„Einen guten Morgen im ICE 543 nach Berlin“, sagt in diesem Moment eine zurecht müde Stimme, die wohl zum Zugchef gehört, der bei der Deutschen Bahn die Durchsagen noch höchstpersönlich macht. Glaube ich zumindest. Es ist kurz vor sieben, ich bin entsprechend unausgeschlafen, da schon seit vier wach, und denke auch deshalb voller Vorfreude an den bevorstehenden Urlaub mit meiner Mitbewohnerin, der in diesem Jahr anders sein wird als die vorangegangenen Landpartien.

Was das Buchen von Urlaub angeht, haben wir inzwischen eine gewisse Routine entwickelt: Sie bucht und ich studiere die Statistiken zu Flugzeugabstürzen. Die Chancen, mit einem Flugzeug unerwartet vom Himmel zu fallen, liegen bei eins zu 27 Millionen und sind damit so gering wie noch nie zuvor. Diese Unwahrscheinlichkeit wird aber in dem Moment zu blankem Hohn, wenn man gerade abstürzt.

„Wir stürzen ab!“

„Ja, aber die Wahrscheinlichkeit abzustürzen, ist geringer als die, im Lotto zu gewinnen!“

„Aber wir stürzen doch gerade ab!“

„Was aber sehr unwahrscheinlich ist!“

Es kann also noch so unwahrscheinlich sein, dass ich abstürze, solange es im Bereich des Möglichen ist, bleibe ich, was Fliegen angeht, zurückhaltend. Das mag irrational klingen, ist aber maximal rational.

Die Fähigkeit zu fliegen haben wir den Flugpionieren aus den Anfängen des vorigen Jahrhunderts zu verdanken, was ich ihnen ganz persönlich übel nehme, und zurecht haben die meisten von Ihnen dafür mit ihrem Leben bezahlt. Warum sollte es ihnen anders ergangen sein als heutigen Passagieren, die auch noch teures Geld dafür bezahlen, eventuell unsanft auf die Erde zu fallen?!

Fliegen macht mich nervös, ich halte es für ein Risiko, das es zu meiden gilt, und mich interessiert gar nicht, dass jedes andere Verkehrsmittel viel gefährlicher ist. Diese Klugscheißer-Vergleiche bringen gar nichts. Es geht mir nicht um den Tod an sich, ich fürchte vielmehr den Moment, wo ich aus dem Fenster blicke und sehe, dass eine der Tragflächen nicht mehr da ist und ich stutzig werde. Eine Schieflage des Flugapparats wäre die unmittelbare Folge, deren Dramatik von den panischen Schreien der Flugpassagiere unterstrichen würde.

„Ich haaaab’s ja gesagt!“

Und dann fiele man gen Boden, wissend, dass das für die wenigsten gut ausgehen wird. Ja, angesichts des Fliegens mache ich mir gepflegt in die Hose und halte es wie B.A. Baracus vom A-Team. Tö-tö-tö, töttötöööö (A-Team-Musik).

Urlaub muss für mich Erholung bedeuten – totales Runterkommen, aber anders als das Runterkommen durch ein abstürzendes Flugzeug. Erst zweimal hatte ich mit meiner Mitbewohnerin ein Urlaubsvergnügen, 2014 (Mallorca) und 2015 (Malta). 2016 mussten wir aussetzen, da ich in eine wirtschaftliche Schieflage geriert und mich zum Prekariat gesellte, wo man bei heruntergelassenen Jalousien nur so tut, als sei man in der Sommerfrische. Für mich übrigens auch durchaus eine Urlaubsalternative. Wenn alle anderen denken, man sei im Urlaub: Ist man es dann nicht auch?

