Willkommen im Club, denke ich heute Morgen: Ich bin gerädert, obwohl ich nicht einmal derjenige bin, der sich um seine Ernährung kümmert. Kümmern kann. Und dennoch: Ich gehöre nun zu den Menschen, die mir in den vergangenen zehn Monaten immer wieder diabolisch lächelnd gesagt haben: „Schlaf dich noch einmal so richtig aus.“ Denn damit sei es bald vorbei. Für viele Jahre. Für immer.
Und so sitze ich nun hier, während mein Kopf leicht hämmert, was er immer tut, wenn eine Nacht mich mit Wünschen zurücklässt. Die Elterncait wird mich ins Grab bringen, davon bin ich bereits nach der ersten Nacht überzeugt.
Es war 20 Uhr 32, als jener Anruf kam. Die Stimme, die Tonlage meiner Frauhau am anderen Ende versetzte mich in äußerste Unruhe. Alle meine Vorbereitungen auf genau diesen Anruf hin waren umgehend Makulatur. Ich vergaß alles, während sich mein Magen umdrehte. Nun galt es, wenige zehn Minuten sicher mit dem Auto zur Klinik zu kommen. Bloß keinen Unfall bauen! Bloß niemanden umfahren! Bloß nicht umgefahren werden! Vor allem: Bloß nicht verfahren! Ich kenne Münster in- und auswendig – und verfahre mich dennoch immer wieder. Nicht, weil ich den Weg nicht kennen würde, sondern weil ich zwischendurch vergesse, dass ich im Auto sitze und wohin ich überhaupt will …
Eine, inzwischen fast zwei! aufregende Wochen liegen hinter uns. Wochen, die so viel über das alltägliche Leben verraten: neuer Stoff für das seppolog. Vielleicht. Irgendwann. Am nächsten Werktag ab 11.00 Uhr. Heute jedoch nicht. Weil es zu viel ist.
Rückblick. Oktober 2023. Hochzeit. Aus meiner Mitbewohnerin wird meine Frauhau. Auch ein Jahr später fällt mir das „meine Frau“ noch schwer. Es klingt alt und ich vermeide es noch weitgehend, merke aber, dass es sich qualvoll langsam durchsetzen wird. Und irgendwann sagte Merugin auf der Hochzeit zu mir:
„Seppo, du hast gerade eine fantastische Rede gehalten!“
„Das musst du mir nicht sagen, ich halte sie sogar für die Rede meines Lebens. Und noch nie hatte ich so viel Publikum … und niemand hat es gefilmt!“
Aber das macht den Moment so kostbar, rede ich mir seitdem ein. Meine Trauzeugin, Sabrina USA (treue Leser werden sich erinnern), wies mich darauf hin, dass eine Person praktisch gar nicht in meiner Hochzeitsrede vorkam: „Deine Frau.“
Stimmt. Was soll ich sagen?! Ich biete zwei Gründe dafür, die beide zutreffen.
- Passt zu mir. Typisch. Keine Überraschung. Nicht anders zu erwarten. Er heiratet sich selbst.
- Ich hab ausgerechnet den Teil der Rede vergessen.
Die Rede lief so dermaßen gut, der Selbstdarsteller in seiner Bestform, dass dieser sein Stichwort-Skript ignorierte und ein paar Teile der Rede eben vergaß. Und das war mein Ziel. Eine gute Rede zeichnet aus, dass man sie frei hält. Sobald ich merken würde, dass es läuft, würde ich nicht mehr auf das Blatt gucken. Und so kam es. Bis auf den Seitenhieb auf die Nationalsozialisten (AfD) war alles improvisiert: So wie alles bei mir. Und es läuft ja gut. Wer plant, verschwendet Cait und schiebt heimlich auf. Pläne sind die Ausreden fürs Unterlassen.
