Um sieben Uhr am Morgen erwachte ich heute in unserer abseits gelegenen Berghütte am Strand. Regen prasselt gegen das doppelt verglaste Fenster und kündet vom heutigen Wetter. Jetzt jedoch, zwei Stunden später, sind es Sonnenstrahlen, die eine Serie von heftigen und feuchten Niesern bei mir provozieren. Überrascht uns abermals die Wetterlage? Am vierten Tag in Folge prognostiziert meine Wetterapp wolkigen Himmel mitsamt Regen und am vierten Tag in Folge scheint es anders zu kommen. An diesem Land beißen sich zahnlose Wetterprognosen offenbar die Zähne aus.

Unsere beiden Thermoskannen führen ein Stellvertreter-Sitzen auf einer "Flüsterbank". Ich gratuliere Ihnen, wenn Sie den Witz verstehen.

Ich schneidersitze im Bett, den Klapprechner auf meinen Beinen aufgeklappt – wie sonst gelänge ich an die Tasten?! -, während meine Mitbewohnerin neben mir liegt und – das vermute ich – den Tag plant.

Diese langen Morgen im Bett sind uns wichtig; Terminhast soll es nicht geben. Ich habe einen Haufen mitgebrachter Lektüre hier in unserem Urlaub abzuarbeiten, so lese ich derzeit über die Geschichte der Geheimdienste dieser Welt, um festzustellen, dass die Deutschen auch das nicht können: spionieren. Auch das könnte uns irgendwann einmal um die Ohren fliegen.

Bis gestern las ich an einem Werk über den Zweiten Weltkrieg. Mit derartiger Lektüre tue ich mich schwer, da ich jedes Mal denke, schon alles darüber gelesen zu haben. Meist jedoch erfahre ich eine Überraschung und Dinge, die ich eben noch nicht gewusst habe über Hitler & Friends. Und jedes Mal frage ich mich, wie es so weit kommen konnte und in dem, was ich so lese, kristallisiert sich heraus: Alle haben es gewusst. Diese Schuld kann dieses Volk unmöglich von sich weisen, diese Schuld tragen nicht heutige Generationen (was im Übrigen auch niemand behauptet), aber heutige Generationen tragen eine immer währende Verantwortung. „Wehret den Anfängen“ ist zu diesem Zeitpunkt allerdings nicht mehr aktuell, da wir das bereits in diesem Land versäumt haben: Über den Anfang sind wir bereits hinaus. Gratulation, Deutschland, du traurig armseliges Land.

Meine Mitbewohnerin hat mich derweil über den Tagesplan informiert. Wir fahren offenbar in den sieben Kilometer entfernten Nachbarort, wo es irgendein Naturschutzgebiet gibt (Was ist hier eigentlich kein Naturschutzgebiet?!), das vormals eine militärische Anlage war. Einzelheiten sind mir nicht bekannt. Und da es das Wetter offenbar gut mit uns meint, werden wir vor Ort wieder wandern, wobei mir die Streckenlänge heute offen lassen, nachdem wir eigentlich unsere Beine für einen Tag schonen wollten, was vermutlich nicht geschehen wird, da ich eine seltsame Lust auf Wandern verspüre. Wenn man vorher nicht weiß, wie viele Kilometer es werden, wandert es sich leichter, als legten wir wieder unsere 20 Kilometer fest.

Die Orte hier haben alle sehr gleichklingende Namen, sodass ich inzwischen durcheinanderkomme. Da die Orte sich aber auch optisch sehr ähneln, spielt das im Grunde keine Rolle. Nur der von der besten Band der Welt besungene Ort hier unterscheidet sich von den anderen und ist wohl der lebhafteste.

Wir sind beide begeistert von den hiesigen Landschaften, müssen allerdings auch das sagen, was man oftmals an schönen Touristenorten so sagt:

„Also leben möchte ich hier nicht.“

Ganz klar ist mir auch nicht, warum Häuser hier mehrere Millonen kosten, aber die Nachfrage rechtfertigt wohl den Preis (oder den „Ausverkauf“ der Insel, wie gemunkt wird). Denn wenn man vor die eigene, millionenschwere Türe tritt, sieht man im Grunde Häuser, die aussehen wie das eigene. Aber eben im besten Falle inmitten einer atemberaubenden Dünenlandschaft.

Von unserer Veranda: der Blick über die Dünen auf das nördlichste, direkt an Deutschland angrenzende Meer, die Ostsee.

Nur, wie empfindet der Einheimische diesen Anblick, wenn er ihn doch jeden Tag hat? Nutzt sich so ein Anblick ab? Vielleicht nicht, denn auch ich bekomme nach wie vor beim Anblick des heimischen Prinzipalmarktes in Münster jedes Mal aufs Neue eine heftige Erektion.

Eine Arbeitskollegin legte mir vor unserem Urlaub nahe, meiner Mitbewohnerin hier einen Antrag zu machen. Da ich annehme, dass sie nicht einen Ausreiseantrag meinte, erwartet sie möglicherweise einen Heiratsantrag. Vor zwei Jahren erlebten meine Mitbewohnerin und ich auf dem Tegelberg eine Szene, in der ein Mann einer ihm vermutlich gut bekannten Frau einen Heiratsantrag machte.

„Was, wenn sie jetzt ablehnt?!“, fragte damals meine Mitbewohnerin.

