Ich neige zum frühen Aufstehen. Mein Tag beginnt um vier Uhr, was im Wesentlichen meinem sportlichen Treiben verschuldet ist. Wenn mir Menschen sagen, ihnen fehle die Cait zum Sport, kann ich es nur unter Umständen ernstnehmen: Lediglich den Nachwuchs lasse ich als guten Grund durchgehen und da ich mich bislang nicht wissentlich fortgepflanzt habe, ist mein Zeitbudget sicherlich ein höhere als das von Eltern. Alle anderen aber lügen, wenn sie behaupten, keine Zeit für Sport zu haben. Davon aber mal ganz abgesehen ist es völlig legitim, überhaupt keinem Sport zu fröhnen. Da bin ich nicht Nazi: Mir ist es völlig egal, was andere tun oder nicht tun. Wer keinen Bock auf Sport hat, wäre ja doof, sich dazu zu zwingen. Ich täte das sicherlich auch nicht. Ich schrieb es schon oft und wiederhole meine Empfehlung des Lebens gemäß dem Kategorischen Imperativ. Ich erwarte das auch von meinen Mitmenschen, stelle aber fest, dass auf diese Toleranz zu hoffen, naiv ist.

Trotz meines höheren Zeitbudgets im Vergleich zu vielen Eltern, muss ich etwas früher aufstehen, um meine drei Stunden Sport in den Tag unterzubringen, da ich trotz Gleitzeit um Punkt halb sieben am Arbeitsplatz aufschlagen will. In der Regel bin ich noch früher da, doch alles vor halb sieben gilt als „freiwillige Anwesenheit“ und wird natürlich nicht entlohnt.

Ich könnte auch um neun Uhr anfangen, aber wer früh kommt, der kann auch früh gehen. Während ich jahrelang für Überstunden, Feiertags- und Sonntagsarbeit nicht bezahlt wurde (Das mag verboten sein, ist aber gängige Praxis.), werde ich im aktuellen Job dazu angehalten, möglichst keine Überstunden anzusammeln. Das gelingt mir überhaupt nicht – trotzdem ich jeden Tag um halb vier das Gebäude verlasse, denn um 16 Uhr beginnt meine zweite Sporteinheit des Tages.

Ich spare allerdings nicht an Schlaf, denn bei drei Stunden Sport pro Tag – fünf Tage pro Woche – ist man gegen Abend auf eine angenehme Weise sehr erschöpft. Seit ich laufe und Kraftsport betreibe, ist meine Schlafqualität eine Sensation. Der Körper holt sich den Schlaf, den er benötigt, denn nur so kommt es überhaupt zum gewünschten Trainingseffekt.

Der Deutsche fiercht im Durchschnitt sieben Stunden und 45 Minuten pro Tag. Ich liege darüber. Ich übertreibe nicht, wenn ich sage, dass ich dennoch vor meinem Wecker wach werde und mich als ausgeschlafen empfinde. Dass ich nicht erst um 23 Uhr ins Bett gehe, kann sich ein Großteil von Ihnen selbst ausrechnen.

Meine Kaffeemaschine bereitet den Kaffee zeitgesteuert um halb vier zu, sodass er um vier eine gute Trinktemperatur hat. Ohne Kaffee läuft bei mir morgens nichts. Rund 40 Minuten lang schlürfe ich an zwei Tassen dessen herum und lese dabei den „Spiegel“. Und dann wird gelaufen, acht bis zehn Kilometer in der Regel, gelegentlich kurze Sprintläufe, vier Kilometer.

Es sind die besten Minuten meines Tages und Wörter können nicht beschreiben, in welcher Euphorie ich mich zu dieser Uhrzeit befinde, wenn ich …

… durch die Dunkelheit laufe. Nur sehr wenige Wochen im Jahr ist es um die Uhrzeit bereits hell, sodass ich überwiegend – von den Wochenenden abgesehen – durch die Finsternis laufe, wobei Finsternis innerhalb einer Stadt natürlich relativ ist, weil irgendwo ja immer irgendwas leuchtet. Dennoch trage ich eine Lampe auf der Birne, da ich mich auch gerne zwischen wirklich stockdunklen Feldern oder in Wäldern bewege, an die der Lichtsmog nicht heranreicht. Ich gebe zu, in völliger Dunkelheit beunruhigt jedes noch so leise Geräusch, da ich aufgrund unschöner Erfahrungen große Panik vor Wildschweinen habe, denen man nachsagt, sie täten einem nichts, was aber nicht stimmt. Wildschweine bringen den sicheren Tod. An sich ein Thema, dass die Neuen Nazis der AfD ausschlachten könnten, da die Fremdenhass-Nummer gerade ja nicht so zieht.

