„Scheiße, ich werde immer mehr wie du“, rutschte ihr es gestern (wieder) heraus.

„Verzeihung, ’scheiße‘?!“, ich empört, „Ich sehe es eher als eine ganz neue, als eine weitere Qualität von dir! Zusätzlich zu deinen ohnehin fantastischen Eigenschaften nimmst du nach 16 Jahren endlich auch die hochwertigen von mir an!“

„Das ist ja schon sehr wertend. ‚Hochwertig‘!“

„Entschuldige mal, du hast auch gewertet: ’scheiße‘! Also wenn ich so darüber nachdenke, muss ich dich fragen: Liebst du mich wegen oder trotz meiner Eigenschaften?!“

Sie antwortet nicht. Sie blickt nachdenklich ins Nichts.

„Überfordert dich die Frage?“, will ich wissen, „Ist es zu anstrengend, einfach zu lügen, um eben keine unangenehme Stille entstehen zu lassen? Da könnt ihr Frauen von Männern noch sehr viel lernen. Es gibt zwei Arten von Antworten auf schwierige Fragen. Zum einen die Wahrheit, die zu großem Ärger führt, oder die angepasste Antwort, die den Frieden wahrt. In unserem Falle hättest du einfach lügen können und sagen ‚Wegen deiner Eigenschaften‘!“

Meine Mitbewohnerin zieht plötzlich ihr Handy aus der Tasche.

„Hallo? Ja hallo! … Ja, ich hab gerade Zeit“, murmelt sie in die Sprechmuschel und verlässt die Küche. Den Trick hat sie bereits von Männern gelernt: Wenn’s eng wird, tut man so, als würde ausgerechnet in dem Moment das Handy vibrieren, um sich der Situation zu entziehen. Alternativ kann man auch einen Herzinfarkt vortäuschen, was aber umständliches Geraffel nach sich zieht.

Ich bin ein wenig stolz auf sie: „Na, geht doch!“

In diesem Text lasse ich die Frage außen vor, ob auch umgekehrt gilt, ich also werde wie sie. Weder sehe ich konkrete Anzeichen dafür, noch schließe ich es aber direkt aus. Hier geht es darum, dass Dinge, die uns einst voneinander unterschieden, nach und nach verschwinden. Wir werden gewissermaßen und womöglich auch der Dauer unserer Beziehung geschuldet zu einem Einheitsbrei. Positiver ausgedrückt: Wir verschmelzen zu einer unschlagbaren Einheit.

Sie sorgt für Chaos und Unordnung, ich räume wieder auf. Das war bislang grob gesagt unser Konsens, das hat viele Jahre funktioniert. Unterstelle ich ihr also Chaos, dann sind die Relationen entscheidend, denn sie ist zugegebenermaßen keine Vollchaotin, das würde es nicht treffen und wäre auch ein Hindernis der Beziehung. Aber ich bin Freund penibler und übertriebener Ordnung, gerne würde ich beispielsweise Oberflächen nicht nur wöchentlich nass putzen, sondern am besten noch desinfizieren. Ich verzichte nur deshalb darauf, weil es natürlich ungesund ist und unser Immunsystem schwächt. Zudem glaube ich, dass manch Holz nicht erfreut auf diese Mittelchen reagiert. Aber sichtbarer Staub ist mir ein Graus. Und ich spüre ihn überall auf, auch da, wo nie ein Mensch hinsieht. Auf Türzargen, hinter Schränken, auf den Küchenschränken, hinter Heizkörpern oder auf dem Buchblock von Büchern (das meint oben die Gesamtheit der Oberkanten der Buchseiten). Sichtbare Staubschichten sind für mich der Inbegriff mangelnder Disziplin und Verwahrlosung.

