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Funkuhren vertraue ich. Aber seit Jahren habe ich hier in der Küche eine Funkuhr hängen, die grundsätzlich im Vergleich zu meinen anderen Funkuhren (ich bin Funkuhren-Freak) eine Minute nachgeht. Heute geht sie fünf Stunden nach, was für große Verwirrung gesorgt hatte. Zu früh aufgestanden?! Für viel mehr Verwirrung allerdings sorgten heute zwei andere Dinge. Zum einen ist es das erste Mal in meiner Laufkarriere, dass ich an einem 22. Dezember in kurzer Hose und T-Shirt laufe. Das ist krank. Zum anderen neige ich ja zum Laufen allein, wenn nicht gerade meine Mitbewohnerin nebenher läuft. Heute gesellte sich allerdings ein älterer Herr zu mir, der leidenschaftlicher Barfußläufer ist, was auch ich gerne einmal ausprobieren würde, da es dem Laufstil zuträglich ist und dem ursprünglichen am nächsten kommt. Aber die Fülle der sich dann bildenden Hornhaut macht mir Angst.

„Hallo, Gott. Du läufst also auch?“

„Ja. Ich bin da wie Du. Unfähig selbst zum Bier-Pong. Laufen kann jeder.“

Erstaunlich. Ich werde immer gottähnlicher. Oder ist Gott seppoähnlich?

„Wir sind zumindest beide größenwahnsinnig“, sagt er, meine Gedanken offenbar zu lesen vermögend. Und weiter:

„‚Zu lesen vermögend‘. Toll, wie Du schreibst. Schön umständlich. Hatte man Dir an der Uni abzugewöhnen versucht.“

„Was Du alles weißt. Aber Du bist ja Gott … Vorsicht, Hund!“

Galant springt Gott über den Hund, der wie wir ein Blinklicht trägt; es ist noch dunkel.

„Vieles vergesse ich, ich kann mir nicht die Details von mehr als sieben Milliarden Menschen merken.“

„So geht es mir bei Serien oder Romanen. Ich bin froh über jeden, der stirbt, da ich mir weder Namen noch die Beziehungen zu den anderen Protagonisten merken kann. ‚Game Of Thrones‘ habe ich deshalb nie verstanden.“

„Das ist der Grund, warum ich humanitäre Katastrophen zulasse. Um den Überblick zu behalten.“

„Ach? Die Institution Kirche sagt aber, der Mensch sei selber Schuld.“

„Das ist mein Glück, sie findet immer wieder ein Argument, mich rauszuhauen. Passieren Wunder, bin ich schuld, geschieht Schreckliches, wart Ihr es selber.“

Wir laufen an der Düssel entlang, die übrigens an einer sehr unscheinbaren Stelle in den Rhein läuft. Aus einem Loch an der Rheinuferpromenade.

„Seppo, ich will mit Dir auf das abgelaufene Jahr zurückblicken. Darum bin ich hier. Wir besuchen nun das Museum Deines Lebens, Abteilung 2015.“

„Ich habe ein Museum?!“

„Jeder. Im Moment des Sterbens laufe ich mit jedem von Euch da durch. Nur nicht montags. Ruhetag. Pech, wer montags das Zeitliche segnet.“

„Segne ich nun das Zeitliche? Das käme mir ungelegen.“

„Nein. Du sollst nur etwas zum Bloggen haben, damit du endlich Deinen 200. Beitrag schreiben kannst!“

„Das hier wird nur ein Lückenfüller?“

„Jepp. So will es die göttliche Vorsehung.“

Gott drängt mich plötzlich ab, sodass ich die Böschung hinunter in die Düssel falle. In der eigentlichen Erwartung, nass zu werden, finde ich mich plötzlich einer großen, gelben Halle wieder. Im Museum meines Lebens.

„Gelb?!“

„Du hast mal gesagt, Gelb sei Deine Lieblingsfarbe.“

„Ich sage viel, wenn ich nicht weiß, was ich sagen soll. Aber hat was, das Gelb. Wonach riecht es hier?!“

„Nach Dir, Seppo. Das ist Dein Körpergeruch. Hier kannst Du ihn wahrnehmen.“

„Oha. Da wundert mich natürlich nichts mehr. Also als Frau könnte ich da auch nicht widerstehen.“

„Die Museumswärter finden, es stinkt. Sie erhalten hier eine Gestankszulage … Wir beginnen Deine Reise im Januar 2015. Erinnerst Du Dich?“

Ich muss kurz überlegen. Ja, es war ein ungünstiger Start ins Jahr. Ich hatte mir für 2015 einen Vorsatz gefasst, der mein Privatleben in geordnete Bahnen lenken sollte.