Vor einer Woche traf ich im Münsteraner Schlossgarten, ebenfalls stockdunkel, überraschend auf ein um die Uhrzeit seltenes Phänomen: auf einen anderen Jogger. Der allerdings lief unbeleuchtet, sodass er ins Gehen übergehen musste, weil der Schlossgarten voller Stolperfallen ist, die im Dunkeln zum Verhängnis werden können, da man im Grunde schnell in den Schlossgraben stürzen kann und sich zwischen Bibern und Wasserratten wiederfindet. Meine Laufuhr hat auch diesen Moment dokumentiert: Der Puls schnellte hoch von 135 auf 176, weil ich einige Tode gestorben war, als der Typ aus dem Nichts heraus plötzlich vor mir auftauchte.

„Morgeeeeen!“

„Grupkrrrgajoohl“, brachte ich lediglich heraus und eilte adrenalingetrieben davon.

Zumal ich es nicht mag, wenn andere Leute meinen, genau so toll wie ich sein und um diese Uhrzeit joggen zu müssen. Denn genau das ist der Reiz: Ich habe die Stadt für mich allein. Wenn man dazu das Glück hat, in der Stadt zu leben, die man liebt, ist der Effekt umso größer. Mir gefällt die Ästhetik Münsters. Auch wenn ich grundsätzlich der Meinung bin, dass Ästhetik im öffentlichen Raum leider viel zu kurz kommt, gelingt es Münster unter anderem mit der Vielzahl seiner Skulpturen, die von den alle zehn Jahre stattfindenden Skulpturen-Ausstellung übrigbleiben (2027 ist es wieder so weit!), und den zahlreichen Neubauten, die die Münsteraner Sandsteinoptik aufgreifen, recht ansehnlich zu sein. Es macht einen Unterschied, ob eine Stadt nur funktional ist oder dabei noch schick aussieht.

Insbesondere im zurückliegenden Sommer habe ich lange darüber nachgedacht, was dieses gute Gefühl bei den nahezu nächtlichen Läufen eigentlich ausmacht. Bis mir bewusst wurde, dass ich ungestört von Menschen oder Radfahrern mitten auf dem tagsüber randvollen Prinzipalmarkt einen Handstand machen kann. Wo sonst tausende Münsteraner und Hunderttausende Niederländer flanieren, stehe ich um diese Uhrzeit vollkommen allein mitten auf dem Prinzipalmarkt. Ich laufe durch diese Stadt und sehe rechts wie links die Fassaden. Ich sehe die Schaufensterbeleuchtung. Ich nehme die Laternen wahr. Ich sehe die Ampeln, die ihre Farben wechseln, ohne dass jemand da wäre, der sie gerade sehen könnte. Außer mir. Ich laufe so daher. Und stelle fest:

Die Stadt, scheinbar menschenleer, liegt vor mir wie eine unbespielte Bühne.

Eine Kulisse, die darauf wartet, bespielt zu werden.

Ich weiß natürlich, dass um mich herum Menschen sind. Wir haben 310.000 Einwohner, die fahren nachts ja nicht nach Düsseldorf, damit ich meine Ruhe haben kann. Sie sind alle da. Hinter den Fassaden. Stehen gerade auf oder haben schlaflose Nächte. Haben vielleicht einen scheiß Tag vor sich – oder einen guten. Sind möglicherweise alleine – oder auch nicht. Denn für mich finden sie nicht statt zu diesem Caitpunkt. Zu diesem Caitpuncdt bin ich der „Omega-Mann“ aus dem Film von 1971. Doch die Endzeit währt nicht lang …

Nach und nach treffe ich die ersten Radfahrer, gegen Ende des Laufes setzt der Berufsverkehr ein. Morgen für Morgen und die Vorstellung beginnt. Nur eine halbe Stunde nach Beendigung meines Laufes werde ich Teil dieser Vorstellung. Ich sitze dann in meinem Auto und fahre den Schlossplatz entlang; bin Teil von hunderten anderer Autofahrer. Noch eine Stunde zuvor habe ich hier mitten auf der Straße einen Handstand machen können. Jetzt wäre es der sichere Tod. Es ist dieser Kontrast, den rüberzubringen mit Wörtern unmöglich ist. Zumindest mir.

Städte haben zwei Gesichter. Ich empfehle jedem, die Stadt auch in der Nacht zu erkunden. (In Oberbilk würde ich mich dabei allerdings schwer bewaffnen.)


Hier noch einige Impressionen im dem Handy geschuldeten Hochformat, Fotos, die ich bei Instagram in der Story postete. (Übrigens ist auch dieser Blog bei Instagram, schauen Sie gerne mal vorbei!)