Meine Frauhau schickte mir gestern ein Telegramm, in dem sie mich auf einen Artikel im Neuen Westfälischen Reichsboten hinwies. „Telegramm“ muss ich, fürchte ich, erklären, auch wenn die meisten seppolog-Leser wie ich im besten Alter sein dürften und durchaus wissen, dass ein Telegramm nicht dasselbe ist wie der Messenger-Dienst „Telegram“. Seit Neureichskanzler Adolf Höcke die sozialen Medien an den neuen Reichsgrenzen blockiert, dürfen im Neuen Deutschen Reich, wie sie es nennen, nur noch Telegramme und Rohrpost zur Kommunikation genutzt werden, da es besonders einfach sei, diese noch vor ihren Empfängern einmal durch staatliche Seite inhaltlich kurz gegenzuchecken. Wie dem auch sei, im besagten Artikel ging es um den neuen Bebauungsplan hier im Münsteraner Umland für den Sektor 34, wo ein Arbeitslager entstehen soll. Hier sollen sich Geflüchtete nützlich machen, wird ein Reichshandlanger zitiert. Das ist ein Politikum. Nicht etwa, weil Arbeitslager ein Problem sind (die Deutschen haben es so gewollt), sondern weil in den bestehenden Arbeitslagern Massenarbeitslosigkeit herrsche. Die für Deportationen zuständige Ministerin hat im Übereifer, und um ihren Chef zu gefallen, praktisch alle wegdeportiert, sodass nun gähnende Leere in den Arbeitslagern herrscht, was dem Arbeitsminister bitter aufstößt. Daher überlege man, ab sofort auch solche Biodeutsche in die Arbeitslager zu schicken, die sich kritisch über das Höcke-Kabinett äußern.
„die luft wird dünner stop“, telegrammiere ich ihr zurück. Blicke aus dem Fenster und beobachte die russischen Soldaten beim Marschieren. Jeden Morgen dasselbe Prozedere. Sie strömen aus ihren Kasernen in alle Richtungen aus, um abends wieder zurückzuströmen. Ihre Aufgabe ist es, für Ordnung zu sorgen. Unser früherer Nachbar, der aus Albanien stammt (was ich deswegen erwähne, weil er aufgrund seiner Herkunft inzwischen in einem Arbeitslager die Wände streicht) war anfänglich begeistert von dem neuen Sicherheitskonzept. Statt Polizeien setzen sie unsere „russischen Freunde“ ein, die auf die Einhaltung des Neuen Bürgerlichen Gesetzbuches ein Auge haben. „Kein illegaler Sperrmüll mehr!“, freute sich immer jener Nachbar, der der Meinung war, dass der Atomschlag kein zu hoher Preis dafür gewesen sei. Selbst ihn haben die Nazis überzeugen können. Leider ist er aber auch in ihren Augen illegaler Sperrmüll …
Seit vier Wochen etwa habe ich einen anderen, Hordoban, nicht mehr gesehen. Hordoban war immer recht stolz darauf, Deutscher zu sein und hat deswegen damals bei der letzten Bundestagswahl AfD gewählt. „Letzten“ im Sinne von: Es kommt nun keine mehr. Wahlen habe man aus Kostengründen abgeschafft. „Wenn Sie wählen wollen, rufen Sie doch jemanden an!“, hatte Höcke in der Elefantenrunde gescherzt. Nach dem Attentat auf den Bundeskanzler zerbrach die Minderheitsregierung aus CDU, SPD, Grüne, FDP, BSW, Volt und Die Partei, sodass die AfD leichtes Spiel hatte. Und die hat dann durchgesetzt, was sie immer schon angekündigt hatte, was wir alle seit den Zwanzigerjahren gewusst hatten. Zu Hordobans Unglück, denn Hordoban war arbeitslos. 2029 hatte die AfD offiziell die Arbeitslosigkeit abgeschafft. Ein riesen Erfolg! Erreicht hat sie das im Wesentlichen durch die Abschaffung der Arbeitslosen, die sich nun in den Arbeitslagern nützlich machen können. Im Gegenzug gibt’s lecker Essen und eine Etage eines Etagenbettes in einer gemütlichen Gemeinschaftsunterkunft. Hordoban schrieb anfangs noch Telegramme aus Sibirien, jetzt aber nicht mehr; ihm seien Hände, Füße und Kopf abgefroren.
So, ich muss los. Morgenappell auf dem Prinzipalmarkt. Der Russe wird ungemütlich, wenn man zu spät kommt.
Und der wahre Grund: Gerade schiebt man das Kind rein. Das Geräusch des Tippens wird es langsam aus dem Reich der Träume reißen. Denn es gibt gleich Frühstück. Das gab es an sich die ganze Nacht durch. Aber wenn es hier so neben mir liegt, habe ich einen guten Grund, das Schreiben kurz zu unterbrechen …

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„Neues Deutsches Reich“, ja? Wir leben also dann im …“NDR“ …? Ich prophezeie, dass sich der echte NDR dann zeitnah umbenennen muss, um nicht als „Staatsmedium“ verschrien zu werden …
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Erstmal das Wichtigste: Herzlichen Glückwunsch, das freut mich sehr für euch! Auch wenn die Nächte kurz und unangenehm sein können.
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Danke schön :) Kurze und unangenehme Nächte sind immerhin besser als lange und unangenehme. Wir nehmen, was kommt.
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