Angesichts eines anstehenden Fluges empfinde ich also alles andere als so etwas wie ein Runterkommen, sodass ich meine Mitbewohnerin von einer anderen Form von Urlaub überzeugen musste, die die Wiederholung dessen ist, das ich als Kind mit meinen Eltern jahrelang durchleiden musste: Meine von mir gepflegte Spießigkeit erreicht in wenigen Wochen einen neuen Höhepunkt, wenn ich einen Wanderurlaub antrete – in Deutschland, in Alpennähe, um genauer zu sein. Wir fahren in einen Ort, in dem ich 1994 schon mit meinen Eltern war – während der Fußballweltmeisterschaft in den USA. Damals hätte ich wohl nie geglaubt, dass ich so etwas irgendwann einmal freiwillig wiederholen würde. Es bestätigt sich wohl nun, dass man bei aller Rebellion gegen die Eltern zu dem wird, was man pubertär bekämpft hat: ein Abbild seiner direkten Ahnen.

Doch tatsächlich reizt mich so etwas wie ein Wanderurlaub in den Alpen. Natürlich spielt dabei eine Rolle, dass ich den Flieger umgehen kann, aber ich könnte ja auch mit dem Auto nach Italien, Kroatien oder in die Mongolei fahren. Das Fahren als Flugalternative allein kann es also nicht sein.

Strandurlaube in der Sonne hatten wir jetzt zweimal, war mein Gedanke, von Hitze habe ich ohnehin erstmal genug. Warum also nicht mal Berge?! Bewegung, also das Wandern, ist ohnehin die beste Art, Stress abzubauen, und auf körperliche Betätigung fahre ich ja ohnehin inzwischen ab.

Was aber genau heißt nun Wandern? Wandern ist Gehen, sagt Wikipedia, aber über mehrere Stunden ausgeführtes Gehen. Der nächtliche Gang zur Toilette fällt somit nicht unter Wandern, auch wenn er ähnlich anstrengend sein kann. Wandern zur Toilette wäre zudem zweckgebundenes Wandern, man wandert also mit einem Ziel vor Augen. Meine Mitbewohnerin und ich hingegen werden zweckfrei wandern, wandern also nur um des Wanderns willen. Das Ziel wird stets sein, wieder am Startpunkt anzukommen. Ich will mit ihr Berge erklimmen, ich denke da beispielsweise an den Tegelberg, und auch die dortigen Seen umwandern, vielleicht auch umlaufen. Der Anblick der Alpen kann erfüllend sein, anders als ich kennt meine Mitbewohnerin diese Art Urlaub noch nicht einmal. Ich werde somit ihr ganz persönlicher Bergführer sein, denn die Wanderwege auf oder an Bergen sind alle gleich – das ist das Geheimnis -: sie führen stets nach oben (Es sei denn, man kommt gerade von oben und geht nach unten …) Aber sie freut sich bereits, dass dieser Urlaub in etwa nur die Hälfte von dem kostet, was uns ein typischer Strandurlaub in einem Vier-Sterne-Hotel kosten würde – auch das Argument hatte ich auf meiner Seite.

Derzeit befinden wir uns im Buchungsstatus. Für einigermaßen wenig Geld bekommt man bereits Unterkünfte, gegen die jedes Hotel abstinkt. Auch eine Blockhütte ist in der engeren Auswahl, was ganz meinem romantischem Geiste entspricht. räusper

Auch auf Malta sind wir damals gewandert, jedoch noch ganz rudimentär. Sie in Flip-Flops mit so genannten Zehentrennern, ich in irgendwelchen sneakern, wobei ich nach wie vor nicht genau weiß, was genau sneaker eigentlich sind. Doch dieses Mal wollen wir offiziell wandern und dazu braucht es Ausrüstung. Es beginnt ganz unten: bei den Wanderschuhen.