Als meine Mitbewohnerin und ich uns kennenlernten, hatte sie es viele Tage vermieden, mir in ihre damalige Wohnung Einlass zu gewähren, da sie einigermaßen negativ beeindruckt von der Sterilität meiner war. Sie fürchtete, ich wäre sehr abgeschreckt. War ich nicht. Denn es ist mir vollkommen egal, wie andere es handhaben mit der Ordnung. Ich muss ja damit nicht leben.

Für mich ist es todeswichtig, dass ich von jedem noch so kleinen und unbedeutenden Gegenstand im Haus weiß, wo er sich befindet. Auch wenn ich es nicht auswendig weiß, so herrscht doch ein Ordnungssystem, das die Dinge thematisch ordnet und wir daher nicht suchen müssen, sondern uns aus dem System heraus direkt erschließen können, was wo ist.

Das ist mein Ideal. Dieses Ideal konterkariert sie mit etwas, das sie „Flexibilität“ nennt. Wenn sie etwas sucht, sucht sie erst einmal auf ihrem Schreibtisch. Dort etwas zu finden, ist nicht einfach, aber hochwahrscheinlich, denn teilweise hat es den Anschein, dass ihr komplettes Hab und Gut sich auf ihrem Schreibtisch ansammelt.

„Das ist eben mein System!“, sagt sie dann und natürlich lasse ich ihr das. Keinesfalls fange ich an, ihre Sachen aufzuräumen. Das geschieht lediglich beim „großen Wohnungsputz“, den sie die „Stunde null“ nennt.

„Danach finde ich nie etwas wieder!“, klagt sie dann.

„Weil du zu emotional bist. Ordnung ist nicht emotional, sondern rational!“

Frauen können in aller Regel nicht rational denken und handeln.

Ich bin sicher, mit diesen Satz habe ich wieder die Aufmerksamkeit der Leserinnen. Überlege, den Satz auch als Überschrift zu verwenden, dann schießt der Text durch die Decke!

Suche ich beispielsweise meine Armbanduhr, dann weiß ich, ich finde sie in meinem Armbanduhren-Kasten im Armbanduhrenregal. Ich weiß, männliche Leser werden das gerade trivial finden und sich wundern, dass ich das überhaupt erwähne. Aber glauben Sie mir, für Frauen ist das alles andere als naheliegend. Sucht sie zum Beispiel eine ihrer fünftausend Haarspangen, kann sie praktisch überall fündig werden: Im Bett, auf dem Sofa, im Badezimmer, in meinem Armbanduhrenkasten oder auf dem Boden eines beliebigen Raumes. Ich finde gerne welche in der Waschmaschinentrommel, ohne jemals überhaupt danach gesucht zu haben. Kürzlich stieg ich mit meinem Fuß wie jeden Morgen in eine meiner Socken und spießte mich dabei mit einer Haarspange auf, die sich aus unerfindlichen Gründen in dieser Socke befand. Hier wird Unordnung zu einer Gefahr für Leib und Leben!

„Aber so muss ich nicht lange nach Haarspangen suchen, denn sie sind überall!“, rechtfertigt sie sich dann. Und was soll ich dem entgegensetzen?! Denn es ist ja nun einmal mein Problem, dass ich nicht in den Schlaf finde, wenn ich weiß, dass auf oder in meinem Schreibtisch große Unordnung herrscht. Am vergangenen Wochenende wurde ich aus dem Nichts heraus plötzlich sehr unruhig, weil ich feststellte, dass in unserem Badezimmerschränkchen eine gewisse Unordnung sich Bahn gebrochen hatte, da über Weihnachten eine große Flut an Pflege- und Hygieneartikel über uns hereingebrochen war. Die dann schlicht irgendwie in den Schrank zu stopfen, ist mir zu einfach und zu unstrukturiert. Trotz Zeitmangels rief ich die Aktion „Badezimmer-Neustruktierung“ aus, an der meine Mitbewohnerin nur sehr widerwillig teilnahm.

