Vor ziemlich genau zwei Jahren entstieg ich das jüngste Mal einem ICE. Das war in Hamm, wo ich dann in eine Regionalbahn umstieg, die mich nach Münster bringen sollte. Rund vier Stunden Fahrt, mal mehr, nie weniger, lagen bis dahin hinter mir. Stunden, die ich etwa eineinhalb Jahre lang zweimal pro Woche absaß, da ich für einen eher nicht so optimalen Job nach Berlin-Spandau gependelt war. Pro Monat habe ich dafür rund 500 Euro hingeblättert – mit „BahnCard50“. Wer diesen Blog damals schon verfolgt hat, wird die unzähligen Reiseberichte kennen, die ich vor allem deshalb schrieb, um die Fahrzeit totzuschlagen.

Zu so einem Deal gehören immer zwei: Ich wurde nicht gezwungen, das zu tun, aber Sie werden es vielleicht selbst wissen, dass der Arbeitnehmer nach wie vor nicht der ist, der am längeren Hebel sitzt. Es waren also auch die Umstände, die mich in dieses Pendelleben verfrachteten. Drei bis vier Tage Berlin pro Woche genügten, um mir zu zeigen: Das ist meine Stadt mit Sicherheit nicht. Man kann die Art der Berliner gerne „rotzig“ nennen, aber ich nenne sie schlicht „unfreundlich“, wobei ich gerne darauf hinweise, dass selbstredend es auch nette und sympathische Berliner gibt, vermutlich sogar mehr als die das Klischee bestimmende. Und im Übrigen geht mir auch die Ruhrpottschnauze bisweilen auf den Sack, weil sie gerne als Entschuldigung für schlicht unhöfliches Verhalten herhalten muss.

Mir ist klar, ich als Westfale habe auch meine Eigenheiten, die andere wiederum ablehnen. Wir sind halt alle unterschiedlich, der Westfale allerdings ist objektiv betrachtet der normalste, wie Studien ergeben haben, die ich hier nicht weiter verlinken kann, da es sie nicht gibt. Aber ich sage mal so: Wenn Sie hier zum Bäcker gehen, um Teigwaren zu erstehen, werden Sie vom Verkäufer nicht angeraunzt, weil Sie gerade einfach nur da sind. Und wenn Sie den Westfalen für humorlos halten, sind Sie vermutlich Rheinländer, der aus unerfindlichen Gründen glaubt, eine „Frohnatur“ zu sein. Ich halte ihn für geistesgestört, denn platter Witz hat mit Humor einfach mal nichts zu tun. Humor ergibt sich aus Subtilität und Tragik und Kalauer sind nicht Teil von Humor: Es gilt die Grundregel, dass wer sich für witzig hält, es per se nicht ist.

Um das klarzustellen: Das ist hier keine Meinungsäußerung – das ist Fakt. Sie kennen das seppolog, hier wird nicht wild rumgemeint, sondern faktiert.

Um es also nun kurzzumachen: Was hatte ich für einen beschissenen Arbeitsweg! Und ich bedaure sehr ernsthaft jeden, der ähnliche Erfahrungen machen muss. Mein Rat: Setzen Sie alles daran, das zu ändern. Das ist mein Ernst. Seien Sie nicht Sklave der Umstände, die Sie selbst ändern können. Ich brauchte für diese Erkenntnis viel zu lange.

Ende 2018 kehrte ich nach zehn Jahren Düsseldorf nach Münster zurück, ohne auch nur Aussicht auf einen Job zu haben. Priorität bei meiner Jobsuche hatten damals Solidität, Berechenbarkeit und ein kurzer Fahrtweg. Ich zog nicht nach Münster, um im Umland zu arbeiten. Das waren hohe Ansprüche, an denen man auch durchaus scheitern könnte, doch war ich der Meinung, es nach meinem ersten Berufsjahrzehnt, das nicht ganz so rund lief, verdient zu haben, auch mal „an der Reihe zu sein“, an der Reihe zu was auch immer. Mir war aber auch klar, dass es an mir war, die Dinge zu bewegen. Im Nachhinein betrachtet trifft das voll und gänzlich zu – und ist sogar viel einfacher gewesen als gedacht: Übernehmen Sie die Kontrolle über Ihr Schicksal, wo es geht. Seien Sie Herr Ihrer Lage, steuern Sie Ihr Leben selbst.

