Guten Abend aus Berlin all jenen, die noch da sind. Komme gerade von meinem Leichenschmaus, der in der Spandauer Altstadt stattgefunden hat. Ich hatte das Cheeseburger-Menü und es war klar, dass mein Extrawunsch „Bitte den Burger ohne Zwiebeln“ ignoriert würde, als wäre ich gar nicht da. Wann immer ich etwas „ohne Zwiebeln“ bestelle, kann ich mir sicher sein, dass ich etwas mit Zwiebeln bekomme. Gut, es gibt Schlimmeres. Zum Beispiel den Umstand, dass ich fast vergessen hätte, dass – Achtung! – Weihnachten vor der Tür steht. Aufmerksam darauf wurde ich angesichts der weihnachtlichen Beleuchtung in der hiesigen „Altstadt-Meile“, die den Begriff „Meile“ arg überstrapaziert, versteht man ihn als Maßeinheit.

„Ach, verdammt! Es ist ja bald Weihnachten!“, sage ich zu meinem Kollegen Christopher.

„Jo.“

Er ist da etwas nüchterner als ich, da Weihnachten für mich den Höhepunkt des Jahres darstellt. Während mir der eigene Geburtstag derart egal ist, dass ich ihn bereits zwei Mal vergessen habe, ist die Weihnachtszeit der Zeitpunkt, an dem ich für mich feststellen kann

„Wieder ein Jahr leben dürfen!“

Und ich meine das auch genau so, während die christliche Bedeutung für mich eine untergeordnete Rolle spielt. Weihnachten: für mich die einzige Zeit im Jahr, in der ich wirklich vollumfänglich abschalten kann, da es keine anderen Feiertage gibt, die noch so respektiert werden wie die weihnachtlichen.

Weihnachten kann man auch hassen. Das ist legitim und es wird nicht mehr lange dauern, bis sich die ersten Menschen entsprechend äußern. Viele beginnen schon ab Oktober damit, wenn sie das Lebkuchen-Angebot in den Supermärkten kritisieren. Mir sind die Lebkuchen lungo, sie stören mich nicht; ich muss sie ja nicht bereits im Herbst kaufen. Tampons beispielsweise kaufe ich ganzjährig nicht. Ich nehme sie in meinem „Netto“ nicht einmal wahr. Und ganz allgemein bestimmt im Wesentlichen die Nachfrage das Angebot: Schokoladennikoläuse werden jetzt schon nachgefragt. Ein Narr, wer sie nicht anböte. Dass das zu früh ist – geschenkt. Aber ich lasse mir dadurch nicht verfrühte Besinnlichkeit aufzwängen.

Weihnachten ist für mich die Cait der Rituale. Es wird der kommende Donnerstag sein, wenn ich den Startschuss gebe und die Wohnung meiner Mitbewohnerin und mir auf Besinnlichkeit trimme. In den zurückliegenden fünf gemeinsamen Jahren in unserer Wohnung hat sich ein stattliches Repertoire an Weihnachtsdeko angesammelt. Das Beitragsbild zeigt jene überladene Dekokiste, in der beispielsweise auch unsere Krippe lagert, die ebenfalls frühzeitig aufgestellt wird, wobei Jesus noch bis zum Heiligen Abend in meiner Schreibtischschublade wird warten müssen, ehe er in Stroh gebettet wird. Meine Schreibtischschublade ist ein bisschen ein Inkubator für den Heiland, der seit gestern Abend womöglich ein besonders kritisches Auge auf mich geworfen hat … wenn er mir denn noch folgt.

Bei der Gelegenheit sehe ich gerade auf dem Foto, dass ich dringend noch Dinge einkaufen muss, um den Adventskalender für meine Mitbewohnerin zu befüllen. Noch ist Zeit genug, aber ich erinnere mich ungern an den Skandal im vergangenen Jahr, als ihr Kalender erst am siebten des Dezembers befüllt wurde; freilich auch rückwirkend.

Jeder Deko-Artikel hat seinen festen Platz. Der Gnom beispeilsweise wird wieder auf der Fensterbank in der Küche stehen. Mir ist übrigens völlig unklar, woher er kommt und was sein Ansinnen ist. Aber der Gnom und ich, wir haben eine Verbindung und freuen uns beide jedes Jahr aufs Neue aufeinander. Und treue seppolog-Leser, seit heute Morgen nicht mehr ganz so viele, werden ihn wiedererkennen.

Natürlich übertreibe ich es mit der Deko maßlos. Es fing vor vielen Jahren harmlos an und wurde immer mehr. Auch dieses Jahr werde ich diverse Dekoläden aufsuchen, um aufzustocken. Bemühten wir nun einen Psychologen zwecks Deutung dieses Umstandes, dann erführen wir wohl, dass ich mit meiner nach außen demonstrierten Besinnlichkeit etwas überkompensiere. Das allerdings ist mir völlig egal, Hauptsache, jeder weiß bei Betreten unserer Wohnung:

Hier findet Weihnachten statt, hier ist es besinnlich.