„Drogerieartikel werden künftig nach Körperregion geordnet verräumt. Die Mundspülung kann unmöglich neben dem Fußbad-Zeugs stehen, könnte aber neben das Bartshampoo platziert werden. Wobei, du hast keinen Bart, den habe nur ich. Die Platzierung würde also zwangsläufig zu Verwirrung führen.“

Das sind so die Kleinigkeiten, die noch geblieben sind. Und der Leser merkt, der Autor ist völlig normal, während dessen Mitbewohnerin entglitten ist. Doch seit einigen Monaten ändern sich die Dinge.

Vergangene Woche kam ich abends einmal nach Hause und traf ein in einer kompletten gesäuberten Wohnung. Ich hielt es für wahrscheinlicher, dass ich irgendwie in eine kosmische Zeitschleife oder durch ein schwarzes Loch in ein Paralleluniversum gerutscht war, als dass meine Mitbewohnerin plötzlich die komplette Wohnung reinigt.

„Ich habe alles gesaugt und gewischt. Oberflächen gereinigt. Ich konnte das Chaos nicht mehr ertragen!“

Sagte sie und fügte nach kurzer Stille sehr traurig hinzu: „Ich werde immer mehr wie du. Es fing damit an, dass ich in einen Krümel auf dem Boden trat. Ich wollte ihn erst nur aufheben, aber dann sah ich einen zweiten …“, zweifellos stand sie unter Schock.

Mich freut das natürlich auf der einen Seite, da ich offenbar bald das Vergnügen habe, mit mir selbst eine Beziehung zu führen und mit mir zu schlafen. Aber ich erkenne auch die Gefahren! Denn was geschieht, wenn sie meine herausragenden Qualitäten annimmt, die ihren aber verliert? Dann, verehrter Leser, bricht wirkliches Chaos aus.

Ist sie es doch, die den Laden am Laufen hält. Während ich putze und dekoriere und meinen geistigen Vergnügungen nachgehe, ist sie es, die meine Defizite ausgleicht. Unlängst hier im seppolog beschrieben, wer bei uns die Lampen an die Decke dübelt. Und nicht ich bin es, der die Lampen unserer Dunstabzugshaube neu verkabelt. Ich bin der, der den Kohlefilter tauscht. Aber geht es ums Handwerkliche, kommt sie ins Spiel. Geht es darum, Dinge zu bauen, zu erschaffen, dann ist sie gefragt und mit einem beeindruckenden Können dabei, das mich nur staunen macht, da mich ja schon ein Malbuch überfordert, während sie in der Lage ist, aus Holz beispielsweise ganz Neues zu schaffen. Und nicht ich bin derjenige, der den Baum dazu fällt, das erledigt sie.

Unverkopfter und praktischer Tatendrang zeichnet sie aus. Als nach unserem Umzug sich in der neuen Küche eine Lücke zwischen zwei Schränken auftat (da wir die alten Küchenmöbel mitnahmen), baute sie kurzerhand einen neuen Schrank, der die Lücke perfekt ausfüllt – ohne dass man das als Flickwerk erkennen würde.

Vielleicht ist das ein Rezept für eine eerfolgreiche und langlebige Beziehung: das Ergänzen, wobei ich auch glaube, dass ultimativ unterschiedliche Persönlichkeiten nicht dauerhaft zueinderfinden, aber womöglich gibt es auch da Gegenbeispiele.

Zwar befürchtet meine Mitbewohnerin inzwischen zunehmend, meine Spießer-Eigenschaften immer mehr anzunehmen, doch ich möchte sie da beruhigen: Zum einen bin ich vielleicht doch weniger spießig, als man mir immer gerne andichten möchte, und zum anderen kann man Spießigkeit auch in Bodenständigkeit und Solidität umsetzen. Und wenn ich Dir das künftig bieten kann, ist das kein schlechter Deal!


Zwei Jahre lang schrieb ich bis 2017 die Beziehungsfragen. 41 sind es geworden, die Sie hier finden.

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