Am Samstag zog es uns in die Stadt in ein Geschäft, das seinen Profit über den Verkauf von Wanderschuhen erzielt. Und es wundert mich, dass man aus solchen Schuhen Profit schlagen kann:

 

Handy beim nächsten Mal bitte quer halten. Und sowas will beim Fernsehen arbeiten …

Wanderschuhe sind absolute Nicht-Ficker-Schuhe. Ich nehme hier keine Rücksicht auf irgend jemanden, da es in dieser Klarheit einmal gesagt werden muss. Ich kenne Menschen, die zu jeder Gelegenheit Wanderschuhe tragen. Es geht nicht. Zieht sie aus. Sie sehen alle scheiße aus. ALLE. Wanderschuhe sind per se hässlich. Egal ob sie 80 oder 300 Euro kosten: Alle, wirklich alle sehen unfassbar beschissen aus. Es gibt natürlich Menschen, denen grundsätzlich egal ist, wie sie optisch herumlaufen. Das ist in Ordnung, das kann eine gute Einstellung sein (die erst dann an Attraktivität verliert, wenn derjenige sie immer wieder verbal hervorhebt), doch Wanderschuhe sind die Adiletten potenziert mit sich selbst mal zehn. Wanderschuhe strahlen auf mich etwas Prüdes aus, sind unsexier als jede Sandale mit Ringelsöckchen. Wer außerhalb des Wanderns Wanderschuhe trägt, gehört weggesperrt. Da wird der kleine Steuersünder schwer bestraft in unserem Lande, während Wanderschuhträger unbehelligt umherlaufen dürfen. Das, lieber Herr Schulz, das wäre gestern Abend Ihr Thema gewesen!

Während ich also am Samstag konsterniert vor dem Schuhregal stehe

Also nochmal, es kommt mir gerade regelrecht hoch: Wie beschissen können denn Schuhe aussehen?!

Während ich so vor dem Regal stehe und mich in jeden zweiten Schuh übergebe, probiert meine Mitbewohnerin ein Modell nach dem anderen an. Und es geschieht das Unglaubliche: Sie verlässt das Geschäft nach kurzer Zeit mit neuen Schuhen, während ich ohne Schuhe wieder nach Hause fahren. So etwas hat es in unserer fast dreizehnjährigen shopping-Geschichte noch nie gegeben! Eigentlich müsste ich mit mindestens vier Tüten den Laden verlassen, während sie ein langes Gesicht zieht, weil sie sich nicht zwischen fünfundzwanzig tops entscheiden konnte. Doch bei Wanderschuhen liegen die Dinge offenbar anders.

Neben Wanderschuhen gibt es noch Multifunktionsschuhe. Welche Funktionen sie dem Wanderschuh voraus haben, ist mir absolut unklar, doch eines spricht ganz klar für sie: Sie sehen ansprechender aus, gehen mehr in Richtung Sportschuh, was schon eher meine Welt ist. Beim nächsten Anlauf konzentriere ich mich ganz auf sie.

Gott, sie sehen so hochgradig unsexy aus, diese Wanderschuhe. Ich komme nicht darüber hinweg. Ich möchte im Grunde jeden töten, der mir heute in Wanderschuhen entgegenkommt. Bislang glaubte ich immer, es sei nicht legitim, einen anderen Menschen zu töten. Hitler, ja, den hätte es erwischen sollen. Andere Despoten auch, kein Thema, find ich moralisch in Ordnung. Aber ansonsten hat cain Mensch das Recht, sich über das Leben anderer zu erheben. Diese Meinung revidiere ich nun. Was für ein Schuhwerk trug wohl Hitler in Obersalzberg, wenn er sich in seine Sommerresidenz zurückzog? Das Böse in Wanderschuhen.

Nun gut, dennoch werde ich mir den Schuh anziehen, denn ich bin es ja, der wandern will. Ich werde aber die Entstehung von jeglichem Fotomaterial von mir in Wanderschuhen unterbinden, was schwierig ist, bin ich doch selbst mein liebstes Motiv, was der Leser auch auf meiner Facebook-Seite feststellen darf.

Der ICE ist gnadenlos voll, so etwas mag ich nicht. Ich werde mich in Schlaf flüchten müssen – und von meinem Urlaub träumen. Der hier im seppolog übrigens nicht stattfinden wird, da mir auch eine „digitale Erholung“ vorschwebt.