„Dieses Vorhaben ist Dir direkt misslungen. Und Dir war klar, dass 2015 so weiterlaufen würde, wie 2014 endete.“

So ist das mit Vorsätzen. Sie von einem Termin abhängig zu machen, ist natürlich Unsinn. Ich verschweige Gott, dass ich mir denselben Vorsatz für 2016 vorgenommen habe. Aber er weiß es vermutlich eh.

„Tue ich. Viel Glück. Die Vorzeichen stehen gut, Seppo. Lass uns weiter zum Vorführraum gehen, da läuft ein Film.“

Toll, ein multimediales Museum meines Lebens. Ich mag Museen, wenn es nicht gerade um bloße Bilder geht, die ich absolut langweilig finde. Wer sich lange Bilder ansieht, sieht Dinge, die nicht zu sehen sind. Aber Film geht in Ordnung. Es ist ein Porno. Mit mir in der Hauptrolle.

„Dein Sexleben 2015. Gefällt es Dir?“

„Oha. Also wenn ich mich jetzt so von außen betrachtet sehe: Warum bin ich kein Pornodarsteller?“

„Deswegen“, sagt Gott und deutet auf ein kleines Detail.

„Ah. Okay. Arschloch.“

„Mach ich mit jedem. Glückwunsch aber dazu nach zehn Jahren Beziehung. Tolle Geräte habt Ihr Euch da zu Weihnachten geschenkt. Was macht die Taschenmuschi?“

„Schon zerfetzt.“

„Was, Seppo, war für Dich entscheidend 2015, was macht das Jahr für Dich aus?“

„Vermutlich das seppolog. Die Neuentdeckung des Schreibens. Die Entdeckung, dass es jemand lesen will. Die Entdeckung des Stress‘, der damit verbunden ist, wenn ein Artikel völlig mies geworden ist. Aber auch die Entdeckung des Glücksgefühls, wenn man von völlig überraschender Seite gelobt wird.“

Gott schlägt mir einen Rückblick vor und so betreten wir die Halle „2005“, wo mein erster Blog „planetNEX“ ausgestellt wird. Der hatte im Grunde kaum Leser und für das, was ich damals schrieb, würde man mich heute lynchen. Ich habe etwa zwei Jahre gebraucht, um es aus dem Netz zu tilgen. Jede Suche zwecklos, es ist fort. Es war noch die Zeit, als das Netz vergessen konnte. Im Museum meines Lebens aber habe ich nun die Möglichkeit, es nochmal zu lesen.

„Schon damals hab‘ ich offenbar mein Privatleben ausgebreitet. Aber ich hab das gesamte Umfeld mit reingezogen.“

„Hast Du daraus gelernt?“

„In weiten Teilen ja. Heute halte ich es raus oder verfälsche es. Was mir mit Lara nicht gelungen ist.“

Lara, eine Nachbarin zog ich mit rein, bis sie diesen Blog entdeckte und mich zum Schafott führte. Aber nun ist sie ohnehin tot, die Sache hat sich erledigt. Gott schlägt mir nun die Abteilung „Tod 2015“ vor, die ich aber dankend ablehne. Ich übe mich als Meister im Verdrängen und so entern wir die Halle des Monats Mai, in dem ich das seppolog startete. 198 Artikel ist das nun her. Interessant, wie konzeptlos ich an die Sache ranging und unbedingt vermeiden wollte, über die eigene Person zu schreiben.

„Das misslang Dir völlig. Vom ersten Artikel an. Wie viel ist eigentlich erlogen an dem, was Du schreibst, Seppo?“

„Im Grunde geht’s, die großen Linien stimmen alle. Nur einmal habe ich fett gelogen. Und natürlich werden die Dinge ausgeschmückt, da ich ein sehr langweiliges und ruhiges Leben von einigen Aspekten abgesehen führe. Ich bin mir Action genug. Vielleicht habe ich 2015 gelernt, dass man es nicht allen Recht machen muss, sondern letztlich nur sich selbst. Mit der Erkenntnis lebt es sich deutlich entspannter und vor allem ehrlicher.“

„Ist es nicht egoistisch?“

„Das will ich doch hoffen. Ich habe mir 2014 eine Phase geleistet, in der ich mich völlig vergaß und ich in eine gewisse Krise rutschte. Das passiert mir nicht nochmal. Für andere da zu sein, muss Grenzen haben. Wenn man selber nämlich dabei zugrunde geht.“

