
Zehn Uhr am Sonntagmorgen, als ich aufwache. Ich bin erschrocken, denn so lange habe ich seit mehr als 20 Jahren nicht mehr geschlafen. Wenn ich sonntags mal bis halb acht schaffe, ist das schon eine Leistung. Aber zehn Uhr ist im Grunde der halbe Sonntag rum, sodass ich um diese Zeit normalerweise schon laufen bin.
Ich lehne mich zu meiner Mitbewohnerin herüber, um herauszufinden, ob sie schon wach ist. Ich könnte natürlich auch fragen, aber dann könnte sie wach werden, sollte sie das vorher noch nicht gewesen sein. Und das gäbe Ärger. Sie muss also von ganz alleine wach werden. Also lasse ich meinen Körper beim Herüberbeugen sanft auf sie drauffallen. Da sie nicht reagiert, muss ich annehmen, dass sie noch schläft, sodass ich ihr nun die Atemwege verschließe, um ganz sicherzugehen.
„Höööögrpf!“, stößt sie plötzlich aus und schreckt hoch.
„Ah, du bist wach. Schon zehn Uhr! Und: willkommen in der seltsamen Zwischenwelt!“, begrüße ich sie feierlich.
„Großer Gott“, murmelt sie, „Wo?!“
„Zwischen den Jahren. Nicht mehr Weihnachten aber auch noch nicht neues Jahr.“
„Hast du mir gerade im Schlaf Nase und Mund zugehalten?!“
„Nein, ich war wach dabei.“
Weihnachten ist vorüber. Ziemlich schlagartig, wie jedes Jahr eben. Erst schleicht es sich ein, zunächst sanft und kaum wahrnehmbar – und dann zunehmend heftig, bis es niemand mehr ignorieren kann. Aber es geht nicht, wie es kam, sondern es ist an jedem 27. Dezember ruckartig vorbei. Wie ein Rausch, den man sich langsam erarbeitet, der seinen Höhepunkt hat – und sich dann übergangslos ins Gegenteil verkehrt: „Zwischen den Jahren“ ist auch immer etwas wie ein Kater.
Sowieso. Genau diesen Kater habe ich an diesem Sonntagmorgen, da bis in die tiefe Nacht meiner Mitbewohnerin und mir ihre Familie via Skype zugeschaltet war. Eine digitale Familienfeier, an deren Ende ich mich nicht mehr so ganz erinnern kann, um ehrlich zu sein. Das Besondere dieser Form der Zusammenkunft ist die Unmöglichkeit der Grüppchenbildung, was die Kommunikation aber auch erschwert, die ohnehin durch diverse Latenzen nicht einfacher wird.
Zwischen den Jahren spielt wenig eine Rolle. Wochentage beispielsweise sind völlig bedeutungslos. Ich muss nur wissen: Am vierten Januar gehe ich wieder arbeiten. Das ist ein Montag. Ob nun Silvester ein Mittwoch oder Donnerstag ist, ist mir völlig lungo. Es macht ja keinen Unterschied. Ich verbringe die Tage mit Sport und Filmegucken, da ich jedes Jahr um diese Zeit meinen persönlichen Filmkanon abarbeiten muss. Das ist mitunter etwas langweilig, denn jedes Jahr dieselben Filme zu sehen, führt natürlich dazu, dass man sie nach einigen Jahren im Grunde mitsprechen kann.
An diesem Sonntag stehen „Die schrillen Vier auf Achse“ und „Schöne Bescherung“ mit je Chevy Chase auf dem Plan. Sie bedienen einen typischen 80er-Jahre-Humor, für den man viel Verständnis aufbringen muss. Aber es sind gerade solche Filme, die man mit einem Kater sehr gut vertragen kann. Außerdem gehören sie für mich „zwischen den Jahren“ dazu. Wie auch die Weihnachtsfolge von „Pastewka“, die ebenfalls heute geguckt werden will. Und wieder werde ich davor sitzen und staunen: „Schon wieder ein Jahr um?!“
Ich schleppe mich ins Wohnzimmer, wo ich das Liegen mit leicht angewinkeltem Oberbörper fortsetzen will. Meine Mitbewohnerin schlurft hinter mir her, deutlich wackeliger im Gang als ich. Zwischenzeitlich sieht es so aus, als würde sie es nicht ganz schaffen und im Flur zusammenbrechen. Aber sie beißt sich durch, mit dem Gesicht voraus fällt sie schließlich aufs Sofa, mit dem sie eins wird. Mir wird klar, dass wir noch einige Stunden brauchen werden, bis wir laufen gehen können. Denn einen ganzen Tag ohne jegliche Bewegung ertrage ich nicht. Was ich vor 20 Jahren noch gut konnte, nämlich ganze Tage vom Sofa aus zu verleben, funktioniert heute nicht mehr. Ein Gesundheitsfanatiker bin ich wahrlich nicht, aber Bewegungslosigkeit konterkariert eines meiner wichtigsten Lebensziele …
Und nichts ist belebender bei einem Kater als das Laufen durch das heute sehr raue Wetter: fünf Grad, Wind mit Regen. Ich freue mich regelrecht darauf.