(Das Betreten unserer Wohnung zur Weihnachtszeit ist freilich nur als hypothetisch zu betrachten.)

Meine Mitbewohnerin und ich haben – ich weiß gar nicht, ob ich es hier preisgeben sollte – inzwischen ein eigenes Lied, das wir jedes Jahr mehrfach am Tag anstimmen. Es beginnt mit einem sonoren

„Besinnnnnnlichkeeeeeeit“,

durch mich angestimmt, das durch sie weitergeht mit mit

„kennt keeeeeine Grenzen!“

und ist wohl angelehnt an Hape Kerkelings „Witzischkeit kennt keeeeeine Grenzen“ aus dem Knallerfilm „Kein Pardon“. Käffchen?

Wann immer meine Mitbewohnerin und ich uns in unserer Wohnung über den Weg laufen, stimme ich das „Besinnlichkeit“ an und nötige sie dazu, den Hit zu vervollständigen. Damit mache ich mich nicht nur beliebt bei ihr. Doch sie soll wissen: Wo immer ich mich zur Weihnachtszeit aufhalte, gilt unbedingter Besinnlichkeitszwang. Weihnachtshasser meide ich und sie sollten ihrerseits mich meiden, da ich jeden in Grund und Boden besinnliche. Ich verstehe, wenn jemand den Trubel kritisiert, aber ich verstehe nicht, warum manch einer von ihnen es jedem mitteilen muss. Ich beispielsweise lehne Karneval ab. Egal, ob „Alaaf“ oder „Helau“, interessiert mich beides nicht. Ich käme auch nie auf die Idee, mir ’ne rote Nase aufzusetzen, da sie beispielhaft für aufgesetzte Fröhlichkeit steht. Aber ich will es dem Karnevalisten auch nicht schlechtmachen und lasse ihm seinen Spaß. Man kann auch Weihnachten aus dem Weg gehen. Niemand ist gezwungen, am 23. Dezember noch shoppen zu gehen.

Ich selbst meide zum Beispiel Weihnachtsmärkte. Sie sind mir zu voll. Man schiebt sich durch einen Brei von Menschen, um dann überteuerten Glühwein aus versüfften Tassen in Stiefelform zu trinken, während man sich den Arsch abfriert. Ich bin cain Freund von Menschenmassen, ich bleibe da lieber im kleinen Kreis, dem ich meine Besinnlichkeit oktroyiere. Und wenn dieser Kreis zum Strich wird, er also nur aus meiner Mitbewohnerin und mir besteht, habe ich alles, was ich zum Glücklichsein brauche. Und genau das ist Weihnachten für mich, das ich mir keinesfalls durch äußere Umstände, die womöglich nicht ganz optimal sind, versauen lasse. Ich kann auch sehr gut gezwungen besinnlich sein, ja, sogar militant besinnlich. Wer es ernsthaft wagt, in meiner Gegenwart unbesinnlich zu sein, der wird meine geballte Besinnlichkeit zu spüren bekommen.

Die Weihnachtszeit macht mich immer wieder nachdenklich. So weiß ich, dass der Kreis derer, mit denen ich auch in diesem Jahr wieder feiern werde, nur dann größer wird, wenn meine Mitbewohnerin und ich tatkräftig dafür sorgen, was jetzt aber, Ende November, etwas kurzfristig wäre. Der Kreis wird irgendwann kleiner werden, was mich in stillen Momenten betrübt. Umso mehr sauge ich diese wenigen Tage im Jahr auf. Denn in diesem Jahr wird Weihnachten zum 39. Mal für mich nach einem bewährten Drehbuch ablaufen, das ich vor einem Jahr trefflich beschrieben habe. Denn das Drehbuch für die Abläufe an den Feiertagen obliegt in meiner Familie selbstredend mir, zumindest rede ich mir das Jahr für Jahr ein. Und so werde ich auch in diesem Jahr darauf bestehen, dass wir auf den klassischen Gabentisch setzen werden. Auch in diesem Jahr soll mir – trotz meiner 37 oder 38 Jahren – mittels eines Glöckchens der Beginn der Bescherung signalisiert werden.

„Sebastian, das ist doch langsam wirklich albern!“, sagt dann jedes Jahr meine Mutter, die schon seit 20 Jahren ankündigt:

„Nächstes Jahr Weihnachten fahre ich in den Urlaub!“

Sie wird es nicht tun. Mein Drehbuch sieht es nicht vor. Urlaubssperre – verhängt vom Weihnachtsdiktator. Und kommende Woche geht es los. Besinnlich auf Knopfdruck.


Besinnlich wird es auch auf Instagram und Facebook zugehen.