„Hier und da liege ich mit meinen zahlreichen Engelchen, jetzt auch Lara dabei, morgens im Bett und wir lesen Deinen Blog. Ich lese alle Blogs, also bilde Dir nichts darauf ein. Und hier und da müssen wir schmunzeln. Natürlich schmunzeln die Engel, sobald ich schmunzele, weil sie sich bei mir beliebt machen wollen. Aber hin und wieder stoßen wir auf nachdenkliche Artikel, was überraschend ist.“

„Die schreibe ich, wenn ich einen Kater habe. Ich neige dann zu leichten postalkoholischen Depressionen. Sehe dann die Dinge schlimmer, als sie sind. Aber sind wir nicht alle nachdenklich? Aus so etwas entsteht ohnehin immer die größte Komik. Ich fürchte, dass etwas dran ist an dem Spruch, man könne nur glücklich sein, wenn man auch unglücklich ist. Du bekommst ja nichts umsonst im Leben. Der Preis des Glücks ist das Unglück.“

Wir passieren eine Bildergalerie. Bilder meiner Eltern hängen dort. Und meines Bruders mit Frau und Kindern.

„Seppo, Du hast Neffe und Nichte zu selten gesehen in diesem Jahr.“

„Ja, darum feiere ich Weihnachten in diesem Jahr bei ihnen. Sie sind aber inzwischen so alt, dass sie immer weniger niedlich sind und ihre Bewunderung für mich abnimmt. Das wird dann uninteressant für mich. Aber wir haben auch in diesem Jahr wieder zusammen die Sommerreifen gewechselt, das ist eine Tradition geworden. Ich habe sie bald soweit, dass sie es alleine können.“

„Haben sie Dich mal im Fernsehen gesehen?“

„Ja. Und nach wie vor verstehen sie nicht, wie ich da reingekommen bin. In diesen flachen Kasten. Wir konnten als Kinder ja noch glauben, da passen Menschen rein, da zu unserer Zeit die Geräte noch größer waren. Flachbildschirme machen das endgültig unmöglich. Sie fragten mich mal, was ich da tue. Ich konnte es ihnen irgendwie nicht beantworten.“

„Deine Eltern sind wie viele andere auch ein Jahr älter geworden.“

„Und kommen dem Ende immer näher. Das ist natürlich eine grauenvolle Vorstellung. Es wird irgendwann das Weihnachten geben, wo wir einer, dann zwei weniger sind. Da hört dann die Kindheit wohl auf. Das rede ich mir auch nicht schön, das ist eine ganz miese Geschichte. Vermutlich würde ich Weihnachten dann auch nicht mehr feiern. Da denke ich gerade das erste Mal darüber nach. Was mache ich dann Weihnachten?! Trotzdem nach Münster fahren? Wo sollte ich da hin? Ich muss das Haus erben … Ich werde auch dieses Jahr wie ein kleiner Junge meine Geschenke auspacken mit dem Unterschied, dass ich sie mir selber bestellt habe, da meine Eltern mit ‚Amazon‘ und Co. noch überfordert sind. Aber es wird besser.“

An der Wand hängt ein Bild meiner 2014 verstorbenen Oma.

„Warum hängt sie im Jahr 2015?“

„Weil Du kürzlich geträumt hast, Du würdest Ihr Totenbett waschen.“

„Haha, ja. Ich träume seltsame Dinge. Sie war da aber nicht tot. Sie lag drin. Dass man Betten wäscht, kenne ich aus meiner Zeit im Altenheim. Ich nehme an, daher rührt der Traum. Zuletzt feierte sie Weihnachten immer mit uns, da der andere Zweig der Verwandtschaft sie mehr oder weniger verstoßen hatte. Sie hat mir 35 Jahre lang zu Weihnachten unter anderem eine ‚Ritter Sport‘-Nuss-Schokolade geschenkt, weil sie sich nicht merken konnte, dass ich Nuss-Schokolade nicht mag.“

„War 2015 ein gutes Jahr für Dich?“

„Es war das beste bislang. Auch etwas, was ich als Glück begreife, bislang war alles immer besser als vorher. Auch das wird mich vor eine Herausforderung stellen, wenn sich das dreht, was es zweifellos tun wird. Ich finde auch das Älterwerden, das bei mir noch auf niedrigem Niveau stattfindet, toll. Ich hab‘ früher immer gedacht, man würde erwachsener und spießiger. Da ich aber schon auf einem sehr spießigen Niveau gestartet war, stelle ich bei mir das Gegenteil fest.“