„Dann müssen sie trotzdem noch zusammen wieder nach unten wandern. Was für ein Risiko!“

Schon allein wegen dieses Risikos wird mein Antrag nicht im Urlaub stattfinden. Und selbstverständlich wird mein Antrag in Münster erfolgen.

„Das Naturschutzgebiet, das ‚Rantum-Wasserbecken‘, ist das artenreichste Schutzgebiet hier“, erklärt mir gerade meine Mitbewohnerin.

„Keine Kunst. Sie werfen dort jeden Morgen Tiere rein, die aus Zoos aller Welt rausgeflogen sind, weil sie sich daneben benommen haben. Solange die Affen, Giraffen, Löwen und, was sie sonst noch so da reinwerfen, nicht ertrunken sind, ist es natürlich das artenreichste Wasserbecken.“

Und übrigens findet Artensterben nur dort statt, wo noch Arten sind. Auf vollständiges Artensterben erfolgt das Ende des Artensterbens. Tierfreunde müssen sich also nur noch etwas gedulden.

Eine Rotqualle ergreift die Flucht, als ich sie fotografieren will. Mit ihren kleinen Beinchen tippelt sie jedoch in die falsche Richtung und verödet in der Sonne. Adieu, kleiner Meeressäuger!

Zur Ruhe kommen. Das war wie sooft eines meiner Ziele für diesen Urlaub. Dazu gehörte auch das Löschen meines Instagram-Kontos, nachdem ich mich vor einigen Wochen oder gar Monaten von Facebook getrennt habe. Nun ist es jedem selbst überlassen, wie er soziale Medien nutzt, und im Grunde ist da auch niemandem reinzureden. Ich will also niemandem etwas raten, denn wie immer gilt: Jeder, wie er mag. Mir persönlich ging die eigene Selbstdarstellung dort so dermaßen auf den Sack, dass ich meine eigene Person nicht mehr ertragen konnte und mich für das ein oder andere Gepostete im Nachhinein schämte. Und ich stellte schon seit Längerem bei mir fest, was längst Legion ist: Dieses Ganze Rumgetappe auf dem Handy verursacht eine vollkommen überflüssige Form von Stress, die man ja bewusst nicht unbedingt wahrnimmt. Ich bin mir nicht sicher, ob das Internet der Menschheit am Ende mehr schadet als nützt, aber das permanent blinkende Handy halte ich für einen Irrweg, den aber auch niemand mitgehen muss. Ich bin nicht mehr weit davon entfernt, auch das Mobiltelefon für mich abzuschaffen. Denn eine Funktion nervt mich ganz besonders: Manchmal klingelt es und jemand ruft an.

Schnappschuss! Meine Mitbewohnerin im Sturz gefilmt! Hier sieht man gerade noch, wie sie versucht, sich mit ihrem Kopf auf dem Boden abzufangen.

Erstaunlicherweise habe ich „Farbe bekommen“. Farbe bekommen Menschen, die grundsätzlich nicht braun werden. Ich weiß jetzt schon, dass meine Mutter, wenn sie mich nach diesem Urlaub sehen wird, sagen wird:

„Mensch, du hast aber Farbe bekommen!“

Es stimmt ja auch. (Ich weise auf die Text-Bild-Schere hin: Das obige Foto ist völlig deplatziert; es stammt von unserem zweiten Urlaubstag, wo ich noch keine Farbe bekommen hatte.) Ich habe wie meine Mitbewohnerin auch einen leichten Sonnebrand und so eine typische Insel-Farbe. Das ist nicht das Mindeste, das ich hier erreichen konnte, es ist das Maxiste. In diesem Leben werde ich nicht mehr braun, aber es tröstet mich die Statistik: der helle Hauttyp hat eine längere Lebenserwartung. Ob da nun ein ursächlicher Zusammenhang besteht, weiß ich allerdings nicht. Doch sollten sie gesegnet sein mit besonders brauner Haut, machen Sie schon einmal Ihr Testament – heute Abend schon könnten Ihre Angehörigen Ihre Beerdigung organisieren, während Sie tot aufgebahrt irgendwo als Staubfänger dienen.

Zehnuhrzehn. Ich werde nun noch etwas lesen. Als nächstes steht ein Werk über die innerdeutsche Grenze an. Auch eines dieser abgedroschenen Themen, das allerdings wichtig ist, um vielleicht verstehen zu können, warum besonders in Ostdeutschland eine Affinität zur Dummheit besteht, womit ich keinesfalls den Einzelnen beleidigen möchte, sofern er nicht einem Nazi seine Stimme gibt. Wussten Sie übrigens, dass die Treuhand ein durchaus erfolgreiches Konzept war, aber aus verschiedenen Gründen unter einem unberechtigt schlechten Image leidet? Aber es ist ja zu anstrengend, sich mit detallierten Fakten zu beschäftigen. Geben wir doch einfach denen unsere Stimme, die am lautesten brüllen. Und was ich ganz nebenbei interessant finde: Nazis sind überdurchschnittlich hässlich. Bestes Beispiel: Hitler. Hätte er als Fitnessmodel viele Follower bei Instagram? Inneres strahlt manchmal eben aufs Äußere ab.


Mehr als 860 weitere Geschichten finden Sie auf www.seppolog.com!