„Sucht man sich Kinder daraus aus?“, fragt mich Merugin, mit dem ich gerade über das Gelände des Alten Zoos in Münster – wo sonst?! – gehe.
„Nein, natürlich nicht! Es ist ein Buch, das eine Geschichte speziell für Kinder enthält. Oder mehrere Geschichten“, erkläre ich und schlage vor, „Lass uns über Leichen gehen.“
Während wir die Abkürzung über den Zentralfriedhof nehmen, halten wir am Grab von Reichskanzler Heinrich Brüning inne und schütteln zu dritt angesichts der zur Zeit laufenden Machtergreifung die jeweiligen Köpfe.
„Und warum willst du ein Kinderbuch schreiben? Kinderbücher werden doch in der Regel von Frauen geschrieben, die sich selbstverwirklichen wollen. Zehn Sätze über irgendeinen Hasen, Igel oder Hamster, dazu Illustrationen einer Freundin, die wegen ihrer alternativen Kinderklamotten-Boutique in Privatinsolvenz lebt, gedruckt auf seeehr dicker Pappe – und fertig ist das einfallslose Werk, das über einen lokalen Verlag … äh … ja … verlegt wird.“
„Das ist mir zu negativ, Merugin, obwohl es stimmt. Doch ich könnte mir vorstellen, dass der Autor dieser Zeilen sich an dieser Stelle von deinen Worten distanzieren muss. Und ich muss es wissen, denn ich bin der Autor.“
Korrekt, distanzieren, das sollte ich mich wohl, denn heutzutage ist „man“ ja empfindlich und fühlt sich schnell verletzt: von vollkommen fremden Menschen, die einem eigentlich ebenso vollkommen egal sein müssten. Aber man will ja zeigen, dass man sich verletzt fühlt …
Inhaltlich hat Merugin recht, sogar sehr, aber ich möchte unbedingt beim Münsteraner Leser den Eindruck unterbinden, Merugin spreche hier vom hiesigen Coppenrath-Verlag. Ebenfalls ist nicht der lustige „Hase Felix“ gemeint, wenn Merugin von einem Hasen spricht! Der Verfasser ist absoluter und uneingeschränkter Fan des Münsteraner Erfolgsverlages! Aus Lokalpatriotismus heraus würde er sogar die „Landlust“ aus Münster-Hiltrup lesen … ach was, direkt abonnieren! Und was spräche bitte gegen Frauen, die sich selbstverwirklichen wollen?! Und zitiere ich nicht gleich Geschichten, die von Männern stammen?!
„Gut, wäre das ja geklärt“, sagt Merugin, als wir an der Landoisstraße rauskommen, „Aber trotzdem, warum eine Geschichte für Kinder?“
Es ist schon einige Jahre her, als ich mit Herrn Sonderlich und dem Rumpeln im Baum einen ersten Anlauf gestartet hatte. Leider stand ich damals zu sehr unter dem Einfluss von „Alice hinter den Spiegeln“ und derselben „im Wunderland“. In meinen Augen neben „Pu, Pooh und Puuh, den Bären“ die beste Kindergeschichte überhaupt. Es braucht nur diese eine Idee des settings, der Rest ist eigentlich egal. Ich habe die beiden Alice-Romane kürzlich noch einmal gelesen und …
„… bin der Meinung, dass das setting großartig und absolut beneidenswert ist, aber die Handlungen innerhalb dessen belanglos. Aber die spielt ja auch keine Rolle, denn selbst mich als Erwachsenen fasziniert die Idee des Wunderlands oder die des Hundert-Morgen-Walds. Das sind Jahrhunderteinfälle und mein Verkehrtherum, das ich mir damals ausgedacht hatte, ist einfach nur ein Abklatsch. Es fehlt mir schlicht die zündende Idee“, erkläre ich Merugin, kurz nachdem wir wegen einer Unaufmerksamkeit in den Schlossgraben gefallen waren.
Da das Ufer im Schlossgraben stellenweise sehr steil ist, entscheiden wir, bei der Gelegenheit und 13 Grad ein paar Bahnen zu schwimmen. Ich überlege sogar, mein Gold-Abzeichen zu machen, da ich glaube, es lediglich bis zum silbernen geschafft zu haben. Allein es fehlt der Drei-Meter-Sprungturm, den es dazu bräuchte.
Wir schwadronieren stattdessen also darüber, ob nicht die Tatsache, dass ich nun Nachwuchs habe, mich beflügeln könnte, schließlich sind ja die genannten Kinderklassiker zunächst nicht für die breite Öffentlichkeit geschrieben worden, sondern: für die Kinder der Verfasser selbst. Ich könnte doch einfach für unseren neuen Mitbewohner eine Geschichte schreiben und dann zufällig veröffentlichen lassen. Meine Frauhau hat zwar keine Boutique, könnte aber aufgrund ihres unverschämten Zeichen- und Maltalents die Geschichte illustrieren, so wie bei meinen Weihnachtsgeschichten mit Herrn Abendfahl, der hoffentlich in diesem Jahr sein Comeback feiert.
An der Brücke zum „Äußeren Schlossgarten“ steigen wir schließlich aus dem Wasser und gehen Richtung Wilhelmstraße, dann vorbei an „Gustav Grün“. Gustav Grün, ich mache hier keine bezahlte Werbung, ist eine kulinarische Sensation aus – natürlich – Münster. Inzwischen expandieren sie deutschland- und strenggenommen sogar weltweit. Jüngster Spross des Unternehmens ist das Dings, wie heißt es gleich, Chucu- … Cuchuara …
„Cuchara.“
Richtig. Danke. Da gibt es großartige Currys zum mittelgroßen Preis.
„Sollen wir da gleich mal hin?“, frage ich Merugin.
