbewohnerin im Fenster sehen wir hier die Großbaustelle vor unserer Haustür. Leider ist es bereits dunkel geworden, sodass Details Ihrer Vorstellungskraft überlassen bleiben.

Es jährt sich nun, dass Helikopter der Stadt Münster Flugblätter über unserem Stadtteil Neutor abgeworfen haben, die uns Anwohner der Mimigernaford-Straße darüber informierten, dass unmittelbar vor unserer Haustür neue Kanalrohre verlegt würden. Die Baumaßnahme werde, so las ich, etwa 18 Monate dauern, sofern keine Pandemie dazwischenkomme, womit man aber nun wirklich nicht rechne.

Anfang dieses Jahres machte die Stadt ihre Drohung wahr. An einem bedeutungslosen und weltgeschichtlich völlig belanglosen Morgen wurde unsere Straße komplett abgesperrt. Gegen Abend, als ich nach Hause kam („Abend“ vor allem; meine Kollegen hassen mich mitunter dafür, dass ich bereits 15 Uhr 30 Feierabend mache, wozu allerdings auch der Arbeitsbeginn um sechs Uhr 30 gehört …), als ich also nachmittags nach Hause kam, war die Straße weg. Und obwohl da nun caine Straße mehr ist, kündigen Schilder an deren nun nicht mehr vorhandenen Einmündung eine Vollsperrung an. Diese betrifft mich als Autofahrer nicht, viel unangenehmer wiegt jedoch der Wegfall der Parkplätze.

„Ich muss jetzt allen ernstes in der Kurt-Knust-Straße parken“, klage ich meiner Mitbewohnerin das große Unglück, „Ich muss also morgens und abends nun drei Minuten mehr einplanen! Das macht in summa …“

„In Düsseldorf bist du jeden Abend eine Viertelstunde von Auto zu Haustür gelaufen …“, gibt sie zu Bedenken.

„… das sind zusammenaddiert … sind das …“

„Was sind da schon die paar Minuten! Du klagst auf hohem Niveau!“

„Drei Minuten morgens … drei nachmittags, wenn ich wiederkomme … zwei mal drei also … das sind …“

„Was soll denn Frau Gernemann sagen?! Sie kann nicht mehr ihre Garage ansteuern!“

Frau Gernemann wohnt unter uns und hat in der Tat das Glück, eine Einfahrt samt angeschlossener Garage zu besitzen, nun zusätzlich das Pech, dass sie 18 Monate nichts davon haben wird. Was ist schon eine Einfahrt ohne angeschlossene Straße wert?!

„Also das sind grob überschlagen 15 Minuten Zeitverlust pro Tag!“

„Es ist nicht einmal die Hälfte davon! Außerdem könntest du ja mit dem Rad zur Arbeit fahren. Da wärst du ohnehin schneller als mit dem Auto!“

„Mit dem Rad?! Hahahaha! Mit welchem denn? Ich habe nicht mal eines!“

„Doch natürlich! Das schwarze unten, das haben wir dir gekauft!“

Wir mir gekauft! Das klingt so, als müsste man sich meiner Person helfend annehmen! Und überhaupt bin ich der Meinung, dass das Frau Gernemanns Rad ist!“

„Es ist deins.“

„Aber sie fährt doch immer damit!“

„Ja, weil sie es gemietet hat, denn du fährst es ja nicht. Sie zahlt uns 50 Euro pro Monat dafür! Weihnachten haben wir dann 500 Euro für unsere Weihnachtsdeko zusammen. Da könntest sogar du wieder unseren Weihnachtsbaum beim Verkäufer hochhandeln!“

Da spricht sie einen wunden Punkt an. Nur weil ich eeeeeeinmal beim Kauf unseres Weihnachtsbaumes in die falsche Richtung gefeilscht hatte … und beim Düsseldorfer Flohmarkt den Preis ihres Fahrrades … den hatte ich auch irgendwie … naja, ich darf seitdem nicht mehr mit Verkäufern sprechen, wenn es ums Feilschen geht …

„Ich fahre erst dann wieder mit dem Rad, wenn Münster wieder zur Fahrradstadt wird. Autos raus aus der Innenstadt, Radstation am Bahnhof ausbauen, kostenlose Fahrradparkhäuser bauen, Busverkehr und ‚Loop‘, Münsters Bus auf Abruf, noch mehr stärken, Taktverdichtung und so weiter. Alles, was eh kommen wird, nur bitte ohne, dass wir 20 Jahre darüber debattieren und Cait verlieren. Außerdem werden in 20 Jahren wieder die Nazis herrschen und die bauen wieder alles für den Panzerverkehr und Fackelmärsche aus. Die neue S-Bahn-Linie werden sie dann zur Deportation von irgendwelchen Randgruppen nutzen. Kaum vorstellbar, dass der Nazi sich auf die Leeze [=Fahrrad] schwingt und auf dem Gepäckträger einen Nicht-Biodeutschen Richtung Arbeitslager chauffiert. Aber ich bin sicher, die AfD durchdenkt das bereits alles in ihren feuchten Troimen …“