Ich hatte zu Beginn des Jahres 2019 ein Jobangebot in Hamm. Google Maps informierte mich darüber, dass ich mit 30 Minuten Fahrtweg zu rechnen hätte – außerhalb des Berufsverkehrs. Für mich war sofort klar: Einen Scheiß mache ich. Ich setze mich doch nicht jeden Tag zwei Stunden ins Auto, um zur Arbeit zu kommen. Und Hamm?! Wie oft war ich wie so viele andere auch auf dem Bahnhof Hamm gestrandet, weil Teile des zu „verheiratenden“ Zuges verschollen waren?! Sie werden das kennen. Man will dann nie wieder nach Hamm.

Ich lehnte also ab, sehr ungalant, wie irgendwo hier auf diesen Seiten beschrieben. Die Arbeitsagentur hätte mir daraus einen Strick drehen können, doch eventuelle Sanktionen hätte ich in Kauf genommen. Warum? Weil ich es für eine bessere Perspektive tat. Wenn schon Neuanfang, dann nach meinen Regeln.

Die Rückschau bestätigt mich. Alles richtiggemacht. Heute bräuchte ich dem Rad zur Arbeit 13 Minuten. Da ich aber das Radfahren contrapassiv ablehne, fahre ich mit dem Auto: Hinweg ebenfalls 13 Minuten, Rückweg im Berufsverkehr 20 Minuten. Doch nicht nur die Dauer der Fahrt empfinde ich als Luxus, sondern auch die Aussicht während der Fahrt. Auch wenn in Münster aus unerfindlichen Gründen ich ausschließlich in rote Wellen gerate, kann ich jede Fahrt genießen. Es kommt praktisch gar nicht vor, dass ich beim Fahren nach vorne sehe, da ich mir auch nach zwei Jahren hier gerne die Stadt ansehe. Meine Mitbewohnerin kann als Beifahrerin ein Lied davon singen und wir lassen sie daher an dieser Stelle zu Wort kommen:

Er übersieht Ampeln. Er fragt mich allen Ernstes zwischendurch: „Fuhr ich gerade unter einer Ampel her? War sie grün?“ Biegt er rechts ab, wirft er den Schulterblick über die linke Schulter, weil er sich beispielsweise während des Abbiegens den Gasometer anschauen will, ein Wahrzeichen Münsters. Als wir den Weihnachtsbaum nach Hause fuhren, fragte er mich auf dem Albersloher Weg, warum uns Autos entgegenkamen. Er fuhr auf der Gegenfahrbahn. Weil er mir zeigen wollte, wo noch vor 20 Jahren Panzer verladen wurden.

Ich gebe zu, das klingt beängstigend, ist aber alles relativ kontrolliert. Da muss sie mir einfach mehr vertrauen. Ein guter Autofahrer braucht kein Augenlicht.

Mein Fahrtweg führt mich quer durch die Innenstadt, sodass mir kaum ein Wahrzeichen dieser entgeht. Es beginnt ja schon mit dem Hafen, den ich für einen der schönsten dieses Landes halte, wobei wir natürlich nicht mit Hamburg mithalten können. Danach unterquere ich zwei Eisenbahntunnel, die ich als Kind schon prägnant fand, als meine Familie „in die Stadt“ fuhr, um bei „Horten“ nicht nur einzukaufen, sondern auch zu frühstücken, was ich als die Geborgenheit der 80er-Jahre empfinde. Diese Eisenbahntunnel sollen bald saniert werden, was mich fast etwas traurig macht, da ihre Ziegelsteinoptik etwas Nostalgisches hat.