Er nickt und wir nehmen Kurs auf das neue Etablissement, das wettmacht, dass ausgerechnet in Düsseldorf die Idee zum Dings … Huala … Hulu …
„Hulala!“
Richtig. Danke. Zum Hulala geboren worden ist. Dort haben sie fantastische vegane Burger und so weiter. Ich hoffe, sie expandieren nach Münster. Dafür kriegen sie drei Gustav Grüns, fünf Aros und sieben Cuara … Chucka …
„Cucharas!“
Richtig. Danke. Wo waren wir?
„Bei deinem großen Kinderbuch-Plan.“
„Richtig. Danke. Vielleicht kann ich einfach nur Geschichten mit bis zu 2.000 Wörtern schreiben. Sobald ich mehr schreibe, vergesse ich selbst, was ich geschrieben habe. Wie oft habe ich schon Figuren sterben lassen, die später wieder auftauchten, weil ich ihre lyrische Hinrichtung schlicht vergessen hatte?!“
In diesem Moment kommt Lara um die Ecke. Lara Ungern. Sie habe ich schon drei-, vielleicht viermal umgebracht. Und als ich gerade hallo rufen will, wird sie von einem LKW erfasst, der sie 250 Kilometer mitschleifen wird, bevor er von einem Meteoasteroidenriten getroffen wird. Da wird nichts mehr zu machen sein. Ruhe sie in Frieden.
Tatsächlich macht das Schreiben einer größeren Geschichte unangenehm viel Arbeit. Dercait hätte ich die Cait dazu, was ich übrigens nie erwartet hätte. Aber der Umstand, für jede Figur Biographien anzulegen, ihre Beziehungen zueinander zu definieren und so weiter, widerspricht vollkommen meiner Art zu schreiben. Ich schreibe planlos. Für diesen Text beispielsweise hatte ich lediglich das „Über Leichen gehen“ im Kopf. Also schrieb ich. Ich wusste vorher nicht, dass ich im Schlossgraben landen würde. Ich wusste auch nichts von dem Hänger vor einigen Absätzen. Ich musste spontan überlegen, wie ich die Kurve kriege. Zwischendurch gab dann unser neuer Mitbewohner Laut und ich musste – durfte! – ihm mehrere Minuten etwas vorsingen, da ich festgestellt habe, mein sonores Singen reicht zwar nicht für eine Weltkarriere, aber es genügt, damit der Mitbewohner wieder einschläft … für drei Minuten … wieder Singen … schläft … drei Minuten … Guten Aaaaabend, gute Naaaaaacht … schläft … Singen … Windel voll …
Nicht eine Kanone, aber wohl einen Graben sehen Merugin und ich, als wir auf Höhe Kanonengraben tapern. Viele Gräben hier in Münster, aber kaum Grabenkämpfe. Warten wir, bis die Nazis auch Münster gekapert haben, was wie beim ersten Mal sehr lange dauern wird. Ein bisschen stolz bin ich auf Münster, wo die Nationalsozialisten es auch bei der Europawahl nicht über die fünf Prozent geschafft haben (ungeachtet der mir bekannten Tatsache, dass es diese Hürde bei Europawahlen nicht gibt), womit die AfD nirgendwo weniger Stimmen bekommt als in Münster, dort, wo es schon ihre Vorgängerpartei, die NSDAP, am schwersten hatte. Doch am Ende werden sie auch hier siegen. Das Böse siegt, weil es keine Spielregeln beachten muss und die Dummheit vieler Menschen sich zu eigen machen kann.
„Merugin, nimmst du eigentlich auch schon Abschied von der Freiheit?“, frage ich ihn.
„Nein, du?“
„Ja. Doch. Es wird ein schleichender Prozess sein. Nuancen, die sich verändern. Am Ende hängen wieder Hakenkreuze am Prinzipalmarkt. Oder sie machen ihren Pfeil aus dem Parteilogo zum Symbol des neuen Reiches. Oder sie kreieren einen Hakenpfeil. Pfeilkreuz. Kreuzpfeilhaken. Hakenpfeilkreuzpfeilhakenkreuzotter. Meinst du, die Hakenkreuzotter wird das Wappentier des Neuen Deutschen Reiches?“
Wir sind fast bei mir zuhause in der Mimigernafordstraße, als ich beschließe, die Dinge auf mich zukommen zu lassen. Ideen, Nazis und Russen kommen – oder kommen eben nicht. Es war immer und nie anders so. Eine Idee kommt nicht, wenn man sie einlädt. Sie kommt, wenn sie will. Es könnte noch heute so weit sein. Achja, eine Kindergeschichte, die ich brennend empfehlen kann, ist: „Ich, Gorilla und der Affenstern“. War mal vor vielen Jahren der Fortsetzungsroman auf der damaligen Kinderseite der „Zeit“. Vor einigen Wochen konnte ich ihn als gebrauchtes Buch erstehen; wird wohl nicht mehr gedruckt. Es wird das erste Buch sein, dass ich dem neuen Mitbewohner vorlesen werde. Habe schon angefangen. Mein Eindruck ist: Er versteht kein Wort. Schlecht für ihn, denn heute Abend schreiben wir einen Test.

Sie lasen einen Artikel aus dem SEPPOLOG.
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Na super, jetzt muss ich zu meinen 10 Sätzen über meinen Ausnahmehamster Goldi noch 5 dazufügen und Freundin Isolde eine Bankkauffraukarriere andichten, wenn ich sie als Illustratorin in meinem Erstlingswerk erwähnen will, damit wir hier nicht alle Klischees erfüllen. Aber die dicke Pappe bleibt, sonst kann man aus dem Hamsterbuch nicht auch noch gleich die verzauberte Hamsterburg bauen! Jawohl!
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