Zwischen den Jahren geht es manchmal auch um die Vorbereitungen für Silvester. Ich gehöre zu denen, die Silvester etwas tun. Ich verstehe aber, wenn Menschen den Abend ganz normal verbringen, doch nutze ich gerne jeden Anlass für einen heiteren Rausch, zumal meine Mitbewohnerin und ich das dritte Jahr in Folge zuhause feiern können. Und auch zu diesem Jahreswechsel haben wir uns einen Stargast eingeladen, von dem wir wissen, dass er, also sie, gerne kommt, denn sie war schon vor zwei Jahren unser Ehrengast und brachte ihre erneute Einladung selbst ins Gespräch – samt Motto, denn auch dieser Abend wird unter einem Motto stattfinden. Vor zwei Jahren waren es die roaring twenties. Und was kam nach den Zwanzigern? Richtig, der Nationalsozialismus, sodass ich dieses Jahr am Silvesterabend eine SS-Uniform tragen werde. Doch ich darf beruhigen, das Motto ist ein völlig anderes und da ich kein Freund des Verkleidens und des Nationalsozialismus/AfD bin, kommt mir sehr entgegen, dass das diesjährige Motto leicht darzustellen ist.
Zu Silvester gehört aber auch der Silvesterpunsch und hier meine ich natürlich nicht den zum Trinken, sondern „Ekel Alfred“. Zu Silvester gehört für mich das nebenher laufende Programm der Dritten, die ihr komplettes Archiv deutscher Sketche abfeuern: „Harald und Eddie“, „Sketchup“ und „Rudis Tagesshow“ mit Norbert Blüm, selig, der jedes Jahr den Eimer Wasser über Carrell auskippt. Dass wir uns nicht falsch verstehen: Mein Humor ist das nicht! Aber es gehört für mich zu Silvester dazu.
Im Laufe des Sonntags befasse ich mich erstmals in dieser Saison mit dem weiteren Vorgehen mit dem Weihnachtsbaum. Dieses Jahr haben wir zweifellos den bislang schönsten gekauft, doch da Weihnachten nun vorbei ist, stelle ich seinen weiteren Verbleib in Frage. Hier in Münster-Neutor wird der Baum mit dem Sperrmüll entsorgt und Sperrgut wird hier jeden letzten Donnerstag im Monat abgeholt. Das würde bedeuten, dass unser Baum bis zum 28. Januar im Wohnzimmer den Eingangsbereich blockieren könnte. Ich ziehe in Betracht, den Rat meines Vaters zu befolgen:
„Letztes Jahr habe ich den Baum im Wohnzimmer zerlegt und stückchenweise …“
… das Klo heruntergespült. Ich überlege, ob das nicht funktionieren könnte. Niemand kann ja etwas dagegen haben, mal eine Tannennadel in der Toilette zu entsorgen. Ein durchschnittlicher Baum hat etwa 180.000 Nadeln. Um aber nun nicht 180.000-mal die Spülung zu beanspruchen, könnte man die Nadeln ja grüppchenweise herunterspülen, sagen wir, in Zehnergruppen, sodass man nur noch 18.000 mal auf den Spülknopf drücken müsste.
Oder aber ich sauge den Baum kahl. Er verliert ja jetzt schon bei der kleinsten Erschütterung eine handvoll Nadeln. Wenn ich nun einach mal jeden Zweig ins Staubsaugerrohr einführen würde, dann stünde am Ende ja nur noch das Skelett, dass dann ja vielleicht in die Biotonne reinpasste?
Oder ich warte bis zum Einbruch der Dunkelheit und schmeiße ihn einfach aus dem Fenster und tue am nächsten Morgen ganz empört.
Nein, es wird kommen wie jedes Jahr. In einem Anflug spontanen Aktionismus entschmücke ich den Baum Anfang Januar und lagere ihn im Keller zwischen.
Überhaupt wird es viel Arbeit, unsere Wohnung von der Weihnachtsdeko zu befreien, da wir dieses Jahr jedes Maß verloren haben. Es ist nicht so, dass es bei uns bunt leuchten und blinken würde, denn unsere Deko hat Stil. Aber sie ist omnipräsent. Inzwischen haben wir sogar das Treppenhaus mitgeschmückt und unsere Nachbarn haben das für gut zu befinden – oder eben auszuziehen.
Nach dem Laufen setze ich mich an meinen Rechner. Zwei Tage hatte es gedauert, bis ich unter Windows 10 die Dolby Surround-Anlage installiert hatte. Interessanterweise ist es ein seit Jahren (!) bekanntes Problem, dass die hinteren Boxen keinen Sound ausstoßen. Ich bin fast daran zerbrochen, fand dann aber die sehr simple Lösung, auf die man aber erst einmal kommen muss. Und so sitze ich nun da, eingekreist von Satelliten-Lautsprechern, wie der Fachmann sagt, und spiele „Metro Exodus“. Bei jedem Schuss, den ich abgebe, vibriert der Boden und schreckt meine Mitbewohnerin im Arbeitszimmer auf. Hinter mir macht brüllend ein Mutant auf sich aufmerksam. Ich bin begeistert von diesem Klangerlebnis, habe allerdings Sorge, dass unsere Nachbarin Frau Gernemann das vollkommen anders sieht.
Trotz der Erschütterungen baut meine Mitbewohnerin derweil unbeirrt an „JesusLand“ weiter, unserer Krippe, die vor acht Jahren noch eine minimalistische Hütte war, inzwischen jedoch zu einem Themenpark ausgebaut wurde. In diesem Jahr hat sie einen kleinen Vorplatz dazugebaut, sowie ein Treppenhaus, damit die Heiligen Drei Könige nicht blöd unten am Abhang stehen müssen, um unverrichteter Dinge wieder nach Hause zu gehen. Außerdem haben wir das Beleuchtungskonzept dieses Jahr ganz neu gedacht. Baby-Jesus wird nun von kleinen Mini-Scheinwerfern angemessen in Szene gesetzt. Was mir allerdings etwas Sorge bereitet, ist das Einhorn, dass nun zwischen Ochs und Esel im Stall steht. Ich fürchte, dass meine Mitbewohnerin kein Ende findet.
Anders als dieses Jahr. Das endet in wenigen Tagen. Und dann kann ich auf das nächste Großereignis warten: auf den Frühling!
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