Nun haben wir November, das wissen Sie genau so gut wie ich. Wo früher ich parkte, parkt nun der Bagger, den Sie im Beitragsbild sehen und mit dem ich mich nicht anlegen möchte, da er mir dann vermutlich eine schaufeln würde. Aber therewith wir uns nicht falsch verstehen: Nicht nur, weil mein Arbeitgeber in diese Baustelle involviert ist, sondern aus Gründen der Vernunft bin ich absolut kein Gegner dieser Baustelle. Zum einen finde ich es toll, einen Abwasserkanal vor der Haustür zu haben und zum anderen wird aus dieser Straße nach der Baumaßnahme eine Fahrradstraße. Da derzeit viele Straßen in Münster zu solchen umgewandelt werden, freue ich mich allein schon auf die optische Aufwertung, die uns da vors Haus steht. Ich nehme die Baustelle somit persönlich: Die Stadt ist bestrebt, mir einen Turbo-Abwasserkanal mit doppelter Spülkraft bis hoch zu unserer Toilette sowie eine geleckte Straße vor meine Füße zu legen. Dass ich dadurch jetzt eben acht Minuten mehr Zeit pro Tag …

„Sechs. Wirklich. Es sind sechs“, sagt meine Mitbewohnerin.

„Grob sechs, ja, über den Daumen gepeilt.“

„Nein, exakt sechs.“

Reisen wir nun in die aus dieser Perspektive nahende Zukunft, die aus unserer Perspektive bereits wieder Vergangenheit ist. Sommer 2020, die Wirtschaft brummt, die Kartellbehörden tun endlich das, wozu sie da sind, und zerschlagen die Monopolisten unserer Cait, Putin gibt die Krim zurück, entschuldigt sich mit Tränen in den Augen und ruft die Demokratie aus (dieses Mal wirklich eine lupenreine), tritt ab und heiratet einen Mann. Trump fällt aus einem Fenster des Trump-Towers (leider aus dem Kellerfenster) und tut sich dabei nichts, wird dann aber von einer Einsicht erschlagen und stirbt daran. Die AfD spaltet sich, nachdem Gauland sich und der Öffentlichkeit seine Alzheimer-Erkrankung eingesteht und Volkswagen präsentiert das erste Ökostromauto mit einer Reichweite von unendlich, dessen Software auch tatsächlich funktioniert und nennt es schlicht „Golf“ und nicht etwa „ID3“, was ja albern klingen würde, während Assad von einem außer Kontrolle geratenem „autonomen“ Tesla überollt wird – dreimal. Also, Sommer 2020, alles supi, aber die Mimigernaford-Straße in Neutor bebt.

„Großer Gott, sie reißen uns ab!“, rufe ich meiner Mitbewohnerin zu, während unser Haus bedrohlich wackelt.

„Wissen die, das wir hier drinnen sind?“, fragt sie.

„Ich fänd’s auch schade, das Haus stürzte ein, wenn wir nicht drinnen sind!“

„Aber du wirst doch zugeben, dass das immer noch besser wäre, als wenn wir drinnen wären, während es zusammenstürzt!“

„Ach, ich weiß nicht. Bin gerade ohnehin etwas des Lebens müde. Und noch einmal umziehen?!“

„Es wäre ja kein richtiger Umzug. Wir hätten ja dann nichts mehr mitzunehmen. Umziehen hieße ja, man packte Dinge ein und woanders wieder aus.“

„Du meinst also, wenn man woanders wohnen möchte, aber auch nicht umziehen will, müsse man einfach nur das Haus in die Luft sprengen …“

„… während man nicht drinnen ist. Es gibt da Anleitungen. Im dark net. How to spreng houses online fast.“

Abschnittsweise gräbt das Tiefbauamt riesige Löcher da, wo vorher die Straße war. Dazu hämmern sie die Seiten stabilisierende Eisenträger in den Boden, was mit einem unbeschreiblichen Gerät geschieht, das – soweit kann ich es dann doch beschreiben – derart hoch ist, dass derjenige, der oben draufsitzt, uns regelmäßig ins Wohnzimmer starrt. Dieser Vorgang ist derart brachial, dass die umstehenden Häuser wackeln.

Natürlich gehe ich davon aus, dass dies ein reiner Routinevorgang ist und dabei selten bis nie Häuser wirklich aufgrund statischer Vorbelastung in sich zusammenfallen. Doch ein wackelnder Boden ist etwas, das eine Urangst berührt, denn wie wir heute wissen, wackelt der Untergrund erst seit rund einer Million Jahre nicht mehr. Der Urmensch lebte stets auf Stelzen, da der Boden zu jener Zeit noch flüssig war. Ich weiß das, weil ich mal einem einem Erdkunde-Buch entlanggelaufen bin.

An das Wackeln haben wir uns inzwischen gewöhnt. Wir machen sogar etwas daraus. Wenn wir uns während des Wackelns aufeinanderlegen, müssen wir gar nichts mehr tun, der Geschlechtsverkehr erfolgt wie von selbst.

Guten Abend.

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