„Deiner Mitbewohnerin macht das Angst.“

„Ja, das sagt sie. Aber alles andere wäre doch langweilig. Sie findet mich mitunter auch spießig. Sie sollte mir das nur nie sagen, denn ich empfinde das als Kompliment. Beispiel Krippe. Wer sich für besonders cool hält, stellt sich keine Krippe mehr ins Zimmer. Die, die wir haben, hat im Wesentlichen sie angeleiert. Ich find’s geil. Das hat was von Werten, von Tradition. Das immer Wiederkehrende als Konstante kann Halt geben. Warum hängt hier kein Bild von meiner Mitbewohnerin?“

„Brauchst Du ein Bild von ihr?“

„An sich nicht. Ich hatte auch nie eines von ihrer Vorgängerin. Was dazu geführt hat, dass ich sie nicht mehr vor Augen habe. Und ich kann noch so suchen, im Netz hat sie keine Außenpostenvertretung. Sie war allerdings nicht hübsch.“

„Du bist Augen-Fan. Hatte sie welche?“

„Ja, zwei. Rehbraun. Das kann manchmal reichen. Manchmal. Leider war sie dumm wie Brot. Das reichte dann doch nicht.“

„Das heißt, die Abteilung des Jahres 2002 im Museum Deines Lebens würdest Du jetzt ungern besuchen?“

„Richtig. Die Phase kann man getrost vergessen. Es wird 2004 wieder interessant, wo ich meine Mitbewohnerin treffe. Ihr Interesse an mir entging mir damals völlig. Sie musste mir regelrecht hinterherfahren und erst nach dem zweiten oder dritten Treffen hab‘ ich kapiert, was da eigentlich für mich Bahnbrechendes geschah. Ich hab‘ ihr offenbar viel zu spät in die Augen gesehen. Da sollte jeder mal reingucken. Du siehst die Seele.“

„Wann sieht man Deine Seele?“

„Wenn ich betrunken bin.“

Wir nähern uns der September-Halle. Und ich weiß natürlich, dass der September mein spannender Leistenbruch-Monat war. Dieser verdammte Leistenbruch hat mich rund 15 Läufe gekostet und die Erfahrung, dass selbst kleine, ambulante Operationen einen lahmlegen können. Seitdem habe ich Angst vor wirklich großen Dingen. Zumal ich bis heute den Leistenbruch noch spüre, sieht man von der Stelle ab, an der ich nun taub bin, also gar ein Gefühl mehr habe. Da mir aber eine Hodenschrumpfung erspart geblieben ist, werde ich mich darüber wohl kaum beklagen.

„Im schlimmsten Fall hätte es Dich Deine Zeugungsfähigkeit kosten können, Seppo.“

„Ja, im allerschlimmsten, denn da muss schon viel passieren. Das wäre allerdings wirklich eine üble Nummer geworden, auch wenn ich streng genommen ja gar nicht weiß, ob ich zeugungsfähig bin. Dass etwas rauskommt, sagt ja nichts über dessen Qualität aus. Da es aber von mir kommt, muss es hochwertig sein.“

„2015 bist Du nicht Vater geworden.“

„Nicht, dass ich wüsste.“

„2016?“

„Nein. Also nicht, dass es geplant wäre. Das Schöne ist ja, dass man als Mann eh etwas mehr Zeit hat und Frau heute auch. Ich stehe da nicht unter Druck und fürchte auch nach wie vor, dass sich das Leben dann auf eine nicht immer sympathische Art ändert. Soweit bin ich noch nicht, auch wenn ich durchaus von einer Mini-Variante meiner Mitbewohnerin begeistert wäre. Übrigens auch von der Mini-Ausgabe von mir. Ich hätte sicherlich viel Spaß mit ihm, auch wenn meine Mitbewohnerin grundsätzlich die Sorge hat, der Nachwuchs bekäme durch mich einen erheblichen Knacks weg.“

„Wäre das so?“

„Ja. Natürlich. Das wäre mein oberstes Ziel. Normal kann jeder. Ein erheblicher Knacks setzt andere Kräfte frei, die einem viel bringen. In der Praxis kann das natürlich auch nach hinten losgehen, man müsste es also an einem ersten Kind testen, um es beim zweiten dann besser zu machen. Ich selber bin übrigens das zweite Kind. Und Du siehst: gut gelungen. Ein Meisterstück. Schade für meinen Bruder natürlich, der das Leben sehr, sehr ernstnimmt. Das geht mir ab. Gottseidank.“

„Gern geschehen.“


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