Es geht weiter zum Ludgerikreisel, wo sich im Berufsverkehr die halbe Münsteraner Bevölkerung aufhält. Ein beliebter Treffpunkt eben, ein Ort zum Verweilen. Weil dort nichts mehr geht. Fünf Zufahrten, fünf Übergänge für die in die Stadt strömende Fußgängermasse. Fünf Einfahrten für die Myriaden an Radfahrern, die einen Scheiß auf Vorfahrtsregeln an Kreisverkehren geben: Sie fahren rein – unabhängig davon, ob gerade ein Auto kommt oder nicht. Und sie überholen rechts. Das muss ich an dieser Stelle einmal hoch verägert sagen: Nichts gegen Radfahrer. Aber wenn Ihr rechts an mir vorbeifahrt, dann ist es nicht mehr mein Problem, wenn ich Euch mit meinen rechten Rädern über den Haufen fahre. Auch für Euch gilt: Man überholt links. Ihr fahrt nicht rechts neben den Autos, sondern mittig davor oder dahinter. Wer sich nicht daran hält: wird überrollt. Und noch so ein Tipp: Wenn es dunkel ist, sieht man Euch nicht.

Nachdem ich also ein, zwei Radler touchiert habe, biege ich rechts ab aus dem Kreisverkehr in die Moltkestraße, wobei ich noch einen dritten Radler aus der Bahn werfe. Die Moltkestraße ist Tempo 30, wie fast alle Straßen in der Innenstadt. Ich weiß das, weil ich hier mit 48 Kilometern pro Stunde geblitzt worden war. Schwungvoll und euphorisch, weil man es geschafft hat, schert man aus der Kreisverkehrhölle aus in die Moltkestraße, beschleunigt auf 70 bis 100 und übersieht das Schild mit der 30. Kann passieren und tut es täglich.

Rechts geht’s weiter auf die Weselerstraße. Während ich zwei rote Ampeln übersehe, beglückt mich der Anblick des Aasees links und der Promenade rechts. 2009 zum „schönsten Park Europas“ gewählt. Hier findet die Montgolfiade statt, das große Fischsterben, hier war Schwan Petra unterwegs und hier rudert die Ruder-Bundesliga. Meine Eltern zwangen meine Schwester und mich in den 80ern zu der einen oder anderen Umrundung. Später lief ich freiwillig um den größten innerstädtischen See Europas, in dem inzwischen auch die Fische wieder ein relativ sicheres Leben führen können.

Links lasse ich dann die Gerichtsgebäude liegen, um auf den weitläufigen Schlossplatz blicken zu können. Unser Schloss ist nicht Neuschwanstein. Es ist besser. 2017 war ich mit meiner Mitbewohnerin in Füssen. Wir schmunzeln heute noch darüber, wie enttäuscht wir waren, als wie Schloss Neuschwanstein sahen:

Das ist Neuschwanstein? Sicher?“, fragte sie mich damals.

„Ja, sehr sicher. Wobei … es ist so klein. Das kann es unmöglich sein!“

Es war Neuschwanstein.

Letztes Wahrzeichen Münsters, das ich passiere, ist die „Blaue Lagune“. Klingt toller, als es ist, doch hier hat sich noch jeder Münsteraner mit Getränken eingedeckt: Es ist die „Aral“-Tanke an der Steinfurter Straße, Ecke Mimigernafordstraße, wo ich wohne. Eines gibt es hier in Münster nicht: die Kiosklandschaft, die ich in Düsseldorf so praktisch fand. Natürlich haben wir hier auch Kioske, aber sie schließen doch überwiegend recht früh. Doch wir wohnen rund 600 Meter von der blauen Lagune, der Kult-Tanke Münsters, entfernt, wo inzwischen auch ein „Rewe to go“ eingezogen ist. Vom Captain Morgan über BCAA-Getränke finde ich hier alles. Nicht selten halte ich freitags nach der Arbeit hier, zumal meine Packstation genau daneben steht.

Links lasse ich auf den letzten Metern den Schlossgarten mit seinem fantastischen Schlossgraben liegen und komme zuhause an. Was nun links lag, liegt morgen früh rechts, wenn ich wieder sehr gerne zur Arbeit fahre!

Lesen Sie den Stolz zwischen den Zeilen heraus? Ich bin mir dessen bewusst und weiß um meine Penetranz. Doch ich sehe es für meine Mitbewohnerin und mich so: Wir haben uns genau das verdient. Und ich weigere mich, den abzulegen. Es ist nicht Stolz auf diese Stadt, denn für diese Stadt kann ich ja nichts, es ist aber der Stolz darauf, ohne irgendwelche Jobaussichten die alten aufgegeben zu haben, um sich einen kleinen Traum zu erfüllen.


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